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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Empowerment - Strategien im Umgang mit chronischer Krankheit

Christine Hausmann, Blickpunkt-Ausgabe 03/2019

Eine chronische Erkrankung bringt für Betroffene eine Flut von Veränderungen mit sich – nach dem Schock über die Diagnose müssen sie sich Schritt für Schritt in ein neues Leben einfinden. Die generelle Unsicherheit über den Verlauf der Erkrankung, damit verbundene Einschränkungen und das Bewusstsein darüber, dass in absehbarer Zeit kein Heilmittel zur Verfügung stehen wird, kann lähmen, trotzig werden oder verzweifeln lassen. Sich Klarheit darüber zu verschaffen, welche Haltung und welchen Weg man für sich wählen soll, mit wem man diesen Weg zusammen gehen will oder ob und welche Unterstützung man dafür in Anspruch nehmen möchte, erfordert Freiräume, die aufgrund der Lebenssituation oftmals nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Empowerment-Strategien können dabei helfen, sich diese Freiräume zu schaffen und Perspektiven zu entwickeln, die einen selbstbestimmten Umgang mit und ein erfülltes Leben trotz Krankheit ermöglichen.

Was ist Empowerment?

Der Begriff Empowerment (engl. power: Kraft oder auch Macht, für den Prozess: die Selbstbefähigung) bezieht sich auf einen mehrdimensionalen Prozess, der von einem Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit über das Bewusstmachen der eigenen Lebenssituation, das Rückbesinnen auf Stärken und Eigenkompetenzen bis zu einem Übernehmen von Verantwortung reicht, und der ein bewusstes, informiertes, eigenmächtiges und selbstbestimmtes Handeln auch über die persönliche Ebene hinaus anstrebt. Übersetzt wird der Begriff gerne auch mit Ermächtigung oder Befähigung; weitreichende Prozess der Selbstreflektion und Selbstverantwortung, Autonomie und Eigenmacht werden so aber nicht umfassend abgebildet und eher auf die Personen oder Gruppen verwiesen, die diesen Prozess erst einmal anstoßen sollen.

Geschichte des Konzepts

Hinter dem Begriff steht ein ganzes Konzept, das eng mit sozialen Bewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er Jahre und der Gemeindepsychologie eines Julian Rappaport in den 1980er Jahren verbunden ist. Andere Einflüsse entstammen etwa aus der Pädagogik der Befreiung eines Paolo Freire, der Emanzipationsbewegung der Frauen oder der Selbsthilfebewegung mit ihrer Kritik an Mängeln des Gesundheits- und Sozialwesens. Alle eint die Idee des Protests und die Stärkung von Kraft durch psychologische, organisatorische und politische Entwicklungsprozesse, die der Einforderung eigener Rechte dienen.
Empowerment-Maßnahmen und -Strategien kommen in vielen Kontexten zur Anwendung und werden, jeweils auf die entsprechenden Zielgruppen zugeschnitten, etwa in der sozialen Arbeit und Erwachsenenbildung (wie im Bereich der politischen Bildung und dem bürgerschaftlichen Engagement) ebenso umgesetzt wie etwa im Firmenmanagement, im Rahmen von Teamarbeit und Organisationsentwicklung.

Empowerment in Medizin und Therapie

Aufgrund der gesundheitsökonomischen Bedeutsamkeit chronischer Krankheiten hat dieses Konzept in den letzten Jahren verstärkt auch im Gesundheitsdienstleistungsbereich eine besondere Aufmerksamkeit erfahren – die Wiedererlangung von Kontrolle und Handlungsfähigkeit der Betroffenen steht hier im Mittelpunkt. Ähnlich geartete Konzepte wie etwa das der Partizipation oder der Resilienz (also der Fähigkeit von Menschen, an Belastungssituationen nicht zu zerbrechen) sind ergänzend zu einem Empowerment-Prozess zu verstehen.
Die Wiederentdeckung bereits vorhandener Stärken mit dem Ziel der Selbsthilfe des Einzelnen und die dazu notwendige Ermutigung und Unterstützung zur Umsetzung einer selbstbestimmten Lebenszukunft durch Dritte hat auf einer psychologischen Ebene immer zunächst das Individuum mit seiner ganz spezifischen Lebens- und Erkrankungssituation im Blick. Sie bezieht dann dessen Umfeld, Familie und Freunde über eine berufliche und soziale, organisierte Ebene mit ein und kann sich schließlich auf einen übergeordneten Bereich ausweiten, in dem gemeinschaftlich Interessen und Teilhabeforderungen auch auf strukturell politischer Ebene artikuliert und umgesetzt werden. Für ein nachhaltiges Empowerment braucht es also Veränderungsprozesse auf allen Ebenen.

