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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Ein Portrait von Siegfried „Siggi“ Huhn, Gründungsmitglied der MSK e. V.

Siegfried Huhn, Blickpunkt-Ausgabe 03/2016

„Eigentlich mag ich nicht ständig über meine Krankheit reden – wozu auch?“, aber für den Blickpunkt macht das MSK-Gründungsmitglied eine Ausnahme. In der Wohnung läuft aktuelle Radiomusik im Hintergrund, die Sonne scheint durch das Fenster mit Blick auf die Odenwälder Berge und das Telefon klingelt in regelmäßigen Abständen. Seit mittlerweile 20 Jahren lebt hier im betreuten Wohnen Siegfried Huhn, dem kein Schicksalsschlag den verschmitzten Blick mit dem freundlichen Lächeln austreiben konnte.

Kinderlähmung, Skoliose und Starkstromschlag

Geboren 1947 in Heidelberg-Wieblingen, erkrankt er während seines ersten Schuljahres an Poliomyelitis – Kinderlähmung. Die Schluckimpfung war noch nicht flächendeckend eingeführt, für viele war eine Impfung zu teuer. Die rechte Seite des Jungen ist gelähmt, er kann nicht laufen, nicht einmal mehr selbstständig stehen. Nach Abklingen der Entzündung muss er alles in einer orthopädischen Klinik neu lernen. Er schafft es, wieder zu gehen, aber als Folge der Erkrankung bleibt er schief. Im Laufe der Jugendzeit entsteht dadurch eine schwere Skoliose. Im Alter von 16 Jahren wird ihm als einem der Ersten in dieser Gegend, bei denen diese Operation durchgeführt wird, das Rückgrat versteift. Die Bandscheiben entfernt, die Wirbelsäule möglichst gerade ausgerichtet und ein Gips angelegt. Trotz Gips spielt er Fußball. Ganz gerade wächst der junge Mann nicht zusammen, aber er verträgt die Prozedur wesentlich besser als andere, die zur selben Zeit operiert wurden.

Nach Abschluss der Schule beginnt Siegfried Huhn bei der BASF in Ludwigshafen eine Lehre zum Starkstrom-Elektriker. Während der Ausbildung soll er eine Starkstromleitung überprüfen, auf der wider Erwarten noch Strom fließt. Ein Stromschlag von 500 Volt schleudert ihn mehrere Meter weit durch die Luft. Herzkammerflimmern und Kreislaufschock werden festgestellt; beides verschwindet ohne weitere Folgen von alleine wieder.

Diagnose Multiple Sklerose

Fertig ausgebildet arbeitet der Starkstrom-Elektriker bei der Firma „Chemie und Filter“, baut die Elektroabteilung auf, errichtet die Ozonanlage. Später wechselt er zu den Heidelberger Stadtwerken als Schaltwärter im Schichtdienst. Eines Nachts geht er zu Fuß von der Spätschicht nach Hause, über Feldwege. Er taumelt wie ein Betrunkener, die Nachbarn tuscheln und seine Frau, die er mit Anfang zwanzig heiratete und mit der einen Sohn und eine Tochter bekam, macht ihm schwere Vorwürfe, warum er von der Arbeit morgens volltrunken nach Hause käme. Siegfried Huhn weist alle Vorwürfe zurück und geht zum Neurologen. „Nervenüberlastung“ wird ihm mündlich erläutert. Seine Frau liest die per Post zugeschickte Diagnose auf Papier, Encephalomyelitis disseminata bzw. Multiple Sklerose. Empört beschwert sie sich beim zuständigen Arzt, warum ihnen das nicht persönlich erklärt wurde. Die Rechtfertigung des Arztes: Weil sich so viele, die die Diagnose MS erhielten, kurz danach aus Verzweiflung darüber, dass sie höchstens noch 20 Jahre zu leben hätten (so war damals der aktuelle Stand), aus dem Fenster stürzten, würden sie diese Diagnose nicht mehr ausdrücklich stellen und darauf hoffen, dass die Verschleierung den Schock abschwäche. Ihr Mann würde das schon schaffen.

