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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Biologika und Biosimilars bei MS - Zwischen Kosteneffizienz und Lebensqualität von Betroffenen

Red., Blickpunkt-Ausgabe 03/2021

Die Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Zur gezielten Hemmung von Entzündungsvorgängen und fehlgeleiteten Immunreaktionen gelten Biologika als derzeit potenteste Medikamentenklasse. Ihrem therapeutischen Nutzen stehen teils gravierende Nebenwirkungen sowie hohe Kosten gegenüber. Die Zulassung von Biosimilars und neue Wege in der Überwachung der Arzneimittelsicherheit sowie der Wirkstoffverabreichung versuchen den schwierigen Spagat zwischen Kosteneffizienz und Lebensqualität der Betroffenen.

Was sind Biologika und Biosimilars?

Biologika (auch Biopharmazeutika) sind gentechnisch aus und in biologischem Material (also lebenden Zellen) hergestellte Wirkstoffe, die seit etwa zwanzig Jahren für die Dauer der Anwendung fehlende körpereigene Strukturen ersetzen, entzündungsfördernde Botenstoffe bzw. Rezeptoren und Immunzellen hemmen und damit zielgerichtet in die menschliche Immunabwehr eingreifen können. Je nach Bauweise gibt es verschiedene Biologika-Gruppen, die etwa bei der Immunisierung, in der Diabetes- und Krebstherapie oder bei chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankungen eingesetzt werden. Dazu zählen neben Ersatz- und Ergänzungsstoffen auch Entzündungshemmer und die Gruppe der therapeutischen Antikörper, denen auch bei der medikamentösen Begleitung der MS die größte Bedeutung zukommt. Im Einsatz sind hier aktuell etwa Präparate wie Alemtuzumab, Natalizumab, Rituximab oder das vor Kurzem neu in der EU zugelassene Ofatumumab. Diese von einer Zelllinie („Zellklon“, monoklon) ausgehend produzierten sogenannten monoklonalen Antikörper sind darauf ausgerichtet, mittels verschiedener Ansätze Entzündungsreaktionen im Gehirn und Rückenmark – und damit überschießende Immunreaktionen – einzudämmen.
Als Biosimilars werden Nachahmerprodukte bezeichnet, die nach Ablauf des Patentschutzes für die Originalpräparate (ihre „Referenzprodukte“) entwickelt werden, ihnen sehr ähnlich (= similar), aber aufgrund des zugrundeliegenden lebenden Systems (im Unterschied zu Generika) nie mit ihnen identisch sind.

Diese Wirkstoffe werden je nach Präparat in unterschiedlichen Zeiträumen (vier Wochen bis sechs Monate) derzeit ausschließlich intravenös oder subkutan verabreicht.

Wann kommen Biologika und Biosimilars bei MS zum Einsatz?

Biologika und Biosimilars kommen gewöhnlich dann zum Einsatz, wenn konventionelle MS-Therapien nicht oder nur noch bedingt wirksam sind. Die im Mai 2021 überarbeitete S2K-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN) ordnet die verlaufsmodifizierenden Arzneimittel dazu neuerdings nicht mehr den bekannten Konzepten der Basis-, Eskalations- und Schubtherapie zu, sondern bestimmt mittels drei Wirksamkeitskategorien, welche Therapien sich für welche Betroffenen eignen. In der höchsten Kategorie 3 befinden sich die Biologika-Antikörper, die bei einem „wahrscheinlich hochaktiven“ Verlauf in Zukunft auch schon bei therapienaiven Betroffenen eingesetzt werden können. Diese Einschätzung folgt der Ansicht, dass eine frühzeitige auf das körpereigene Immunsystem einwirkende Behandlung die Chancen erhöht, ein Fortschreiten der MS zu verlangsamen und den vor allem jungen Betroffenen ein möglichst langes, selbstständiges (Berufs-)Leben zu ermöglichen.

Kosten, Nutzen und Risiken

Das rückt vor allem deshalb in den Fokus, weil Autoimmunerkrankungen (wie MS, Morbus Crohn, rheumatoide Arthritis oder Psoriasis) in den letzten zwölf Jahren beständig auf dem Vormarsch sind und die Zahl der mit Biologika behandelten Patient*innen in diesem Zeitraum um 73 Prozent angestiegen ist. Auf die Gruppe der an Multipler Sklerose Erkrankten entfällt laut der aktuellen Versorgungsatlas-Studie des Zentralinstituts für Kassenärztliche Versorgung (Zi) trotz eines leichten Rückgangs nach wie vor die höchste Verschreibungsrate. Nun zählen Biologika aufgrund der komplexen Forschungs- und Herstellungsprozesse zu den hochpreisigen Arzneimitteln und sind etwa um das Hundertfache teurer als die Basismedikation – ihr Einsatz hat in dem oben beschriebenen Szenario also nicht unerhebliche Auswirkungen auf das Gesundheitssystem.

Hier kommen die etwa um 20 bis 30 Prozent günstigeren Biosimilars ins Spiel. Obwohl einige Patente bereits abgelaufen sind, existieren Biosimilars gegenwärtig allerdings nur für Rituximab und Natalizumab. Das mag am bisher noch zögerlichen Verschreibungsverhalten, den (im Gegensatz zu Generika) doch noch sehr hohen Hürden für eine Zulassung sowie an einem derzeit sehr dynamischen MS-Markt bezüglich anderer Wirkstoffklassen liegen. Für andere Autoimmunerkrankungen liegt der Anteil an Biosimilars dagegen deutlich höher.