Leben mit chronischer Krankheit – Bedarfe und Strategien

Positive Beeinflussung von Selbstbild, Schuld- und Resignationsgefühlen

Am Anfang steht die chronische Krankheit, die praktisch in alle Dimensionen des Lebens hineinspielt. Ihre Unberechenbarkeit, besonders bei einer schubweisen Verschlechterung – kann Gefühle des Ausgeliefertseins und des Kontrollverlusts erzeugen. Sich von bestimmten Handlungsgewohnheiten verabschieden zu müssen, schmerzt – krankheitsbedingte körperliche und psychische Einschränkungen haben wiederum Einfluss auf das Selbstbild. Angst vor Stigmatisierung, Schuldgefühle, nicht mehr voll handlungsfähig zu sein, ein Gefühl der Schwäche, verbunden auch mit finanziellen Sorgen, lähmen und führen oftmals in die Resignation.

  • In einem ersten Schritt gilt es, sich von Ideen der Schuld, eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten besonders in Zusammenhang mit Krankheit zu befreien. Hier geht es immer um ein Geschehen mit sehr vielfältigen Ursachen- und Wirkprinzipien; die Frage nach dem Warum wird also niemand je ganz beantworten können. Sind Sie beeinträchtigt, steht Ihnen Unterstützung zu – dafür sollten Sie sich nie rechtfertigen müssen.
  • Wann oder ob Sie Ihr Umfeld über die Krankheit informieren, ist Ihre Sache – und nur Sie entscheiden, wer Sie auf diesem Weg begleiten soll.
  • In sich hineinzuhorchen, eine optimistische Grundhaltung zu entwickeln, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die einem guttun oder diese vielleicht auch erst wieder Schritt für Schritt herauszufinden und sie zuzulassen, macht stark und erlaubt, einen Prozess in Gang zu setzen, bei dem man sich die Kontrolle über sein Leben Stück für Stück wieder zurückholt.
  • Machen Sie sich bewusst, dass bestimmte Situationen oder Ereignisse beeinflussbar sind und nicht hingenommen werden müssen; sie können und wollen aktiv mitgestaltet werden. So begeben Sie sich auf eine Reise zu einer neuen Lebenseinstellung und es eröffnen sich Perspektiven, die Sie zuvor vielleicht so nicht erwartet hätten.

Zugang zu relevanter, unabhängiger Information und Unterstützung durch Patientenberatung

Informationen über die Krankheit, über Therapiemöglichkeiten oder Erfahrungswerte anderer tragen zu Ihrer Meinungsbildung bei und rüsten Sie im Umgang mit Behörden oder Gesundheitsdienstleistenden. Hier kommt es darauf an, sich unabhängig informieren zu können, sich also solche Publikationen oder Webseiten zu suchen, die möglichst wertfrei agieren und klar recherchierte, gut aufbereitete und einfach vermittelte Informationen zur Krankheit anbieten können. Ein Blick in das jeweilige Impressum kann hier aufschlussreich sein – bleiben Sie kritisch.

  • Dazu gehört auch, dass Sie sich (auch zusammen mit Ihren Angehörigen) über Fachbegriffe, die eigene Gesundheit betreffend, kundig machen, damit Sie in der Lage sind, Ihre Fragen zu formulieren oder entsprechende Befunde selbst oder zusammen mit Ihren Angehörigen einzusehen und zu verstehen.
  • Eine unabhängige Patientenberatung kann Ihnen bei Fragen oder Zweifeln stets zur Seite stehen und Ihnen Möglichkeiten und Hilfen aufzeigen, sodass Sie aktiv am Entscheidungsfindungsprozess über Ihre mögliche Therapie teilnehmen können.

Austausch auf Augenhöhe mit Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich

Wichtig ist hierbei die Erkenntnis, dass man für die eigene Krankheit stets der erste Experte ist. Man kennt sich selbst am besten und hat bereits in anderen Situationen Bewältigungsstrategien entwickelt, die auf eigenen Entscheidungen und Erfahrungen beruhen, und auf die man sich verlassen konnte. Mit entsprechender Zeit und Ruhe sowie ausreichender Information (kein Verlauf ist so dringlich, dass eine Entscheidung innerhalb von 24 Stunden getroffen werden müsste, wie es einem oftmals nach einer Diagnosestellung vermittelt wird) finden sich die Dinge und eine Entscheidung für oder gegen die Anwendung einer (neuen) Therapie kann somit bewusst gefällt werden. Symptome und Wirkweisen von Therapien erfahren Sie im Verlauf direkt und teilen Sie dem behandelnden Arzt oder Therapeuten so mit, wie Sie diese empfinden.

