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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Hilfsmittelberatung und Hilfsmittelversorgung: Angebot der MSK e. V. für Mitglieder:

Holger Kranz im Interview mit Bernd Meixner

Seit mehr als 15 Jahren gibt Holger Kranz in seiner Funktion als leitender Cheftrainer der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung des integrativen Sports mbH Mobilitätstrainingskurse für Rollstuhlfahrer und Menschen, die aufgrund ihrer Geheinschränkung auf den Rollator angewiesen sind. Während der zurückliegenden acht Jahre nahmen immer häufiger MS-Betroffene daran teil. „Die Teilnehmer kommen zu uns und gerade bei den MS-Betroffenen stehen wir dann oftmals vor der Situation zu Beginn der Kurse, dass sie völlig fehlversorgt sind“, beschreibt der Trainer ein immer wiederkehrendes Phänomen. „Wenn man mit den Teilnehmern ins Gespräch kommt und ein wenig hinterfragt, stellt sich meist heraus, dass sie sich mit den Hilfsmitteln und vor allem, was ihnen zusteht, kaum oder gar nicht auskennen.“ Aus diesen Erkenntnissen heraus haben sich der MSK-Vorstand und Holger Kranz dazu entschlossen, ab 2016 nicht nur eigene Mobilitätstrainingskurse für Mitglieder anzubieten, sondern auch im Bereich der Hilfsmittelberatung ein neues MSK-eigenes, ebenfalls kostenloses Angebot für die Mitglieder anzubieten.

Um den Inhalt und die Notwendigkeit eines solchen Angebots vorzustellen, führte Bernd Meixner mit ihm das folgende Gespräch zu der Thematik „Hilfsmittelberatung und -Versorgung“.

Bernd Meixner: Herr Kranz, wieso ist dieses Angebot Ihrer Meinung nach so wichtig?

Holger Kranz: Zum einen wissen viele Betroffene nicht, was es alles für Hilfsmittel gibt und welches das für sie richtige ist, zum anderen was ihnen von Gesetzes wegen zusteht. In den Sozialgesetzbüchern ist festgeschrieben, welchen Anspruch Menschen mit Handicaps haben und das ist meist mehr, als man ihnen sagt.

Dafür gibt es doch Fachleute und Auskunftsstellen

Wie so oft im Leben ist das graue Theorie. Die Realität sieht jedoch anders aus. Lassen sie mich zuerst einmal aufzeigen, wie das mit den Informationen zu den geeigneten Hilfsmitteln aussieht. Am besten kann ich das an dem Beispiel des so genannten MS-Rollstuhls aufzeigen.

An dem was?

Das ist genau die richtige Frage, denn es gibt gar keinen MS-Rollstuhl. Wessen erfindungsreicher Fantasie dieser Begriff entsprungen ist, weiß niemand mehr so recht. Denn die Rollstühle, mit denen auch die meisten MS-Betroffenen zu unseren Mobilitätstrainingskursen kommen, sind einfache Standard- oder Faltrahmenrollstühle. Diese entsprechen weitestgehend den rollenden Hilfsmitteln, wie sie auch in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen zu finden sind. Vielleicht eine schickere Farbe und ein paar Tattoos. Ansonsten unterscheiden sie sich in nichts.
Aber ich gehe als Betroffener doch in ein Sanitätshaus, wo ich generell meine Hilfsmittel her bekommen kann, davon ausgehend, dass man mich dort mit dem berät, was für mich am besten ist.
So sollte das sein. So ist es aber nicht. Gerade Rollatoren und der wesentlich komplexere Rollstuhl sowie andere Hilfsmittel wie Zuggeräte beispielsweise Handbikes oder elektrische Zugfahrzeuge können nur von Fachleuten beraten werden. Die finde ich aber in den wenigsten Sanitätshäusern.

Wieso das?

Die meisten Sanitätshäuser haben zwei oder drei Rollstühle im Laden stehen. Das sind meistens Standardrollstühle. Da können Sie sich noch die Farbe aussuchen und ein paar weitere unwichtige Details. Dann wird die Bestellnummer notiert. Nach einer Viertelstunde verlassen Sie das Sanitätshaus. Sie besorgen ein Rezept für die Versorgung mit dem Hilfsmittel und geben dieses bei Ihrem Fachhändler ab. Dieser erstellt einen Kostenvoranschlag, den er bei Ihrer Krankenkasse einreicht.

Und wie geht es dann weiter?

Die Krankenkasse genehmigt den Rollstuhl. Der Fachhändler gibt die Bestellung an den Hersteller. Nach der Lieferung Ihres Rollstuhls reicht er das Rezept zusammen mit der Rechnung ein und sie kommen kurz vorbei, um sich Ihr neues Hilfsmittel abzuholen.

Das hört sich nach schneller und unbürokratischer Bearbeitung an. Und das Beste, der Betroffene ist innerhalb kürzester Zeit versorgt mit seinem Hilfsmittel. Warum also muss man unsere Mitglieder dann besser beraten?

