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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

„Arbeiten am Haus, in dem das Nervensystem wohnt“ - Craniosacrale Osteopathie bei MS

Red., Blickpunkt-Ausgabe 02/2023

Die Osteopathie, die sich mit der manuellen Behandlung von funktionellen Störungen beschäftigt, gilt heute als Alternative zur Physiotherapie und als Ergänzung zur Schulmedizin. Insbesondere die Craniosacrale Osteopathie, die sich eingehend mit dem „Haus, in dem das Nervensystem wohnt“, auseinandersetzt, kann bei MS-Betroffenen Symptome lindern und das Allgemeinbefinden verbessern.

 Herkunft und Grundannahmen der Osteopathie

Der amerikanische Arzt Dr. Andrew Tayler Still (1828–1917) begründete 1892 die Osteopathische Medizin (aus altgr. ὀστέον ostéon = Knochen und πάθος páthos = Leiden) – die Knochen standen nach seiner Vorstellung dabei stellvertretend für alle Strukturen des Bewegungsapparates – und seine erste Schule in Missouri. Seele, Körper und Geist werden in der Osteopathie grundsätzlich als Einheit betrachtet, die, wenn sie sich im Gleichgewicht befinden (also eine gute Beweglichkeit und Dynamik des Körpers und das Zusammenspiel aus Knochen, Muskeln, Gewebe und Nerven und deren Versorgung mit Blut und Lymphflüssigkeit gegeben ist), für ein Gefühl der Gesundheit sorgen. Still nahm an, dass sich Störungen in einem Bereich auch auf andere Bereiche auswirken; dadurch entstehende Schmerzen können durch die Therapie entsprechend gelindert und das „Gleichgewicht“ wiederhergestellt werden. Wesentlich war für ihn auch eine essenzielle Rolle der Arterien, das Verständnis des Körpers als Funktionseinheit, die Idee, dass die Körperstruktur sich durch die Funktion bestimmt (und umgekehrt) sowie eine grundsätzliche Fähigkeit zur Selbstregulation/Selbstheilung.

Die Craniosacrale Osteopathie

Die Osteopathie besteht aus verschiedenen Teilgebieten. Neben der viszeralen Osteopathie, die sich den Organen (Magen, Darm und Nieren, Herz und Lunge, Blase, Uterus/Prostata) widmet, gibt es die parietale Osteopathie, die sich verstärkt auf Knochen, Gelenke und Muskeln fokussiert. Die am häufigsten ausgeübte Form ist allerdings die craniosacrale Osteopathie, die in den 1930er und 1940er Jahren von Stills Schüler, dem Arzt und Osteopath William Garner Sutherland (1873–1954) entwickelt wurde, und die sich gezielt dem Bereich zwischen dem Schädel (lat. cranium) und dem Kreuzbein (lat. sacrum), also dem hinteren Teil des Beckens, widmet. In seiner Weiterentwicklung der osteopathischen Theorie ging Sutherland von einer Art Einheit, einem Zusammenspiel der Hirn- und der Rückenmarkshäute (Membrane) sowie einem Zusammenspiel von Schädel und Wirbelsäule aus. Neben dem Atemrhythmus und Puls identifizierte er weitere körpereigene Rhythmen, etwa den des Liquors. Der sogenannte primäre respiratorische Mechanismus (PRM) (bestimmt auch durch den Lebensatem), wie Sutherland ihn nannte, ist dabei eine primäre Atmung, die im zentralen Nervensystem und noch vor der pulmonalen Atmung beginnt und durch wiederkehrende Austauschprozesse für den Gesamtorganismus eine wichtige Rolle spielt. Diese feinen, unwillkürlichen Bewegungen im gesamten Organismus (leichte, kontinuierliche Bewegungen der Schädelknochen, des Kreuzbeins und der dazugehörigen Bindegewebshäute sowie der unterschiedlichen Flüssigkeiten) werden als leichtes Pulsieren am ganzen Körper wahrgenommen, zeigen den Grad der Vitalität einer Person an und dienen bei Diagnose und Behandlung als Indikator. Vier- bis 10-mal pro Minute kann das rhythmische Pulsieren des PRM ertastet werden.
Auch John E. Upledger (1932–2012) entwickelte die Methode weiter und verwendete Ende der 1970er Jahre erstmals den Begriff „Craniosacrale Therapie“.
Bis heute gibt es unterschiedliche Ausprägungen und Zugänge zur craniosacralen Therapie: Manche verstehen sie als physiotherapeutische Methode, für andere ist sie ein Teilgebiet der Osteopathie oder eine eigenständige Therapieform (etwa als craniosacrale Biodynamik, -Therapie oder -Methode).
Ziel dieser sehr sanften ganzheitlichen manuellen Therapie ist es immer, den freien Fluss an der Wirbelsäule bis hinunter zum Kreuzbein sowie im Schädel (im sogenannten craniosacralen System) und die Selbstregulation dazu anzuregen bzw. bei Störungen wiederherzustellen. Der/die Therapeut*in arbeitet somit indirekt mit dem zentralen Nervensystem der/des Betroffenen.

