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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Wie ich mit Musik, Gesang und Freundschaft der Krankheit trotze Oder die Geschichte vom traurigen Schneemann und einem fröhlichen Vogel

Birgit Bernhard, Blickpunkt-Ausgabe 4/2017

Da stand ich nun im Jahr 2005 mit 33 Jahren. MS seit 13 Jahren, seit vier Jahren berentet nach vielen anstrengenden Jahren. Mutlos, kraftlos, traurig und enttäuscht vom Leben. Ich erinnere mich noch genau an den Tag im Mai, an dem meine sieben Jahre jüngere Cousine heiratete und nach der Hochzeit ins Ausland gehen würde. Auf die ein Leben wartete. Ich dachte bei mir: „Für sie fängt das Leben gerade an – und meines ist schon vorbei.“ Es war nicht so, dass ich es ihr und ihrem Mann nicht gegönnt hätte, ich freute mich für sie. Es war mehr so eine lakonische Feststellung. Ich war wirklich überzeugt davon, dass das Leben mir nichts, und zwar absolut nichts mehr zu bieten hatte.

Ein Rückblick: der Weg zum Tiefpunkt

Mein Start ins Berufsleben war sehr holprig gewesen. Nach schweren Zeiten in meiner Jugend mit vielen Belastungen war ich endlich einmal glücklich, als ich 1992 das duale Studium bei der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung begann. Mir machte die Arbeit Freude, ich kam mit den Kollegen gut klar und das Studium in Kassel tat mir gut, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Auch war ich damals schon mit meinem Mann Robert zusammen. Diese glückliche Zeit dauerte genau sechs Monate, dann krachte die MS in mein Leben. Seltsame Symptome, unklare Diagnose, immer wieder wochenlang krankgeschrieben, Zwischenprüfung und Abschlussprüfung krankheitsbedingt verpasst und nachgeschrieben, aber zum Glück den Abschluss zur Diplom-Verwaltungswirtin geschafft. Dann endlich im Beruf angefangen. Immer wieder Schübe, Fehlzeiten, totale Erschöpfung und Verzweiflung. Erst aus heutiger Sicht, 25 Jahre später, habe ich richtig Mitgefühl mit mir, das ich auch immer wieder habe, wenn ich Neuerkrankte treffe. Wie schlimm ist es, wenn einen die MS in so jungen Jahren völlig aus der Bahn wirft.
Zum Glück hatte ich immer schon meinen lieben Mann Robert an der Seite, den ich 1995 geheiratet habe. Auch die kirchliche Hochzeit mussten wir wegen eines schweren Schubes verschieben. Damals hatte ich das Gefühl, ich würde mein ganzes Leben immer wieder verschieben.

Vollzeit zu arbeiten, hielt ich gerade mal fünf Jahre durch (inklusive der Ausbildungszeit). Allerdings war ich mindestens ein Drittel dieser Zeit krankgeschrieben. Ich habe dann auf 25 Stunden reduziert und später sogar auf 20 Stunden. Aber es ging nicht mehr. Ich war vollkommen am Ende. Totale Erschöpfung – ich war schon erledigt, wenn ich in der Arbeit ankam. Dann zwang ich mich, irgendwie durch den (halben) Tag zu kommen, fiel zu Hause mittags wie tot ins Bett und konnte abends nicht einschlafen aus Angst vor dem nächsten Tag. Dieser Teufelskreis machte mich vollkommen fertig. Ich hatte überhaupt kein Leben mehr neben diesen 20 Stunden Arbeit.

