Biotin bei progredienten MS-Verläufen: Beachtliche Therapieerfolge müssen weiter bestätigt werden
Jutta Scheiderbauer, Blickpunkt-Ausgabe 1/2016
Im Jahr 2015 tauchten erstmals Ergebnisse aus wissenschaftlich seriösen Studien auf, die von Erfolgen medikamentöser Therapien bei der Behandlung primär und sekundär progredienter MS-Verlaufsformen berichteten, oder zumindest darauf hoffen ließen. Das Dilemma der zurzeit verfügbaren Immuntherapien ist bekannt: Am besten „behandeln“ sie Kernspinbefunde, gefolgt von einer möglichen Verhinderung von Schüben bei einem Teil der Patienten, aber beides übersetzt sich selbst in kurzen Studienlaufzeiten nur ungenügend in eine Verringerung der zunehmenden Behinderung. Keine dieser Therapien bremst die neurodegenerativen Vorgänge der MS, die bereits in der schubförmigen Phase parallel nachweisbar sind und bei zwei Dritteln der Betroffenen mit schubförmigem Verlauf irgendwann an Dynamik aufnehmen bzw. bei den Betroffenen mit primär progredienter Verlaufsform von Anbeginn führend sind.
Biotin – Vitamin H – MD1003
Das Medikament mit den besten vorläufigen Studienergebnissen wird vom Unternehmen MedDay Pharmaceuticals hergestellt und ist zurzeit noch mit dem Kürzel MD1003 bezeichnet. De facto handelt es sich um Biotin, auch Vitamin H genannt, in sehr hoher Dosis. Es wirkt nicht auf das Immunsystem, sondern auf den Zellstoffwechsel, vermutlich durch Förderung der Remyelinisierung und durch Verbesserung der Energieversorgung der Nervenzellen und der sie versorgenden Oligodendrozyten. Biotin ist in Dosen bis zu 10 mg pro Tablette als Nahrungsergänzungsmittel frei verkäuflich, während es in einer Dosierung von 100-300 mg pro Tag klinisch untersucht wurde, in der es arzneimittelrechtlich eben als Arzneimittel eingestuft wird, mit höheren Anforderungen an Wirksamkeits- und Sicherheitsnachweise, aber natürlich auch mit einer zu erwartenden exzessiven Gewinnspanne, sollte es zugelassen werden.
Pilotstudie mit positiven Ergebnissen
Ergebnisse aus zwei klinischen Studien sind bekannt. Als Erstes führte man eine so genannte Pilotstudie mit nur 23 MS-Patienten mit primär oder sekundär progredienter MS ohne Kontrollgruppe durch, die in aufsteigender Dosierung (von 100 bis 300 mg täglich) über im Mittel circa neun Monate mit MD1003 behandelt wurden. 21 dieser Patienten erlebten eine Verbesserung in irgendeiner Form. Patienten, deren Rückenmark stark betroffen war, verbesserten
• ihre Gehstrecke
• EDSS-Werte (Leistungsskala nach J. F. Kurzke, „expanded disability status scale“, die Auskunft über den Grad der Behinderung eines MS-Patienten gibt)
• und die Zeit, bis man 25 Feet (englisches Längenmaß) gegangen ist.
Patienten mit Sehbehinderung verbesserten ihre Sehschärfe und die Messwerte bei den Visuell Evozierten Potentialen (VEP).
Diese Ergebnisse klingen ganz toll, können aber keineswegs schon als wissenschaftlicher Nachweis ausreichen, dass Biotin die Behinderung bei chronisch progredienten MS-lern verbessert. Es fehlt zum einen die Kontrollgruppe. Verbesserungen kommen auch bei chronisch progredienten MS-Formen spontan oder z. B. durch Sport vor. Erst wenn der schöne Effekt in einer Kontrollgruppe geringer war, kann man von einem Therapieerfolg durch das Medikament sprechen. Zweitens wissen wir nichts zur Auswahl der Pilotpatienten, es könnte sich da auch um ein hochselektiertes Kollektiv handeln, bei dem die Behandler eine Besserung erwartet haben, das wissen wir nicht.
Zweite Studie mit Kontrollgruppe ebenfalls mit positiven Ergebnissen
MedDay hat also eine zweite Studie angeschlossen, diesmal mit Kontrollgruppe, randomisiert und verblindet. Hierbei wurden 154 Betroffene eingeschlossen, 103 bekamen das MD1003, 51 ein Placebo. 41 Prozent hatten eine primär progrediente MS, 59 Prozent die sekundär progrediente Form. Der mittlere EDSS-Wert der eingeschlossen Patienten war 6.1, es handelte sich also um eine schon relativ beeinträchtigtes Kollektiv. Betroffene mit einem EDSS unter 4.5 und über 7 waren nicht in die Studie aufgenommen worden. In der gesamten Gruppe verbesserten 12,6 Prozent der mit MD1003 behandelten Patienten ihren EDSS, während kein Placebopatient sich verbesserte. Aufgeschlüsselt nach Untergruppen war der Therapieeffekt besser in der Gruppe der Patienten mit einem EDSS von 4.5 und 5 im Vergleich zu den Betroffenen mit EDSS 6-7. Er war ausgeprägter in der Gruppe der sekundär Progredienten gegenüber den primär Progredienten, aber alle Untergruppen zeigten einen positiven Effekt.
Weitere wissenschaftliche Studien erforderlich
Auch diese Studie, die durchaus einen beachtlichen Therapieeffekt zeigt, wenn man berücksichtigt, dass Verbesserungen überhaupt aufgetreten sind, reicht letztlich wissenschaftlich nicht aus, sondern muss weiter bestätigt werden. Der pharmazeutische Hersteller führt zurzeit noch zwei weitere Studien durch, in denen er das Kollektiv auf die beiden Gruppen einengt, die in der Pilotstudie am meisten profitiert haben: Betroffene mit starkem Befall des Rückenmarks und Betroffene mit ausgeprägten Sehstörungen. Das ist sinnvoll, denn ganz offensichtlich hatte nur ein Teil der Betroffenen in der kontrollierten Studie einen Nutzen, und es gilt herauszufinden, wer das ist, um keine unnötige Behandlung durchzuführen. Relevante Nebenwirkungen waren übrigens nicht aufgetreten.