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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Den Körper verstehen lernen - Biofeedbacktherapie bei MS

Red., Blickpunkt-Ausgabe 03/2022

Psychoedukative Programme wie die in der Verhaltensmedizin verortete Biofeedbacktherapie haben bei MS-Betroffenen nachweislich positive Auswirkungen auf die Lebensqualität, können gängige Symptome wie Fatigue, Stress, Depression und Ängste lindern, Schübe, Schmerzen und Muskelverspannungen reduzieren helfen und neben einer Verbesserung der Körperwahrnehmung auch strukturelle Veränderungen im Gehirn anregen.

Was ist Biofeedback?

Biofeedback (altgriechisch βίος bios = Leben, englisch feedback = Rückmeldung) ist eine empirische Methode, normalerweise nicht spürbare, unwillkürlich ablaufende körperliche Vorgänge als Signale in Echtzeit grafisch (als Kurve, Zeiger oder Balkendiagramme, aber auch als Ball, Sonne oder Horizont) oder akustisch (über die Tonstärke, - höhe und Klangfarbe) wahrnehmbar zu machen und der/dem Betroffenen so „zurückzumelden“. Der unmittelbare Zusammenhang von physiologischen Prozessen und emotionalem Erleben wurde bereits im 19 Jh. erforscht und bestätigt, seit den 1930er-Jahren wurde dann auch der Begriff eingeführt – das Interesse an der gezielten Beeinflussung dieser Prozesse zu therapeutischen Zwecken nahm seitdem kontinuierlich zu und dauert bis heute an.
Die dazugehörige Biofeedbacktherapie wird aufgrund der notwendigen umfassenden Körperwahrnehmung und Mitarbeit der/des Betroffenen in der Verhaltenstherapie/der Psychoedukation verortet und erfasst auch körperliche Reaktionen auf z. B. Stress, Angst, Belastung oder Schmerzen. Messwerte können etwa zeigen, dass Muskeln angespannt sind oder der Atem flach geht, obwohl das der/dem Betroffenen nicht bewusst ist. Auch zum Biofeedback zählt das sogenannte Neurofeedback (oder Neurofeedbacktraining), bei dem es um die Messung und Beeinflussung elektrophysiologischer Prozesse im Gehirn geht.

Ziel von Bio- und Neurofeedback ist es, Lernprozesse zu fördern, die körpereigenen Vorgänge besser zu verstehen (etwa Entspanntheit von Angespanntheit zu unterscheiden), die Auswirkung von positiven/negativen Gefühlen und Verhaltensweisen (körperliche und geistige) auf physiologische Reaktionen des Körpers zu beobachten und die Vorgänge unter Anleitung durch ein spezielles Training am Bildschirm (und mit der Zeit auch ohne Geräte und Therapeut*in) willentlich zu regulieren. Auf zeitweise auftretende Symptome kann also aktiv eingewirkt und durch das Gefühl der Kontrolle auch das Selbstwirksamkeitserleben deutlich gestärkt werden. Ein verändertes Bewältigungsverhalten führt wiederum zu einer Symptom- und Leistungsverbesserung.

Was und wie wird gemessen?

Für das Biofeedback werden Sensoren an unterschiedlichen Körperpartien angebracht, so Istwerte erfasst, konvertiert, gemittelt und verstärkt und schließlich grafisch oder akustisch aufbereitet – die Übertragung kann auch kabellos über Bluetooth erfolgen.

Messen lassen sich dadurch etwa:

  • Arteriendurchmesser/Puls/Blutdruck/Blutvolumen;
  • Herzfrequenz/Herzratenvariabilität;
  • Atmungsfrequenz/Atmungstiefe;
  • Muskelspannung;
  • Hautwiderstand/Hautleitfähigkeit;
  • Haut- und Körpertemperatur;
  • Hirnströme/Blutoxygenierung.

Die dazu verwendeten Geräte (etwa die Elektromyografie – EMG, Elektroenzephalografie – EEG oder die Elektrodermale Aktivität – EDA) zeichnen entweder als Kleingeräte (für Betroffene auch zuhause anwendbar) nur einen Wert auf oder werden als größere Mehrkanalsysteme in Praxen oder Kliniken bereitgestellt.
Speziell für das Neurofeedback kommt neben dem EEG-Gerät (EEG-Biofeedback) auch die Magnetenzephalografie (MEG), die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) oder die funktionelle Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS) zum Einsatz. Alle Messungen sind nichtinvasiv.