Als ich 2001 berentet wurde, war mein Zustand besser zu ertragen, das schon. Denn nun konnte ich ja immer Pausen machen, wenn ich sie brauchte. Aber mit 28 nicht mehr dazuzugehören, war wirklich ein schlimmes Gefühl. Unsere Hoffnung war auch gewesen, dass wir vielleicht doch noch ein Kind bekommen konnten, wenn ich nicht so ausgelaugt war. Aber auch das sollte nicht sein. Als ich mein Medikament wegen des Kinderwunsches für ein Jahr absetzte, hatte ich einen Schub nach dem anderen und dann war irgendwann klar, dass wir kein Kind bekommen würden. Darunter habe ich wirklich sehr lange gelitten. Es ist schwer auszuhalten, wenn alle um einen herum Kinder bekommen und man selbst auch das nicht haben wird, eine eigene Familie.
Ich war der Überzeugung, dass mein Leben fortan einfach irgendwie dahinlaufen würde. Es ist nicht so leicht, für sich selbst trotz Krankheit Wertigkeit zu empfinden. Und dass, obwohl ich meinen Mann Robert an der Seite hatte, der mir immer das Gefühl gab, geliebt und wertvoll zu sein. Ich merkte nur mit den Jahren, die ich zu Hause war, dass es nicht reicht, sich über jemand anderen zu definieren. Ich weiß nicht, wie ich alles in meinem Leben ohne Robert je durchgestanden hätte, aber dennoch fehlte mir etwas. So wie es Loriot in einem seiner Sketche so schön formuliert: „Man braucht etwas Eigenes!“

Die Rettung: Klavier, Kirchenmusik und Vereinsarbeit

Im Jahr 2005 war ich tatsächlich ganz unten angekommen. Und wenn es dann nicht mehr tiefer geht, dann passiert oft etwas Unglaubliches: Es geht auf einmal wieder aufwärts. Wie Phönix aus der Asche entsteht auf einmal etwas ganz Neues. Ich höre mich noch zu meinem Mann sagen: „Wenn wir jetzt sicher wissen, dass wir kein Kind haben werden, dann möchte ich mir aber meinen Kindheitstraum erfüllen und Klavierspielen lernen!“ „Dann mach es doch!“, antwortete er sofort. Das Klavierspielen tat mir von Anfang an so gut. Es lenkte mich ab, es beschäftigte mein Gehirn, das das Neue wie ein Schwamm aufsog, weil es so lange nichts Richtiges zu tun gehabt hatte. Die Musik erfüllte mich, es war so, als würde sie mir ein Stück von meinem Leben zurückgeben.

Durch diese „Initialzündung“ kam so vieles ins Rollen. Mein Klavierlehrer ist Kirchenmusiker in unserer Pfarrgemeinde. Schon seit Langem war die Rede davon gewesen, einen Verein zur Unterstützung der Kirchenmusik zu gründen. Bisher hatte es noch niemand so richtig in die Hand genommen. Das tat ich dann, zusammen mit sieben weiteren Gründungsmitgliedern. Bei dieser ehrenamtlichen Tätigkeit kann ich so vieles einbringen, das ich trotz der MS kann. Es ist eine Arbeit, die ich auch kräftemäßig bewältige. Weil kein Druck dabei ist, weil ich es mir einteilen kann und weil es eben nur ein kleines bisschen arbeiten ist. Wir veranstalten monatlich ein Konzert in unserer Kirche und ich übernehme beispielsweise die Werbung dafür. Es ist immer so schön zu sehen, wie viele Leute in unsere Konzertreihe kommen. Ich bekam durch diese ehrenamtliche Arbeit von Anfang an so viel positives Feedback und sie machte und macht mir dermaßen viel Freude, dass es mir dadurch psychisch enorm viel bessergeht.

Irgendwie schaffe ich es mittlerweile, mein Leben um die MS herum zu leben. Indem ich auf meinen Körper höre und auch indem ich mich ein bisschen fordere. Es gibt trotz allem ganz viele Tage, an denen ich fast gar nichts machen kann. Es gibt Zeiten, in denen mich die MS wieder voll erwischt. Aber es gibt eben auch diese andere, gute Seite in meinem Leben.
Das Klavierspielen und die ehrenamtliche Arbeit für die Musik haben mich gerettet und mein ganzes Leben verändert. Seit 2011 singe ich auch bei den Stephan Singers. Niemals im Leben hätte ich zu hoffen gewagt, dass ich einmal in einem Chor singen würde. Immer hatte man mir gesagt, ich könne nicht singen, obwohl ich eigentlich sehr musikalisch bin. Ich werde sicher niemals eine Solo-Sängerin werden, aber im Chor wird man so gut gestützt, ich fühle mich dort richtig gut aufgehoben und kann auf einmal doch singen – was für ein tolles Gefühl! Ab und zu haben wir in unserer Konzertreihe Musik mit Texten von mir verbunden. Seit meiner Kindheit liebe ich es, Geschichten zu schreiben. So konnte ich mich auch noch auf einem ganz anderen Feld betätigen. Auf einmal war ich selbst verwundert, was noch so alles in mir steckte.