Siegfried Huhn erhält Kortison, verträgt es nicht, wechselt zum Ersatzmedikament Synacthen, was gut bei ihm anschlägt. Im weiteren Verlauf setzt er das Medikament in Absprache mit seinen behandelnden Ärzten wieder ab und verlegt sich darauf, sich selbst zu stärken. Er hört auf zu rauchen, achtet insgesamt gut auf sich. „Dass jemand direkt an der MS gestorben ist, hatte ich aus meinem Umfeld noch nicht gehört. Allerdings starben MS-Patienten beispielsweise an Lungenentzündung. Durch Schluckbeschwerden blieben Speisereste in der Atemröhre hängen, die sich entzündeten. Daher ging ich zum Logopäden, um das Schlucken zu trainieren.“

Erfolgreicher Kampf gegen die Verschlechterung der Krankheit

Siegfried Huhn arbeitet so lange, bis die Krankheit es nicht mehr zulässt. Eine Umschulung sei für ihn zu teuer und lohne sich nicht, hieß es, daher wird er nach und nach verrentet. Seine Ehefrau geht in Kur, um ihre im Alltag aufgeriebenen Kräfte wieder zu mobilisieren, und lernt dort jemanden kennen. Wegen eines geplanten Skiurlaubs mit dem neuen Bekannten muss ihr Mann mit Mitte dreißig ins Altersheim umziehen, einige Zeit später lassen sie sich scheiden. „Für mich war die Scheidung eine gute Entwicklung, weil ich plötzlich selber für alles verantwortlich war und mich selber kümmern musste. Niemand erledigte mehr etwas für mich, ich musste selbst aktiv werden“, erinnert sich Siegfried Huhn. Aus dem Doppelzimmer im Altenheim kann er dank der Unterstützung der MSK e. V. wieder ausziehen, in die Anlage mit betreutem Wohnen. Aus dem Rollstuhl, in dem er mittlerweile gelandet war, arbeitet er sich ebenfalls mit konsequenter Anstrengung bei der Krankengymnastik wieder heraus. Zum zweiten Mal stellt sich Siegfried Huhn nach einer Lähmungsphase wieder auf die eigenen Beine.

Umgang mit der Krankheit

Nach der Diagnose MS schaut sich der Kranke nach Schicksalsgenossen um, erkundigt sich nach Selbsthilfegruppen und landet damals bei der AMSEL. 1981 gründet er mit anderen MS-Betroffenen aus dem Raum Mannheim einen eigenen Verein: die Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Sie wollten sich u.a. auf Vorträge konzentrieren, die Begleiterscheinungen der Krankheit zum Thema hatten, aber keineswegs nur über ihre eigene Krankheit sprechen. Seitdem engagiert sich Siegfried Huhn im Verein und besucht regelmäßig die Veranstaltungen. Seit 2009 ist er als Beisitzer im Vorstand tätig. „Es ist gut, herauszukommen aus den eigenen vier Wänden.“
In seinem Heimatort gründet er eine Behindertengruppe, organisiert Ausflüge, Vorträge und Seminare, darunter z. B. ein Selbstverteidigungsseminar für Behinderte unter Anleitung der Polizei. Seine Gruppe schlägt den umtriebigen Ehrenamtler für die baden-württembergische Auszeichnung „Echt gut!“ vor, die ihm verdient verliehen wird.

Mit freundlicher Offenheit am Puls der Zeit

Seine liebsten Hobbies sind derzeit der Computer, sich bei Google umsehen und Computerspiele spielen, wie „Clash of Clans“ (das auch bei Kindern und Jugendlichen sehr beliebt ist). Hörbücher tragen ihn in andere Welten, mit „Die Päpstin“ und den historischen Romanen von Ken Follett begibt er sich auf Zeitreise.
Von seinen aktuellen Projekten berichtet er: „Mit dem Behindertenkreis plane ich die Besichtigung eines Pflegeheims im nahen Odenwald. Dort ist kürzlich jemand aus unserer Gruppe hin gewechselt. Wir wollen ihn besuchen und uns informieren, ob das später auch etwas für uns sein könnte. Selbstverständlich kommt nach der Information eine gemütliche Kaffeerunde.“ Soweit möglich selbstbestimmt plant Siegfried „Siggi“ Huhn sein Leben weiter: „Insgesamt lebe ich gut mit meiner MS und mache das Beste aus dem Umständen.“