Skip to main content

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Bedarfsgerechte Versorgung für MS-Betroffene? - Digitales Disease Management auf dem Vormarsch

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) setzt bei der Behandlung von chronischen Krankheiten recht offensiv auf die Etablierung eines technikgestützten Qualitätsmanagements und die Entwicklung von strukturierten Behandlungsansätzen in spezialisierten Zentren (Disease-Management-Programme, Chronic Care Units). Um auch Multiple-Sklerose-Betroffenen eine zentrierte, sogenannte bedarfsgerechte Versorgung anzubieten, werden entsprechende Möglichkeiten schon seit Längerem erforscht und aktuell in einem Pilotprojekt in Sachsen näher erprobt.

Pfadgestütztes Qualitätsmanagement

Anfang September 2020 fiel der offizielle Startschuss für das Pilotprojekt „Pfadgestütztes Qualitätsmanagement in der MS-Versorgung“ (QPATH4MS), das vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) und dem Freistaat Sachsen mit 1,7 Millionen Euro gefördert wird. Neben dem Multiple-Sklerose-Zentrum am Universitätsklinikum Dresden (mit monatlich etwa 1.000 MS-Patient*innen das größte in Deutschland) und der Technischen Universität Dresden sind am Projekt auch mehrere Akteure aus der Industrie beteiligt.
QPATH4MS passt gut in die größer angelegte BMG-Strategie „Digitale Gesundheit 2025“, durch die digitale Tools wie die elektronische Patientenakte, das elektronische Rezept, „Apps auf Rezept“, Telemedizin oder die Etablierung eines Forschungsdatenzentrums, in dem alle durch solche Maßnahmen gewonnenen Erkenntnisse aufbereitet und unterschiedlichen Akteuren zur Verfügung gestellt werden, nun schrittweise flächendeckend zur Anwendung kommen sollen. Die sich damit im Einklang befindlichen Empfehlungen für den Umgang mit MS-Betroffenen, die in den letzten Jahren von entsprechenden Studien abgeleitet wurden, werden hier konsequent in die Praxis übertragen.

Ziel von QPATH4MS ist es, auf strukturierte Weise und unter Mitwirkung der Betroffenen Daten zu ihrem Krankheitsverlauf zu erheben, und durch spezialisierte Neurolog*innen, MS-Pflegekräfte (und unter Hinzuziehung eines multidisziplinären Teams) neueste Diagnose- und Therapiealgorithmen umsetzen. Aus den Erkenntnissen und einzelnen Bausteinen lassen sich sogenannte Behandlungspfade entwickeln, denen sich Patient*innengruppen nach Diagnosestellung in Zukunft in spezialisierten Zentren dann zeitnah zuführen lassen.

Die Rolle der Patient*innen

Die Patient*innen spielen dabei keine unerhebliche Rolle. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass Betroffene für ihre eigene Therapie hier „erstmals“ in den Blick genommen und zu „Mitentscheidern“ werden sollen, dadurch über den aktuellen und geplanten Behandlungsverlauf informiert sind und Daten (etwa zu ihren Befindlichkeiten, mithilfe von digitalen Testverfahren und Fragebögen) eigenständig erheben und übermitteln lernen. Die Digitalisierung des Behandlungsprozesses, so nimmt man an, führt dabei zu mehr Selbstbestimmung, die sich wiederum positiv auf den Krankheitsverlauf und die benötigten Leistungen auswirkt.

Nun ist es ja keine unerhebliche Aufgabe, den eigenen Zustand – für alle interessierten Akteure einsehbar – auch noch selbst dokumentieren zu dürfen. Belohnt wird man dafür nach Angaben der Verantwortlichen mit einer „gestärkten Gesundheitskompetenz“, erhält „Klarheit über die Erkrankung und den notwendigen Behandlungs- und Versorgungsprozess“, wird dadurch gar zum „mündigen Patienten“ und darf „in wichtige therapeutische Entscheidungen eingebunden werden.“
Solche Aussagen beleuchten im Umkehrschluss allerdings auch die aktuell immer noch gängige Ansicht, eine Einbeziehung von Patient*innen in Therapieentscheidungen sei zu zeitaufwändig und daher überflüssig – was MS-Betroffenen etwa in Diagnosesituationen oder im Rahmen von Diskussionen im Vorfeld einer beabsichtigten Inanspruchnahme von sogenannten alternativen Therapieleistungen immer noch unschöne Erfahrungen bescheren kann.

Im Vordergrund: Gesundheitsökonomische Überlegungen

Gegen eine verbesserte und qualitätsvolle Patient*innenversorgung ist ja nichts einzuwenden, bei näherem Hinsehen fällt allerdings auch auf, dass Akteure aus Medizin, Gesundheitsökonomie und Technologie dazu Qualitätsindikatoren entwickeln werden, sodass „Patienten und Angehörige zukünftig noch zielgerichteter Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen, deren Qualität für ihre individuelle Erkrankungssituation besser einschätzen und (diese) somit auch selbst managen können“.
Solchen Disease-Management-Ansätzen liegen in erster Linie gesundheitsökonomische Überlegungen zugrunde. Wie bei anderen chronischen Erkrankungen auch, hat man für die MS festgestellt, dass dem System, neben den direkten Kosten für die Behandlung, auch nicht unerhebliche indirekte Kosten (etwa für den Erhalt der Erwerbsfähigkeit) entstehen. Etwa 80 Prozent der Betroffenen beziehen gar Leistungen aus mehreren Versorgungsbereichen (u. a. Fachärzte, stationärer Bereich, Pflege und Arzneimittel), und etwa jeder fünfte wird einmal im Jahr im Krankenhaus behandelt. Dabei spielt auch die sogenannte Adhärenz (also die Therapietreue) eine wichtige Rolle, die sich, so hat man herausgefunden, durchaus steigern lässt, wenn Betroffene dauerhaft strukturiert betreut werden. Eine „bedarfsgerechte Versorgung“ muss nach diesen Kriterien also möglichst sektorenübergreifend geplant und gesteuert werden.

In welche Richtung soll es gehen?

Einige Betroffene wünschen sich nichts sehnlicher, als dass ihnen spezialisierte Ärzt*innen und Therapeut*innen endlich auf Augenhöhe begegnen, alle Therapieoptionen ohne Eigen- oder Drittinteressen transparent offenlegen und ihre jeweiligen Entscheidungen respektieren, von daher ist die geplante Einbeziehung der Patient*innen in den Prozess der Therapiefindung und -umsetzung zu begrüßen. Auch die Schaffung eines MS-Netzwerks, das Kliniken, Schwerpunktpraxen, niedergelassene Neurolog*innen mit Referenzzentren und Studienzentralen zusammenschaltet, um Studien zu relevanten Fragen gemeinsam zu bearbeiten, ist sinnvoll.
Ob allerdings Effizienz, pharmakologische Therapieadhärenz bei der Diagnose und Behandlung von chronischen Krankheiten sowie ein digitales Zusammenführen von sensiblen Gesundheitsdaten maßgebende Leitgedanken der Zukunft sein sollten, und ob diese die am Limit operierenden Gesundheitsdienstleister*innen entlasten, berechtigte Bedenken ob der Datensicherheit solcher Unterfangen zerstreuen helfen, die Kosten im System reduzieren oder den derzeit extrem schwierigen Zugang zu individualisierten Unterstützungsleistungen, die einen selbstbestimmten Umgang mit der Krankheit erst ermöglichen, verbessern helfen, darf zumindest hinterfragt werden.

Quellen