Verborgene Talente ausgraben: ein Buch schreiben

Über den Chor habe ich Ursula Frerich kennengelernt, die Grafikerin ist und von meinen Texten immer sehr angetan war. Eines Tages rief sie mich an. „Ich habe eine kühne Idee!“ Gespannt hörte ich zu. „Was hältst du davon, wenn wir beide zusammen eine Geschichte mit Text und Bildern herausgeben? Ich stelle mir eine Freundschaft zwischen einem Schneemann und einem kleinen Vogel vor.“ Ursula freute sich, dass ich die Idee gar nicht so kühn fand. Auch ich hatte schon mal mit dem Gedanken gespielt, ihr ein gemeinsames Projekt vorzuschlagen. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob mir zu ihrer „Schneemann-Vogel-Idee“ wirklich viel einfallen würde. Wir redeten noch ein bisschen über das Konzept und es zeigte sich dann, dass diese Konstellation doch viele Möglichkeiten bot. Auf der einen Seite ein trauriger, unbeweglicher, unfreundlicher Schneemann und auf der anderen Seite ein fröhlicher, umherflatternder, nerviger Vogel. Wir verabschiedeten uns und wollten alles erst einmal weiter überdenken. Tja, und so wurde eine Erzählung daraus, die wir bei BoD („Books on Demand“) veröffentlicht haben. Ursula und ich, wir hatten beide unabhängig voneinander den Traum gehabt, ein Buch zu veröffentlichen. Diesen haben wir uns nun erfüllt mit „Zwei Freunde im Schnee – eine Geschichte über Freundschaft, die Aggregatzustände von Wasser und den Sinn des Lebens“.

Wir haben im Januar 2017 eine Lesung dazu veranstaltet, bei der Ursula ihre Grafiken mit dem Beamer an die Wand geworfen hat. Untermalt wurde die ganze Geschichte mit Klaviermusik des Münchner Komponisten Michael Proksch. Wir waren natürlich etwas aufgeregt vor der Lesung. Aber als wir begannen, kam von Anfang an so viel positives Feedback aus dem Publikum, dass wir uns gleich wohlfühlten. Die 160 Leute, die gekommen waren, schmunzelten über die Geschichte und die dazugehörigen Bilder. Aber sie gingen auch bei den traurigen Passagen vollkommen mit. Nach der Lesung waren alle sehr gerührt und wunderbarer Weise hatte es allen im Alter von 5 bis 85 Jahren sehr gut gefallen. Einige berichteten, dass sie lachen und auch richtig weinen mussten, weil sie die Geschichte so berührt hatte. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Die Resonanz überwältigte Ursula und mich.
Nach der Lesung sagten mir viele Leute, dass man das Traurige gut aushalten konnte, weil es dann auch immer wieder etwas zum Schmunzeln gab. Es sei so ein Hin- und Herpendeln zwischen Traurigkeit und Fröhlichkeit gewesen. Und da wurde mir erst so richtig bewusst, dass in dem Buch mein ganzes Leben steckt. In mir ist sehr viel vom traurigen Schneemann, der so unbeweglich ist, und sich immer wieder damit konfrontiert sieht, Dinge ertragen zu müssen, die man nicht ändern kann. Aber in mir ist (zum Glück) auch der kleine Vogel, der so fröhlich ist und sogar andere zum Lachen bringen kann.

Nur so kann man ein Leben mit MS in meinen Augen aushalten. Das Traurige und Schmerzhafte und Verzweifelte nicht „wegsperren“, sondern rauslassen. Es benennen dürfen und anerkennen, dass es einfach schwierig ist, mit einer chronischen Erkrankung zu leben, die das ganze Leben beeinflusst. Auf der anderen Seite aber auch das Gute und Schöne und Lustige zulassen und leben. Nur so tankt man wieder Kraft für schlechtere Tage. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, damals im Jahr 2005, aber man kann mit und trotz MS wohl doch ein erfülltes Leben führen.