Einsatzgebiete und Verfahren

Biofeedback (und auch das Neurofeedback) wird bei einer Vielzahl von Beschwerden und Krankheiten angewendet. Dazu zählen u. a. Bluthochdruck und Durchblutungsstörungen, chronische Schmerzen, Angststörungen, Schluckbeschwerden, muskuläre Verspannungen und Spastik (auch im Rahmen der neuromuskulären Rehabilitation), Fatigue, Inkontinenz, Verstopfung und Störungen der Sexualfunktion oder Atembeschwerden/Asthma. Auch zur psychischen Bewältigung von körperlichen Krankheiten wird es eingesetzt.
Biofeedback ist häufig ein Teil eines multimodalen Behandlungsansatzes und kann entsprechend mit bestimmten Entspannungsverfahren wie Yoga, achtsamkeitsbasierten Methoden oder progressiver Muskelentspannung, mit Psychotherapie, Physiotherapie oder einer medikamentösen Therapie kombiniert werden.

Da jeder Körper anders reagiert, wird unter Beachtung der individuellen Krankheitsgeschichte in einer ersten Phase (Diagnostik) vorab ausgelotet, welches persönliche Ziel die Therapie haben soll, also welche Bereiche im Vordergrund stehen und prioritär zu behandeln sind und welche Signalquellen sich dazu am besten eignen. Die/der Betroffene, der/dem die unterschiedlichen Geräte und deren Funktionsweisen zunächst ausführlich erklärt werden, lernt im Anschluss (Training) die Veränderung bestimmter Parameter (etwa die Muskelanspannung zu reduzieren oder das Atemmuster ruhig werden zu lassen) durch unterschiedliche Aufgaben und Techniken Schritt für Schritt umzusetzen. Auch die physiologischen Reaktionen auf diese Bemühungen werden kontinuierlich gemessen und wieder rückgemeldet.
Die/der Therapeut*in moderiert und verstärkt hierbei – Belohnungslernen und klassisches Konditionieren spielen eine zentrale Rolle.
Grundsätzlich ist der Weg zur Erreichung des Ziels nicht strikt vorgegeben, je nach Gelingen kann hier immer wieder angepasst werden, Art und Dauer der Behandlung sind also abhängig vom gewünschten Ergebnis. Am Ende der Therapie (Transfer) steht üblicherweise die Generalisierung des Erlernten und das Training in Alltagssituationen. Bestimmte Übungen können auch zuhause ohne Therapeut*in fortgesetzt werden.

Mögliche Formen des Biofeedbacks sind:

Elektromyographie-Biofeedback (EMG-Biofeedback) Zur Unterstützung der Therapie von peripheren Nervenläsionen, bei funktionellen Störungen des Bewegungsapparates, Schmerzzuständen oder Inkontinenz wird der Spannungszustand der betroffenen Muskulatur mittels Elektroden erfasst und sichtbar/hörbar gemacht. Bei hypertonen Muskeln (Spastik) wird das Entspannen der Muskeln trainiert, bei hypotonen Muskeln (schlaffe Lähmung) das Anspannen und Kräftigen der Muskeln. Es gilt, dies auch unter Belastungs- und Stresssituationen umzusetzen und in der Folge den Spannungszustand der Muskulatur gezielt zu kontrollieren.

Temperaturbiofeedback Bei neuropathischen Schmerzen wird die Hauttemperatur über Sensoren in den betroffenen Regionen gemessen. Eine Verminderung der Temperatur geht mit einer reduzierten Schmerzwahrnehmung einher. Mittels des sogenannten Handerwärmungstrainings wird genau das Gegenteil bewirkt. Durch chronischen Stress und mentale Belastung (also ein hohes Erregungsniveau im sympathischen Nervensystem) verengen sich Blutgefäße, es kommt zum Absenken der Fingertemperatur und schlecht durchbluteten Händen und Füßen. Durch Entspannungstechniken wie Zwerchfellatmung soll ein Temperaturanstieg in den Händen erreicht werden. Die Durchblutung in den Händen wird gezielt gesteigert.

Herzfrequenz-Variabilitäts-Biofeedback (auch Herzratenvariabilität, HRV) Bei Angststörungen werden körperliche Signale wie ein schneller Herzschlag im Alltag von Betroffenen oft falsch interpretiert, wodurch sich auch Panikattacken entwickeln können. Durch eine entsprechende Kontrolle der Hautleitfähigkeit und der Herzrate können Betroffene diese Vorgänge nachvollziehen lernen und ihre Ängste dadurch aktiv meistern. Auch zur ergänzenden Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, Stress oder Depressionen eignet sich dieses Biofeedback.