Zugegeben, das hört sich gar nicht typisch deutsch an. Aber dahinter steckt System. Zunächst einmal muss man sich einmal die Frage stellen: Warum geht das denn alles so untypisch schnell und unbürokratisch über die Bühne?

Wenn Sie das so hinterfragen, werden Sie uns sicher gleich eine Erklärung dafür liefern.

Gerne. An einem Standardrollstuhl verdienen alle. Der Hersteller, das Sanitätshaus und die Krankenkasse. Der Hersteller lässt den auch in der Produktion standardisierten Rollstuhl in Fernost fertigen und dann mit dem Container nach Europa verschiffen. Nach dem Eingang der Bestellung geht dieser direkt an den Fachhändler. Der übergibt mit ein paar Hinweisen an den Kunden, Ihr Mitglied zum Beispiel. Solch ein Standardrollstuhl benötigt kaum Beratungszeit. Das ist also relativ leicht verdientes Geld.

Und warum verdienen die Krankenkassen Ihrer Meinung auch noch daran? Die machen das doch richtig, sie bezahlen ihrem Mitglied ein kostengünstiges Hilfsmittel, das der Betroffene sehr schnell zur Verfügung hat.

Genau das ist der Punkt. Ein Standardrollstuhl ist tatsächlich recht kostengünstig. In großen Stückzahlen ohne hohen technischen Aufwand produziert, mit Containern ökonomisch transportiert und die Beratungsintensität geht gegen null. Da freut sich jeder Sachbearbeiter einer Krankenkasse. Ich frage Sie jetzt einmal, was bedeutet das denn für den Kunden möglicherweise, in diesem Fall kann es ja auch ein MSK-Mitglied sein, das davon betroffen ist?

Ich nehme an, Sie werden es uns gleich veranschaulichen.

Ich werde es versuchen. Dazu wähle ich ein alltägliches Beispiel. Sie benötigen Schuhe. Wenn Sie in das entsprechende Fachgeschäft gehen, dann finden Sie verschiedene Größen, Farben, Designs, zum Binden oder zum Reinschlüpfen und verschiedene Preise. Wie wäre es denn, wir müssten uns alle Schuhe kaufen, die nur zum Binden wären, alle nur in einer Größe, immer dasselbe Design, lediglich ein paar verschiedene Farben sind wählbar. Sie kosteten dann zwar auch alle das Gleiche, aber wenn Sie wie ich Größe 41 haben, aber die Standardgröße für alle, Frauen wie Männer, ist immer Größe 43 oder in die andere Richtung alle sind nur in 38 erhältlich, was nutzt mir dann der günstige Preis?

Ich fange an zu verstehen, worum es geht.

So individuell wir sind, so sehr muss sich ein Hilfsmittel an der Person, die es benötigt, auch gezielt ausrichten. Auf die Bedürfnisse, die Einschränkungen und die Maße des Einzelnen eingehen. Zumal das Hilfsmittel „helfen“ soll, es also den Betroffenen darin unterstützen, erlittene Defizite auszugleichen. Und nicht, wie es gerade vielen MS-Erkrankten ergeht, abschrecken.

Wie ist das gemeint?

Wenn ich jemanden sehen würde, der mit Schuhen der einzig verfügbaren Größe 43 herumläuft, da er aber viel kleinere Füße hat, mit diesen mehr herumstolpert als wirklich geht, dann würde ich doch gleich drauf verzichten und mir was anderes überlegen oder ausprobieren. Wenn ich als MS-Betroffener nun jemand anderen in einem Rollstuhl sehen würde, mit dem er jeglicher selbstständiger Mobilität beraubt wäre, ich denke nicht, dass es für mich sehr erstrebenswert wäre, ein solches Hilfsmittel nutzen zu wollen, in dem ich wirklich wie behindert auch nach außen wirke.

Und wenn ich Sie recht verstehe, tatsächlich mich damit kaum vorwärts bewegen könnte.

Darum geht es. Denn die Versorgung mit einem solchen Standardrollstuhl grenzt in manchen Fällen schon an Körperverletzung.

Ist das nun nicht etwas übertrieben?

Meinen Sie! An einem solchen Standardrollstuhl können sie so gut wie nichts zum Beispiel an der Sitzposition nachträglich einstellen und an das Individuum anpassen. Diese Hilfsmittel sind eigentlich dafür gedacht, den Betroffenen zu schieben und nicht dazu, sich eigenständig damit fortzubewegen. Dennoch versuchen es diejenigen, die inzwischen auf den Rollstuhl ganz und gar angewiesen sind, mit der Folge, ihre Gelenke übermäßig abzunutzen und die Muskulatur permanent zu überfordern. Und vieles an Mobilität wird ihnen von vorneherein dadurch genommen, da sie aufgrund des Verlaufs der MS mit einem solchen Hilfsmittel nicht unterstützt werden, sondern zusätzlich eingeschränkt, obwohl es andere Lösungen gibt.

Es braucht also individuelle Lösungen mit entsprechender Beratungskompetenz.