  • Es ist Ihr Recht, die optimale Versorgung für sich zu finden. Entsprechend sollten Sie keine Kompromisse eingehen, wenn es für Sie andere, besser geeignete Möglichkeiten gibt.
  • Kann der Arzt oder Therapeut Ihre Sichtweisen oder Erfahrungen nicht nachvollziehen und zweifelt sie vielleicht auch an, gilt es, sich über einen Arztwechsel Gedanken zu machen.

Unterstützung durch Rollenmodelle, Vernetzung und Erfahrungswissen

Sich mit Menschen auszutauschen, die selbst betroffen sind, kann unmittelbar nach der Diagnose, oder auch erst im späteren Verlauf wichtig sein und zu, für die eigene Situation relevanten, Erfahrungswerten und Erkenntnissen aus nächster Hand verhelfen.
Zu sehen, wie andere mit der Krankheit umgehen, auf solche Personen zu treffen, die sich aktiv damit auseinandersetzen und durch Bewältigungsstrategien das Leben trotz Krankheit genießen, kann Mut machen und dabei helfen, neue Kraft und Perspektiven zu entwickeln. Der Besuch einer Selbsthilfegruppe oder -initiative ermöglicht den Austausch auch auf persönlicher Ebene und geht über oftmals nicht verifizierte Spekulationen in Internetforen hinaus.

  • Regelmäßige Treffen mit Betroffenen, das Besuchen von Vorträgen oder Seminaren sind eine Möglichkeit; andere bestehen im Ausbau eines sozialen Netzwerks und den Treffen mit Gleichgesinnten, bei denen die Krankheit in den Hintergrund tritt. Hier wird bewusst ein Gegenprogramm entwickelt, das sich an gemeinsamen Vorlieben und Interessen orientiert, denen man regelmäßig gemeinsam nachgeht. Einer Isolation und dem Gefühl der Einsamkeit kann so oftmals aktiv begegnet werden und Sie nehmen sich eine bewusste Auszeit für sich und Ihr Wohlbefinden.

Auf einer Organisationsebene können Stärken, Ressourcen wie alltagspraktische oder finanzielle Unterstützung, aber auch Bedarfe unmittelbar wahrgenommen, zur Verfügung gestellt und weiterentwickelt werden – Voraussetzung ist, dass gemeinschaftliche Entscheidungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die auch die Ausrichtung einer Organisation, einer Initiative oder eines Vereins betreffen. Nur so ist man Teil eines Ganzen und kann auch die Kraft des Ganzen nutzen – nämlich dann, wenn in einem nächsten Schritt gemeinsam Möglichkeiten entwickelt werden, die eigenen Bedarfe und entsprechenden Veränderungswünsche auf eine nationale Ebene zu tragen und dort (etwa im Rahmen von Lobbyarbeit, der Beteiligung an Studien oder der Leitlinienerstellung) Entscheidungsfindungsprozesse mit begleitet und beeinflusst werden können.

  • Einiges liegt im Gesundheitsbereich im Argen – das ist insbesondere dann zu spüren, wenn man auf Dienstleistungen, Hilfen und Unterstützung in diesem Bereich angewiesen ist und viel Zeit auf die Einforderung von Teilhabe und das Durchsetzen von Rechten und Ansprüchen aufwenden muss. Neue Erfahrungen des eigenen und des kollektiven Kontrollvermögens können Rückhalt und Unterstützung bieten, wo vermeintlich unüberwindbare Hürden auftauchen.

Empowerment und seine vielfältigen Interessengruppen – Wem nutzt es?

Auf politischer Ebene bringt der sogenannte „mündige Patient“ klar die effizientere Ressourcennutzung im Gesundheitssystem mit sich; dementsprechend wurden hier die Weichen in den letzten Jahren ja auch gestellt (unter anderem für sogenannte Disease-Management-Programme, DMP). In der Umsetzung bedeutet ein ausführlicherer Patientenkontakt und -dialog aber zunächst auch den Einsatz von mehr Ressourcen (zum Beispiel für Schulungen oder mehr Beratungspersonal), die zur Verfügung gestellt werden müssen, bevor dieser Bereich sich entsprechend nachhaltig öffnen kann.

Im Bereich der Ärzteschaft und Gesundheitsdienstleistenden geht man durch das Empowerment von einer größeren Zufriedenheit im Patientenkontakt aus. Mehr Behandlungsoptionen können durch den gemeinsamen Austausch in Betracht gezogen werden und die Therapietreue sollte sich dadurch erhöhen, was sich auch positiv auf die Behandlungsabläufe in Praxen und Einrichtungen auswirkt. Entsprechende Angebote und Schulungen müssen aber auch hier erst einmal flächendeckend wahrgenommen werden, damit ein Umdenken vonstattengehen kann.