Vasokonstriktionstraining Bei einer Migräne wird dieses Training eingesetzt, das die Gefäßweite der Schläfenarterie mittels Infrarotmessung über den Blutvolumenpuls bestimmt und meist in Form eines Kreisrings abgebildet. Der Patient lernt Schritt für Schritt, die Schläfenarterie zu verengen.

Atembiofeedback Chronische Schmerzen werden häufig auch von zu schneller oder tiefer Atmung begleitet. Ein „Atemgürtel“ oder ein Sensor, der über dem Bauch angebracht wird, in Verbindung mit dem entsprechenden Training (etwa Zwerchfellatmung) verändert Atemfrequenz und Atemtiefe positiv.

Neurobiofeedback Abhängig davon, was wir denken, verändert sich die elektrische Spannung von Milliarden Gehirnzellen in unterschiedlichen Gehirnregionen – mittels einer Sensorenkappe werden diese Signale eingefangen, bestimmte Frequenzbänder herausgefiltert und in animierte Figuren oder Situationen am Computerbildschirm umgewandelt. Über eine gezielte Auswahl der Elektrodenposition am Kopf können unterschiedliche neuronale Netzwerke (motorische Fähigkeiten, Körperempfinden) angesprochen und beeinflusst werden (wird bspw. eine spezielle Gehirnaktivität angestrebt, wandern die Figuren, ansonsten erstarren sie). Im Verlauf entwickelt das Gehirn immer effizientere Strategien, um die zu bewältigenden Aufgaben am Bildschirm zu lösen und damit neuronale Merkmale zu regulieren, die mit bestimmten kognitiven Funktionen oder der Reduzierung von Symptomen einhergehen – es kommt zum Umbau neuronaler Strukturen (neuronale Plastizität).

Kosten und Nutzen

Eine Biofeedback-Einheit/Sitzung (zwischen 30 und 60 min.) kostet, je nach Stundensatz des Anbieters, zwischen 70 € und 120 €. Die Dauer der Behandlung richtet sich an der Beeinträchtigung aus, kann aber um die 10–20 Sitzungen umfassen. Um den Effekt dauerhaft zu stabilisieren, empfiehlt etwa die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V., alle sechs bis zwölf Monate auch an einer Auffrischungssitzung teilzunehmen.
Im Rahmen einer Verhaltenstherapie/einer Rehamaßnahme (etwa einer stationären Schmerztherapie), einer Ergotherapie oder auch bei Zusatzpaketen der gesetzlichen Kassen („alternative Heilmethoden“) kann Biofeedback übernommen werden, ansonsten entscheidet der Einzelfall und die jeweilige Kasse – und das trotz der Tatsache, dass für die genannten Bereiche zahlreiche Wirksamkeitsnachweise in Form von kontrollierten Studien existieren.

Durch das Biofeedback lassen sich etwa Schmerzen um 50 bis 60 Prozent reduzieren – auch bei anderen Indikationen lässt sich der Medikamenteneinsatz verringern oder wird sogar unnötig. Die Behandlung ist zwar aufwändiger als der Gebrauch von Medikamenten, offenbar aber um einiges nachhaltiger. Einschlägige Studien zeigen, dass durch die verbesserte Reizleitung und einen Stress- und Angstabbau etwa durch das Neurofeedback die Anzahl der Schübe reduziert, kognitive Einschränkungen sowie die Körperbalance empfindlich verbessert und Depressionen und Fatigue nachhaltig kontrolliert werden können. Dazu kommt, dass keine Nebenwirkungen bekannt sind, das Verfahren also auch bei Kindern und Schwangeren eingesetzt werden kann.
Wie bei allen verhaltenstherapeutischen Ansätzen ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut*in und Betroffenen sehr wichtig für den Behandlungserfolg. Nur wenn sich Betroffene auf die Festlegung eines klaren Ziels, die genaue Instruktion im Umgang mit den Geräten sowie die ehrliche Rückmeldung und kontinuierliche Unterstützung im Prozess angstfrei verlassen, können sie sich auch ganz auf ihren Körper konzentrieren.

Vor allem lernen Betroffene aber, ihr Bewusstsein für körpereigene Parameter und Prozesse zu schärfen, sie lernen, welche Verhaltensweisen günstige oder schädliche Körperreaktionen auslösen – und dass etwas für nicht kontrollierbar Gehaltenes von ihnen regelhaft beeinflusst werden kann.

Quellen und Therapeut*innensuche