Genau. Für das Gespräch, einen Aktiv-Rollstuhl für den selbstständig fahrenden Menschen neu zu versorgen, wendet ein fachkundiger Berater etwa drei bis fünf Stunden auf. Wenn der individuell nach den richtigen Maßen angefertigte Stuhl dann vom Hersteller an den Fachhändler geliefert wurde, werden in kompetenten Sanitätshäusern noch einmal der Berater und die Servicepersonen in der Werkstatt und möglicherweise des Sonderbaus zwischen zwei und drei Stunden dafür aufwenden, die letzten Feinheiten wie beispielsweise die richtige Sitzposition, korrekte Einstellung der Rückenlehne oder die notwendige Ausrichtung der Vorderräder vorzunehmen. Sie sind dann als Kunde nicht nur zweimal zehn bis fünfzehn Minuten beim Fachhändler und erweitern wieder ihren persönlichen Mobilitätsradius. Und das nicht nur physisch sondern auch mental!

Woran scheitert das so häufig?

Zunächst einmal an der fehlenden Beratungskompetenz und der selten vorhandenen Produktvielfalt der Sanitätshäuser. Rund 90 Prozent aller Fachhändler haben nur eine sehr kleine Auswahl. Zudem ist der sogenannte Rehaberater kein Ausbildungsberuf. Einen Standardrollstuhl kann ich auch empfehlen, wenn ich bis vor einigen Wochen noch Haushaltswaren verkauft habe. Und es spielt auch eine Rolle, ob in einem Sanitätshaus selbst Betroffene in der Beratung und dem Service arbeiten, das geht mit dem Inhaber los und wie oft ein Aktiv-Rollstuhl überhaupt versorgt wird. Wenn ich nur zwei Mal solche Hilfsmittel im Jahr beraten muss, dann haben die meisten Mitarbeiter bis zum nächsten Einsatz schon wieder vergessen, an welchen Stellen des Körpers sie das Maßband anzusetzen haben. Verkehrte Maße sind in jeder Hinsicht fatal und am Ende badet es der Kunde aus. Denn um die ersatzweise Lieferung drücken sich alle gerne herum, das kostet dann irgendwen noch einmal Geld und minimiert die Gewinnspanne.

Unter diesem Aspekt müssten die Kostenträger doch an mehr Qualität interessiert sein und so die Sanitätshäuser zu mehr Beratung und Auswahl anhalten.

Fordern tun das die Krankenkassen, aber bezahlen wollen sie es nicht. Im Gegenteil. Derzeit sind Ausschreibungsverfahren im Gange, die zu noch mehr Preiskampf und damit noch mehr Qualitätsverlust bei der Beratung und Versorgung führen werden.

Das klingt nicht gut.

Das ist es auch nicht und aus meiner Sicht ein von den daran Beteiligten aus gesehen sehr kurzsichtiges Vorgehen, dass zu einer Fehlentwicklung führen wird. Denn es wird in der Folge zu höheren Kosten in der medizinischen Nachsorge kommen. Und natürlich auch zum Nachteil der Betroffenen, da sie nicht bekommen, was sie benötigen und möglich wäre.

Was können eine Organisation wie die MSK e. V. und auch der Betroffene leisten?

Aufklären, an die Öffentlichkeit gehen, denn es gibt keine Lobby und als Betroffener sich informieren. Denn vom fehlenden Wissen der Betroffenen vor allem darüber, was Ihnen gesetzlich zusteht, profitiert das System derjenigen, die eigentlich die Dienstleistungen und die Qualität verbunden mit dem entsprechenden Produkt zu erbringen haben.

Sich zu informieren ist nicht so ganz einfach.

Das ist richtig. Denn es gibt nicht die zentralen Beratungsstellen für Betroffene, um nach der Diagnose alles zu erfahren, was man in dieser neuen Lebenssituation wissen müsste. Das gilt für MS-Betroffene genauso wie für alle anderen. Es gibt zwar Reha-Beratungsstellen bei den Gemeinden oder besser gesagt, es sollte sie sogar von Gesetzes wegen geben, doch sind diese meist fest in der Hand der Kostenträger und die abhängig zudem von der Kompetenz der dort anzutreffenden Person. Das Thema Hilfsmittel gehört da eher nicht dazu.

Daher schaffen wir nun eine Hilfsmittelberatungsstelle „Hilfe zur Selbsthilfe“.

So ist es. Wir können mit dem Kompetenzteam, das dahinter steckt, auch Auskünfte dazu erteilen, wie oft und wann man zum Beispiel einen Anspruch auf eine Neuversorgung mit einem Hilfsmittel hat, egal ob es sich um einen Rollstuhl oder Rollator oder etwas anderes handelt. Sollte ein Mitglied in seiner Region keine entsprechende fachliche Betreuung finden, werden wir versuchen, gemeinsam alternative Lösungen zu finden.

Dann wünschen wir allen Beteiligten bei diesem Vorhaben viel Erfolg auch im Sinne unserer Mitglieder und bedanken uns für dieses aufschlussreiche Gespräch bei Ihnen, Herr Kranz.