
Bewertung von Arzneimitteln in verschiedenen Gesundheitssystemen
Andrew L. Gray/Christiane Fischer, Blickpunkt-Ausgabe 03/2025
Dass Gesundheitssysteme (Regierungen und Krankenversicherer) in Ländern mit hohem Einkommen es sich leisten können, mehr für neue Medikamente mit wichtigen gesundheitlichen Vorteilen zu bezahlen als Gesundheitssysteme in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, scheint offensichtlich. Dieses Ungleichgewicht geht einher mit einem eingeschränkten Zugang zu Arzneimitteln und Gesundheitstechnologien (z. B. diagnostischen Tests). Tatsächlich sehen sich alle Gesundheitssysteme auch mit einer Nachfrage nach neuen Medikamenten konfrontiert, die so teuer und so kompliziert in der Anwendung sind, dass sie ihre (finanziellen) Kapazitäten immer häufiger übersteigen.
Was gibt es zu bewerten?
Viele neue Medikamente (insbesondere gegen Erkrankungen wie Krebs) erfordern ausgefeilte diagnostische Tests, um Patient*innen zu identifizieren, die von ihnen bestmöglich profitieren können. So kann etwa ein Gentest erforderlich sein, um eine Mutation nachzuweisen, die eine Therapie überhaupt erst ermöglicht oder wenigstens auf ein besseres Ergebnis hoffen lässt. Doch diese Tests sind in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen oft nicht (und wenn überhaupt, dann nicht leicht) zugänglich. Viele neue Medikamente enthalten zudem Bestandteile von lebenden Organismen, wie etwa Proteine oder Antikörper (sogenannte Biologika), die nach Ablauf des Patentschutzes schwieriger zu kopieren sind, was die Markteinführung von Generika erschwert und sie weniger sicher macht. Der Preisunterschied zwischen dem ursprünglichen biologischen Arzneimittel und der Biosimilar-Version kann dann auch geringer ausfallen als bei generischen Versionen einfacher sogenannter niedermolekularer Arzneimittel im Vergleich zu ihren Originalpräparaten – ein Vorteil für die Hersteller, nicht aber für die Einkäufer.
Die Gesundheitssysteme der Länder stehen also vor der Aufgabe, neue Medikamente stets bewerten zu müssen, um entscheiden zu können, ob sie eingekauft werden sollten oder nicht. So ein Verfahren wird als Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment, HTA) bezeichnet und umfasst die systematische, evidenzbasierte Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien im Hinblick auf deren Effekte auf die Gesundheitsversorgung. Nötig ist dazu etwa der Zugang zu Nachweisen für den medizinischen Nutzen bzw. die Risiken des jeweiligen Arzneimittels im Vergleich zu seinen bereits verwendeten Alternativen oder Informationen über die Kosten und mögliche Einsparungen. Die Kosten können aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden – je nachdem, für wen sie entstehen, spricht man hier von direkten Kosten für die Gesundheitssysteme und von indirekten Kosten für Patient*innen, ihre Angehörigen und Betreuer*innen.
Wie entstehen die Preise?
Während Studiendaten zur Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln immer transparenter werden, ist weit weniger darüber bekannt, wie die meist sehr hohen Preise für Original- oder auch Nachfolgeprodukte (Biosimilars und Generika) der Pharmaindustrie letztlich entstehen. Durch die vorgeschriebene Registrierung der klinischen Studien vor ihrer Durchführung (etwa bei der Weltgesundheitsorganisation WHO oder der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA) können die Ergebnisse, die bekannt gegeben und in Peer-Review-Zeitschriften veröffentlicht werden, mit den geplanten Protokollen verglichen werden. Medizinische Fachzeitschriften ermutigen Forschende auch zunehmend, die Daten, die ihren Artikeln zugrunde liegen, anderen zur Verfügung zu stellen. Dagegen sind die Kosten für die Durchführung dieser klinischen Versuche sowie für die Grundlagen- und präklinische Forschung und für die Markteinführung eines kommerziellen Produkts nach wie vor intransparent und geben so Anlass zur Sorge, dass die Endpreise eher auf dem basieren, was „der Markt hergibt“ und nicht auf den tatsächlichen Kosten für Forschung und Entwicklung und einer angemessenen Kapitalrendite beruhen. Um die Medikamente verfügbar zu machen, stehen Regierungen und ihre Gesundheitssysteme zudem immer häufiger unter dem Druck, vertrauliche Preisbedingungen für neue und teure Medikamente zu vereinbaren. Patente, die die Quantität einschränken und den Preis somit nach oben treiben, verteuern Arzneimittel weiter künstlich.
Beispiele
Multiple Sklerose
Die Bewertung eines Arzneimittels hängt davon ab, mit welcher Zuverlässigkeit Nachweise für seinen Nutzen und seine Risiken erbracht und beschrieben werden können. Das ist nicht immer eine einfache Aufgabe. MS ist ein gutes Beispiel für die Herausforderungen, vor denen Gesundheitssysteme stehen können.
Meistens handelt es sich um eine schubförmig-remittierende Erkrankung (RRMS). Akute Symptome (Schübe) wechseln sich mit Perioden mit weniger Symptomen (Remissionen) ab. Betroffene können auch ohne spezifische Behandlung in eine Remission kommen, aber auch während der Behandlung einen Rückfall erleiden.
