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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Alpha-Liponsäure bei progressiven Formen der MS - Natürliches Antioxidans hat neuroprotektive Fähigkeiten

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2021

Oxidativer Stress spielt in der Pathophysiologie der Multiplen Sklerose eine wichtige Rolle. Gerade für progressive Formen der MS zeigen Studien der letzten Jahre für die Gabe der R-Alpha-Liponsäure einen klinischen Nutzen bei einer andauernden sehr guten Compliance.

Was ist oxidativer Stress?

Oxidativer Stress entsteht durch ungünstige Sauerstoffreaktionen (Oxidation) innerhalb des Zellstoffwechsels und ein sich dadurch entwickelndes Ungleichgewicht zwischen Radikalfängern (den sogenannten Antioxidantien, die die Oxidation anderer Substanzen bremsen oder verhindern können) und freien Radikalen zugunsten der letztgenannten. Sowohl Radikalfänger als auch freie Radikale sind wichtige Bestandteile des menschlichen Organismus, werden etwa bei der Zellatmung oder bei Immunreaktionen vom Körper selbst gebildet und schützen den Körper vor krankmachenden Mikroorganismen. Beide werden auch von außen beeinflusst – freie Radikale bilden sich etwa durch Hitze, UV-Strahlung, Mikroben, eine vitalstoffarme Nahrung, der Aufnahme von Schadstoffen (wie Abgase oder Pestizide), durch Medikamente, Drogen- und Zigarettenkonsum oder durch starken psychischen oder physischen Stress, während bestimmte Antioxidantien etwa über die Nahrung (Vitamin C durch Gemüse- und Obstarten, Vitamin E etwa durch Pflanzenöle, polyphenolische Antioxidantien z. B. über Tee, Kaffee, Kakao, Rotwein und Beeren oder Provitamin A über Früchte, Fisch, Leberprodukte, Butter, Eigelb oder Milchprodukte) zugeführt werden sollten.
Schädigungen (etwa Veränderungen an Zellmembranen, Proteinen oder Enzymen, am Erbgut) entstehen erst, wenn sich über eine längere Zeit eine zu hohe Konzentration der freien Radikalen bildet. Es wird angenommen, dass Krebs, Arteriosklerose oder rheumatische und neurodegenerative Erkrankungen wie die MS dadurch befördert werden können.

Oxidativer Stress und Neurodegeneration

Auswirkungen von dauerhaftem oxidativem Stress sind besonders schädlich für das Gehirn, was an einer dort vermehrten Produktion von Sauerstoffradikalen bei gleichzeitig verminderter Aktivität und Kapazität antioxidativer Schutzsysteme liegt. Zwar gibt es hydrophile und lipophile Antioxidantien, die direkt mit freien Radikalen reagieren und diese somit entgiften, in Neuronen ist diese Aktivität allerdings reduziert. Freie Sauerstoffradikale entfalten ihre biologische Wirkung überdies im Wesentlichen über die Reaktion mit Lipiden, Proteinen und Nukleinsäuren – gerade das Nervengewebe besitzt aber einen besonders hohen Lipidanteil, was oxidative Prozesse begünstigt. In der Folge entstehen oxidative Proteinmodifikationen, es werden entzündliche Veränderungen hervorgerufen und der neuronale Zelltod ausgelöst. Diese Neurodegeneration schreitet langsam voran und führt zu den bekannten charakteristischen Veränderungen.

Die Studienlage

Über Alpha-Liponsäure

Die Alpha-Liponsäure (auch Thioctsäure, ALA) ist eine körpereigene schwefelhaltige Fettsäure mit starken antioxidativen Eigenschaften. Als eine der wichtigsten Antioxidantien im Organismus schützt sie die Mitochondrien vor oxidativem Stress – im Gegensatz zu anderen Antioxidantien ist sie sowohl wasser- als auch fettlöslich, kann dadurch die Blut-Hirn-Schranke überwinden und ist als Bestandteil jeder Zelle für die zelleigene Energieproduktion unerlässlich. Als Radikalfänger fördert sie auch die Wiederherstellung von anderen Antioxidantien (etwa die biologisch aktiven Formen von Glutathion, Coenzym Q10, Vitamin C und E) im Körper.
ALA wird bereits seit einigen Jahren in unterschiedlichen Bereichen eingesetzt. Aufgrund ihrer chelatierenden Eigenschaften hat sie sich in der Entgiftung (etwa zur Ausleitung metallischer Stoffe wie Blei, Quecksilber, Kupfer und Platin) oder bei akuten Intoxikationen wie Pilzvergiftungen bewährt, wird aufgrund einer verbesserten Durchblutung der Nervenenden bei der Therapie diabetischer Neuropathien angewendet, bei Adipositas unterstützend gegeben und hat auch für die Multiple Sklerose – und hier im Besonderen die SPMS – in einigen Studien am Mensch gute Ergebnisse gezeigt. Auch für andere neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson laufen Studien.
ALA kommt in Nahrungsmitteln (etwa Spinat, Brokkoli und Tomaten sowie Fleisch und Innereien) natürlich (die sogenannte R-Form) vor, während Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel oftmals auch ein Gemisch aus R- und S-ALA enthalten können. Nur die R-Form erfüllt aber die hier genannten positiven Eigenschaften vollumfänglich.