Osteopathie bei MS

Die osteopathische Behandlung optimiert die Funktion des zentralen Nervensystems und hat sich deshalb insbesondere bei der Behandlung von Schmerzleiden (auch der Trigeminusneuralgie), neurologischen Erkrankungen (wie der MS, Parkinson oder der Polyneuropathie) und bei Beschwerden wie Migräne, Schwindel, Tinnitus, Kiefergelenksproblemen, Fazialisparese, aber auch bei Erschöpfungszuständen (wie der Fatigue) und Depression bewährt.

Gerade durch den Individualansatz, also das Eingehen auf die ganz persönlichen Ausprägungen, die sich im Lauf des Lebens an Bewegungsapparat, Verdauungs- oder Nervensystem zeigen, kann gezielt auf Veränderungen eingewirkt werden – das betrifft vor allem auch funktionell (mit-)bedingte Probleme, die nicht direkt durch die MS entstehen. In der craniosacralen Osteopathie werden sehr sanfte Techniken angewandt, die sensomotorische Funktionen begleiten und stärken. Blockaden und Bewegungseinschränkungen werden so gelöst, dass ein besseres Körpergefühl, eine bessere Beweglichkeit und eine erhebliche Schmerzminderung zu verzeichnen ist. Die Sinne werden mithilfe einer Stimulation unterschiedlicher Hirnnerven gefördert und bestimmte Zonen des Gehirns angesprochen und aktiviert. Dazu finden Handgrifftechniken (meist an Schädel und Kreuzbein) Verwendung, mit deren Hilfe die oben beschriebenen eigenständigen inhärenten Rhythmen harmonisiert werden sollen.

Behandlung

Die Behandlung kann bei Menschen jeden Alters erfolgen und dauert etwa eine Stunde pro Sitzung.
In der Regel steht oder sitzt der/die Therapeut*in hinter dem/der Patient*in, diagnostiziert zunächst tastend und therapiert grundsätzlich nicht gegen Widerstände (sondern mit ihnen), gibt dem/der Betroffenen also die Zeit, entsprechend loszulassen. Sanft wird auf Kopf und Halswirbelsäule bis zum Kreuzbein eingewirkt, wo die Bewegungen am besten zu spüren sind. Blockaden in Skelett, Muskulatur und Gewebe werden so gelöst, die rhythmischen Bewegungen des Nervensystems wieder optimiert. Dieser regulative Prozess bewirkt entgegen der doch nur sanften Einwirkungen oft starke Ergebnisse, eine tiefe körperliche als auch psychische Entspannung tritt ein. Eine respektvolle sprachliche Begleitung unterstützt die Selbstwahrnehmung des/der Betroffenen. Je nach Krankheitsbild und Ansprechen wird die Behandlung mehrmals im Abstand von mindestens einer Woche wiederholt.

Akute Entzündungen oder Verletzungen im Bereich des zentralen Nervensystems sind kontraindiziert, ansonsten sind als Nebenwirkungen lediglich muskelkaterähnliche Schmerzen bekannt, die im Rahmen des Entspannens lange verspannter Muskeln kurzzeitig auftreten können – diese treten nicht häufiger auf als bei herkömmlichen physiotherapeutischen Behandlungen. Das Nutzen-Risiko-Verhältnis der komplementärmedizinischen Anwendung von craniosacraler Therapie durch zertifizierte Therapeut*innen bei verschiedenen chronischen Erkrankungen ist als positiv zu bewerten und wurde in verschiedenen Studien aus der Schweiz, den USA oder Großbritannien bereits bestätigt. Auch die biologische Plausibilität der Mechanismen (etwa die Idee der Beweglichkeit der Schädelknochen, die craniosacralen Rhythmen oder die Modulation des autonomen Nervensystems) konnte in unterschiedlichen Studien über die letzten 50 Jahre weltweit nachgewiesen werden.

Ausbildung und Kostenübernahme

Voraussetzung für die Ausübung der (craniosacralen) Osteopathie, die in Deutschland als Heilkunde gilt, ist eine vierjährige Ausbildung oder ein Studium an privaten Schulen – zur Diagnostik und Krankenbehandlung braucht es überdies noch eine Heilerlaubnis, die man durch einen medizinischen Grundberuf wie Heilpraktiker*in oder Ärzt*in mit Facharztausbildung erwirbt. Je nach Region und je nach Qualifikationsgrad der/des Osteopath*in liegen die Stundensätze in der Regel zwischen 70 und 150 Euro.
Die (craniosacrale) Osteopathie kann ärztlich verordnet werden und wird von vielen Krankenkassen seit dem Jahr 2012 bezuschusst, nach wie vor aber nicht als evidenzbasierte Methode anerkannt. Die Erstattungshöhe ist je nach Versicherung und Versicherungstarif demnach auch unterschiedlich – vor dem Beginn einer Behandlung ist also in jedem Fall immer die jeweilige Kasse zu kontaktieren.

Quellen und Therapeut*innensuche