Das Ausmaß, in dem MS diagnostiziert wird, ist weltweit sehr unterschiedlich. Während Deutschland beispielsweise etwa 280.000 Betroffene zählt (entspricht etwa 300 pro 100.000 Einwohner*innen), wurden in Südafrika nur etwa 5.000 Betroffene diagnostiziert (also 8 pro 100.000 Einwohner*innen). Zumindest teilweise lässt sich dies durch den unterschiedlichen Zugang zu diagnostischen Mitteln (wie etwa MRTs) erklären, die meist nur in den großen Städten vorhanden sind, aber auch andere Faktoren können eine Rolle spielen.
Die genauen Ursachen von MS sind nicht vollständig verstanden, es bleibt also eine Herausforderung oder ist fast unmöglich, die Behandlung zielgerichtet zu gestalten. Während diese bei akuten Episoden gut erforscht ist und sich auf Kortikosteroide stützt, die patentfrei, erschwinglich und zugänglich sind, ist weit weniger über die besten Optionen für eine Langzeitbehandlung bekannt. Insbesondere die Vorteile neuerer (z. B. monoklonale Antikörper) gegenüber älteren Medikamenten sind trotz Forschung und Entwicklung nicht eindeutig.
Eine Möglichkeit der Orientierung insbesondere auch für Länder mit niedrigem Einkommen bietet die Modellliste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO (also Arzneimittel, die von einem Expert*innenausschuss der WHO geprüft wurden und die in allen Gesundheitssystemen verfügbar sein sollten). Ziel ist es, dass jedes Land auf Basis der Modelliste eine Liste für sich erstellt, die die Bedürfnisse des eigenen Landes widerspiegelt.
Im Jahr 2023 etwa empfahl der WHO-Ausschuss, drei Arzneimittel gegen MS in die Modellliste aufzunehmen – Cladribin, Glatirameracetat und Rituximab. Alle drei sind im komplementären Teil der Liste aufgeführt, da sie entweder spezialisierte Diagnose- oder Überwachungseinrichtungen, eine fachärztliche Versorgung oder eine fachärztliche Ausbildung erfordern, um sicher und effektiv angewendet zu werden.
Mukoviszidose
Mukoviszidose ist eine seltene genetische Erkrankung, von der weltweit knapp 190.000 Menschen in 96 Ländern betroffen sind. Allerdings werden nur etwa 60 % diagnostiziert und nur 27 % erhalten die lebensverlängernde Therapie. Mehr als 80 % derjenigen Menschen, die nicht diagnostiziert werden, leben in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Derzeit enthält die WHO-Modellliste nur Pankreasenzyme, die eine unterstützende Behandlung darstellen, aber nicht die Ursache der Mukoviszidose angehen. Die neuen immunmodulatorischen Therapien dagegen können den Krankheitsverlauf dramatisch verändern. Wenn sie frühzeitig begonnen werden, können Patient*innen mit Mukoviszidose so lange leben wie die Allgemeinbevölkerung ohne die Krankheit. Während momentan noch alle Immunmodulatoren unter Patent stehen, könnten die ersten generischen Versionen nach 2027 verfügbar sein. Diese wären dann deutlich günstiger und daher besser zugänglich.
Im Jahr 2025 wurden dem WHO-Ausschuss Vorschläge für die Aufnahme von drei neuen und sehr teuren Medikamenten zur Behandlung von Mukoviszidose vorgelegt – Elexacaftor, Tezacaftor und Ivacaftor. Es ist bisher noch nicht bekannt, wie sich der Ausschuss, der im Mai 2025 tagte, entschieden hat. Eine positive Entscheidung würde aber die Gesundheitssysteme unter Druck setzen, sofort den Zugang zu diesen teuren Medikamenten zu ermöglichen. Doch erst wenn erschwinglichere Alternativen verfügbar sind, könnte dies geschehen, denn eine Behandlung ist lebenslang erforderlich.
Ein Weg nach vorn
Die Beispiele lassen erahnen, wie schwierig es sein kann, neue und teure Arzneimittel für ein Land einkaufen zu müssen, insbesondere wenn medizinischer Nutzen/mögliche Risiken nicht vollumfänglich verstanden und die Ressourcen knapp bemessen sind. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang:
- die nachvollziehbare Bewertung von Nutzen, Risiken und Kosten der jeweiligen Arzneimittel;
- eine vollumfängliche Einsicht in Gesundheitstechnologien, die zu diesen Bewertungen geführt haben;
- eine transparentere und angemessene Preisgestaltung (insbesondere in Bezug auf die Kosten für Forschung und Entwicklung), die ohne Geheimhaltungsvereinbarungen und vertraulichen Preisabsprachen auskommt sowie
- die Abschaffung von Patenten auf Medikamente.
Transparenz könnte nicht nur Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, sondern auch Ländern mit hohem Einkommen helfen, informierte und damit bessere Entscheidungen zu treffen, damit diejenigen, die neue Medikamente liefern, keinen unfairen Vorteil gegenüber denjenigen haben, die sie kaufen.
Quellen
- Guo, J./King, I./Hill, A. 2024. International disparities in diagnosis and treatment access for cystic fibrosis, abrufbar im Internet unter www.doi.org/10.1002/ppul.26954.
- MS International Federation. Atlas of MS, abrufbar im Internet unter www.atlasofms.org/map/global/epidemiology/number-of-people-with-ms.
- World Health Organisation (WHO). Model List of Essential Medicines, abrufbar im Internet unter www.list.essentialmeds.org; Empfehlungen, www.list.essentialmeds.org/recommendations/1349 und Anträge, www.who.int/groups/expert-committee-on-selection-and-use-of-essential-medicines/25th-expert-committee-on-selection-and-use-of-essential-medicines/a.11-elexacaftor-tezacaftor-ivacaftor-cystic-fibrosis