Zur Therapie der SPMS

Bereits im Jahr 2005 konnten Yadav et al. in einer Pilotstudie am Menschen die antientzündliche Wirkung der ALA sowie eine reduzierte Anzahl von eingewanderten T-Zellen in das ZNS belegen. Die Arbeit von Salinthone et al. im Jahr 2010 bestätigte diese Ergebnisse. Aus dem Jahr 2016 bzw. 2017 stammen wichtige Studien von Spain et al., die bei einer zweijährigen Gabe von täglich 1.200 mg R-ALA eine deutliche Verringerung (um etwa 68 Prozent) der Gehirnatrophie-Rate im Vergleich zur Placebogruppe aufzeigen konnte. ALA erwies sich hier als neuroprotektiv, sicher und gut verträglich – lediglich Magen-Darm-Beschwerden traten gelegentlich auf. Bei dauerhaft hohen Gaben empfahlen die Autor*innen die Überwachung der Nierenfunktion.

Auf der Suche nach nebenwirkungsarmen und dennoch wirksamen Alternativen zur Behandlung der SPMS mit monoklonalen Antikörpern (etwa mit OcrevusTM/Ocrelizumab) kam die Gruppe um Spain zu dem Schluss, dass ALA eine deutlich höhere Wirksamkeit in Bezug auf den Gehirnschwund bei einem deutlich verringerten Nebenwirkungsprofil und somit eine deutlich verbesserte Lebensqualität für die Betroffenen mit sich brachte als die Phase 3-Ergebnisse des Biologikums, dessen Studie etwa im selben Zeitraum stattfand.

Im Vergleich zur Placebogruppe in Spains Untersuchung konnte bei den Teilnehmenden auch eine verbesserte Gangsicherheit und weniger Stürze sowie eine Verbesserung der Fatigue und der Kognition festgestellt werden. Diese Beobachtungen wurden durch die Studien von Loy et al. im Jahr 2018 sowie Liu et al. im Jahr 2019 bestätigt.
Entsprechend lag einer umfangreichen Auswertung von Cuniffe et al. aus dem Jahr 2020 zufolge R-ALA auf Platz eins der Stoffe, die für andere Krankheiten bereits zugelassen sind und aufgrund ihrer Wirksamkeit für neue klinische Testungen bei der SPMS priorisiert werden sollten.

Das günstige Nebenwirkungsprofil aus den Studien von Spain et al. wurde zwischenzeitlich auch durch verschiedene Phase 2- und 3-Studien bestätigt. In den USA läuft aktuell eine weitere Phase-2-Studie für progressive Formen der MS, Ergebnisse werden für 2023 erwartet.

Fazit

Die antioxidative Therapie für MS-Betroffene ist aufgrund des breiten neuroprotektiven Wirkspektrums der R-ALA, ihrer Fähigkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren und die schädliche Wanderung von T-Zellen in das ZNS zu minimieren, ein vielversprechender Ansatz. Ihre günstige Wirkweise auf das Immunsystem bei einem sehr vorteilhaften Nebenwirkungsprofil spricht für einen ergänzenden Einsatz auch bei progressiven Formen. Gerade für die SPMS zeigen Studien der letzten Jahre einen klinischen Nutzen bei einer andauernden sehr guten Compliance, und doch gibt es dazu noch keine generelle Empfehlung. Auf die Erkenntnisse der aktuell laufenden und noch breiter angelegten Untersuchungen darf man deshalb gespannt sein. In der Zwischenzeit besteht die Möglichkeit, R-ALA in Absprache mit den behandelnden Ärzt*innen und Therapeut*innen Off-Label anzuwenden.

Quellen