Für einige Akteure aus der Pharmaindustrie stellt das sogenannte Patienten-Empowerment seit Jahren eine Hauptstrategie bei der Vermarktung neuer Produkte dar. Die verschreibenden Ärzte und die Zahlungswilligkeit der Krankenkassen dabei fest im Blick, liegt ihr Hauptaugenmerk nun auf der Gesundheit des Patienten und nicht mehr auf dessen Krankheit. Die Art der Unterstützung, die man dem Einzelnen in seinem Leben anbieten kann (also zum Beispiel eine Gesundheitsberatung in einfacher Sprache, unterstützende Techniken für das Krankheitsmanagement oder der Direktansprache im Rahmen von Studiendesigns), wie er also von Therapieprodukt oder dessen Hersteller direkt profitieren kann und dadurch zufriedener und loyaler wird, spielt eine große Rolle. Auch die Macht eines informierten Betroffenen, der in einem Netzwerk agiert, Online-Petitionen lanciert oder kritische Blogartikel verfasst, wird schon längst als nutzbringend wahrgenommen, da er Entscheidungen anderer durch Empfehlungen mit beeinflussen kann. Datenanalysen oder Beobachtungsstudien bei Ärzten ergänzen die Möglichkeiten, ein umfassendes Bild von Betroffenen zu erhalten und sich dort entsprechend als Partner zu positionieren, der Autonomiebestrebungen unterstützt.

Betroffene, so hat sich auch in einigen sozialpsychologischen Studien gezeigt, gewinnen am meisten: an Akzeptanz, Wissen, Verständnis, Einflussnahme und Handlungskompetenz – generell in ihrem Lebensumfeld, und ganz besonders im Umgang mit ihrer Krankheit. Sie nehmen Therapierisiken korrekter wahr, möchten für sich die bestmögliche medizinische Versorgung in Anspruch nehmen und entwickeln ein Gefühl der Sicherheit in der Versorgung und der Kommunikation mit der Ärzteschaft. Sie werden hier mit ihren Stärken und Eigenressourcen wahrgenommen und bringen diese in den Therapieprozess ein, sind somit also keine Adressaten, sondern haben die Möglichkeit, eigenverantwortlich mitzuentscheiden.
Das mag dem Arzt nicht immer gefallen, denn so werden von ihnen oftmals auch Leistungen eingefordert, die sie nicht erbringen dürfen. Ein informierter Patient kann aber auch als Chance für mehr Effizienz in der Versorgung betrachtet werden. Wo mehr hinterfragt wird, mag auch transparenter geleistet werden.
Das Einbringen von persönlichen Erfahrungen in Organisationen und Vereine, das gemeinsame Entwickeln von Ideen und Vorschlägen, bisher nicht zufriedenstellende Produkte und Prozesse für sich und andere Betroffene zu optimieren, birgt wiederum die Möglichkeit, mehr starkmachende Kontrolle und Mitsprache zu erhalten. Akzeptanz und Aktion schaffen Perspektiven und Wahlmöglichkeiten, die sich ganz erheblich auf Lebenszufriedenheit, Gesundheitszustand und entsprechend auch auf Krankheitsverläufe auswirken können.

Richtig ist, dass Betroffenen durch zu viel Verantwortung oder Eigenbeteiligung Nachteile entstehen können. Es gibt Phasen, in denen Entscheidungen Konflikte bedeuten und es schwerfällt, aus einem Übermaß an Optionen die richtige für sich auszuwählen oder dahingehend klar zu kommunizieren. Auch können Hoffnungen enttäuscht werden und wertvolle Motivation verloren gehen, wenn sich herausstellt, dass sich Projekte nur schlecht oder schleppend umsetzen lassen. Richtig ist auch, dass nicht alle Motivik hinter dem Empowerment-Konzept hehre Ziele verfolgt. Doch genau für solche Szenarien gibt es Unterstützung, die man annehmen kann und sollte. Und auch wenn eine Situation zunächst noch so ausweglos erscheint: Wir sind viel stärker, als wir es zu denken wagen und tragen in uns die Kraft der Veränderung, um uns und andere in diesem Prozess zu bereichern.

Weiterführende Informationen

Empowerment-Strategien für Betroffene werden sowohl in Kursen an örtlichen Volkshochschulen als auch im Rahmen von Gruppen- und Einzelberatungen bei privaten Coaches und Therapeuten vermittelt. Auch in unabhängigen Patientenberatungen wird das Konzept praktiziert.

Weiterführende Literatur