Während Biologika und Biosimilars sehr viel gezielter und zum Teil auch deutlich schneller wirken als herkömmliche Wirkstoffe (also etwa nur bestimmte Botenstoffe blockieren) und Entzündungsprozesse wirklich bremsen können, gehen diese direkten Eingriffe in das Immunsystem mit teils gravierenden Nebenwirkungen einher. Neben injektionsbedingten Reaktionen an der Einstichstelle spielen vor allem eine erhöhte Anfälligkeit für bakterielle und virale Infektionen, allergische Reaktionen unterschiedlicher Schweregrade oder die Entwicklung anderer, zum Teil auch dauerhaft zu therapierender Erkrankungen der Niere, der Schilddrüse oder des Gehirns eine Rolle und können unter Umständen lebensbedrohlich sein. (Das von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA uneingeschränkt zugelassene und nach gerade einmal zwei Jahren aufgrund von tödlichen Nebenwirkungen vom Markt genommene Daclizumab ist hierfür ein unrühmliches Beispiel.) Zudem muss vor einer Gabe ausgeschlossen sein, dass durchgemachte oder latente Krankheiten (etwa TBC oder Hepatitis) sich nicht reaktivieren können. Bestimmte Präparate erfordern deshalb vorab eine sogenannte Prämedikation mit Antihistaminika und Kortikoiden, und vor invasiven Eingriffen, bei Infekten oder der Verabreichung von Lebendimpfungen muss auf Therapiepausen geachtet werden.

Das Immuntherapieregister REGIMS

Um die doch häufigen und vor allem bei längerer Gabe auftretenden Nebenwirkungen besser sichtbar (und damit bei Weiterentwicklungen eventuell auch besser vermeidbar) zu machen, hat ein Team um Prof. Klaus Berger an der Universität Münster das Immuntherapieregister REGIMS aufgebaut, über das von etwa 60 teilnehmenden Behandlungszentren die von über 3000 Betroffenen erfassten Neben- und Auswirkungen auf die Lebensqualität bereits bestehender und neuer Immuntherapien systematisch übermittelt und dokumentiert werden können. Optional besteht auch die Möglichkeit, in einer angeschlossenen Biobank Blutproben zu hinterlegen. In der Folge können Risikoprofile für bestimmte Immuntherapien ermittelt werden, die als Grundlage für individuelle Therapieentscheidungen genutzt werden können.

Neuentwicklungen in der Therapie mit Biologika/Biosimilars

Therapeutische Biomoleküle (so wie auch die anderen Wirkstoffe) können nur schwer und in deutlich reduziertem Ausmaß die körpereigene Blut-Hirn-Schranke passieren, die das Gehirn schützt. Um ihre volle Wirksamkeit auch entfalten zu können, wäre es wichtig, sie möglichst nah am Ort der Erkrankung zu platzieren. Das seit Januar 2017 von der EU geförderte und unter der Koordination des Fraunhofer Instituts bis zum Juni 2021 durchgeführte Verbundprojekt N2B-patch widmete sich genau diesem Problem. Für die hier entwickelte neuartige intranasale Therapieform konnte anhand von in-vivo-Modellen gezeigt werden, dass monoklonale Antikörper über die Riechschleimhaut (an der Grenze zwischen Nasenhöhle und Gehirn) die Blut-Hirn-Schranke überwinden und direkt ins Gehirn und das zentrale Nervensystem gelangen konnten. Ein millimetergroßes Nose-to-Brain-Patch, eine Art Gelpflaster, wurde dazu mittels einer Applikationsvorrichtung minimalinvasiv an den dem Gehirn am nächsten liegenden Punkt in der Nase verbracht und war dort für einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen hochwirksam, bevor es sich von selbst abbaute. Diese neue Art der Darreichung wurde als gut verträglich und auch für eine Langzeitbehandlung geeignet eingestuft. Sie soll als Alternative zu Injektionen oder der Tabletteneinnahme die Intervalle einer Medikation deutlich ausdehnen bzw. die Höhe der Dosis reduzieren helfen und so die Lebensqualität erheblich verbessern. Eine geringere und potentere Dosis wirkt sich auch ganz erheblich auf direkte und indirekte Folgekosten aus. Die flexible Plattformtechnologie könnte auch die Entwicklung neuer geeigneter Substanzen unterstützen.

Fazit

Biologika und Biosimilars sind eine wichtige therapeutische Option für chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankungen wie der MS, aufgrund der Kosten sowie der Nebenwirkungsprofile aber nur für bestimmte Patient*innengruppen geeignet. Nutzen und Risiken müssen hier also ganz intensiv und individuell abgewogen und etwaige Nebenwirkungen zeitnah angezeigt werden. Neue Strategien, die die Arzneimittelsicherheit verbessern sowie Dosierungen und Kosten reduzieren helfen, sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Inwieweit ein nach Diagnosestellung möglichst zügiger, weitreichender und vor allem langfristiger Eingriff in das Immunsystem vor allem jüngerer Patient*innen empfehlenswert ist, und inwieweit die durch die Krankheit verursachten Kosten damit letztendlich nicht nur gesenkt, sondern die persönliche Lebensqualität auch deutlich erhöht werden kann, wird sich im Rahmen von Langzeituntersuchungen erst noch zeigen müssen.

Quellen