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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Heilsame Trance: Hypnotherapie wirkt auf mehreren Ebenen

Sabine Rochlitz, Blickpunkt-Ausgabe 02/2020

Hypnose zur Behandlung von Multipler Sklerose? Was auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, ist keinesfalls abwegig oder gar „esoterisch“. Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP) hat im Jahr 2006 festgestellt, dass die Hypnotherapie für Behandlungen im Anwendungsbereich „psychische und soziale Faktoren bei somatischen Krankheiten“ als wissenschaftlich anerkannt gelten kann. Grundlage dafür war ein Antrag der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie e. V. (DGH) und der Milton H. Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose e. V. (M.E.G.), zwei der wissenschaftlichen Dachgesellschaften für Hypnotherapie in Deutschland.

Der Wegbereiter

Der Namensgeber der M.E.G., Milton H. Erickson, gilt gemeinhin als Begründer der modernen Hypnotherapie. Er erkrankte mit 18 Jahren an Kinderlähmung. Laut seinen Schilderungen saß er im Schaukelstuhl und konnte sich nicht bewegen, experimentierte jedoch mit seinen Wahrnehmungen und Vorstellungen. Auf dem Blog der M.E.G. heißt es: „Auf den Wunsch hin, aus dem Fenster zu blicken, spürte er ein leichtes Zittern seines Schaukelstuhls. Dieses Erlebnis motivierte ihn. Er begann zu üben, mit Imaginationen seine Muskelgruppen zu aktivieren. Nach knapp einem Jahr konnte er auf Krücken gehen und besuchte die Universität in Wisconsin. Ab dem zweiten Jahr seines Studiums beschäftigte er sich intensiv mit Hypnose, übte beharrlich und entwickelte eigene Techniken.“

Ressourcen- und lösungsorientierte Methode

Was fast wie ein Wunder klingt, hat handfeste physiologische und psychologische Grundlagen: Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen mittlerweile die Wirkungsweise und Wirksamkeit der Hypnose. Sie ist eine uralte Methode, die in vielen Kulturen in Form bestimmter Rituale genutzt wurde. Etwa Ende des 19. Jahrhunderts fand sie Aufnahme in die akademische Medizin. Aber erst Erickson etablierte und verfeinerte diese Form der Psychotherapie ab den 1950er Jahren.
Kern seines Ansatzes: Jeder Mensch hat in sich, in seinem Unbewussten, die nötigen Ressourcen, um seine Herausforderungen zu lösen. Aufgabe der Hypnotherapie sei es, diese ausfindig und zugänglich zu machen. Ericksons Anliegen war es, Betroffene in den Mittelpunkt zu stellen und die Hypnose für sie maßzuschneidern – er hatte herausgefunden, dass dies besser wirkte als standardisierte Texte.

An mehreren deutschen Universitäten wird Hypnoseforschung betrieben, u. a. in Tübingen. Dirk Revenstorf, dort Professor für klinische Psychologie, definiert Hypnose als „eine Methode zur Behandlung bestimmter psychischer, psychosomatischer und medizinischer Probleme“. Der Begriff Hypnose wird meist für die Induktion, also Einleitung eines Trancezustandes verwendet, die Hypnotherapie bezeichnet die Anwendung der Hypnose.

Therapie auf Augenhöhe

Auch wenn Hypnos der griechische Gott des Schlafes ist, lässt sich der Trance genannte besondere Bewusstseinszustand damit nicht vergleichen. Er gehört zum natürlichen Repertoire des Menschen und wird auch in Alltagssituationen erlebt – wenn man in einem Buch oder einer fesselnden Tätigkeit regelrecht versinkt oder sich Tagträumen hingibt. Dabei handelt es sich jedoch um unwillkürliche Phänomene. Um diesen besonders wachen Zustand, in dem die Aufmerksamkeit konzentriert ist, zuverlässig herbeizuführen, werden unterschiedliche Methoden der Induktion verwendet.

Wichtig: Niemand kann gegen seinen Willen hypnotisiert werden, Klient*innen haben jederzeit die volle Kontrolle über das, was mit ihnen geschieht und was sie tun. Klient*innen und Therapeut*innen begegnen sich in der Hypnotherapie also partnerschaftlich auf Augenhöhe. Die Show-Hypnose vermittelt insofern ein unzutreffendes Bild.

Erleben und erfahren

Die Hypnose gilt als sogenanntes körperlich-emotionales Verfahren. Anders als in eher kognitiv-betonten therapeutischen Methoden lässt sich in einer Trance das Bearbeitete quasi direkt erfahren. MRT-Aufnahmen zeigen, dass dabei die gleichen Hirnareale aktiv sind wie beim tatsächlichen Erleben. Zwei Regionen sind laut Revenstorf dagegen heruntergefahren: der präfrontale Kortex, der Vernunft und Entscheidungen steuert, und der Precuneus, der die Ich-Wahrnehmung regelt. Das bedeutet, dass „der Patient in hypnotischer Trance Suggestionen annehmen kann, ohne sie auf Übereinstimmung mit seinem gewohnten Selbstbild zu überprüfen“.

Dissoziation und Visualisierung

Hypnotherapie wirkt auf mehreren Ebenen: Zum einen lassen sich mit ihrer Hilfe körperliche Symptome wie Missempfindungen oder Schmerzen direkt behandeln und verringern. So werden in einigen Kliniken Operationen unter Hypnose durchgeführt, wodurch auf Narkose- und Schmerzmittel teilweise oder sogar völlig verzichtet werden kann. Dies lässt sich vor allem durch das Ausblenden von Informationen wie Schmerzreize erreichen, die man abspaltet (dissoziiert), indem man die Gedanken auf etwas anderes fokussiert. Auch in Zahnarztpraxen wird Hypnose eingesetzt – gegen Schmerzen, aber auch gegen Ängste.

Visualisierungen, wie sie wohl auch Erickson für sich selbst genutzt hat, können wiederum dabei helfen, Bewegungsabläufe zu verbessern. Vergleichbar und bekannt ist vielleicht als ähnliche Methode das Mentaltraining, das Sportler*innen nutzen, um durch das detaillierte Vorstellen komplexer Bewegungsabläufe deren Ausführung in der Realität zu optimieren. Auch moderne Prothesen werden häufig durch Nervenreize gesteuert, die willentlich durch das Vorstellen der Bewegung erzeugt werden können.

Entspannung mindert Entzündungen

Der entspannende Effekt einer Trance hat zudem nachweisbar Einfluss auf das Entzündungsgeschehen im Körper. Messungen direkt nach einer Hypnosesitzung ergaben u. a. ein deutliches Absinken von Botenstoffen, die in Stresssituationen ausgeschüttet werden, um die Immunabwehr zu aktivieren und den Körper mit „vorsorglichen“ Entzündungsreaktionen auf Verletzungen „vorzubereiten“. Diese Abläufe sind eigentlich dafür gedacht und auch sinnvoll, um auf akuten Stress zu reagieren – und beinhalten normalerweise das anschließende „Runterregulieren“. Gerade bei chronischem Stress ist dieser Mechanismus jedoch häufig gestört, die aktivierten Abwehrzellen können sich dann auf körpereigenes Gewebe konzentrieren und dieses – wie bei der MS die Myelinschicht um die Nervenfasern – angreifen. So erklärt die heute gängige Hypothese einer Autoimmunkrankheit das Krankheitsgeschehen.
Anhaltender Stress dämpft aber nicht einfach das Immunsystem, das größere Problem ist dessen verminderte Anpassungsfähigkeit. Der Psychologische Psychotherapeut Harald Krutiak vergleicht das Immunsystem mit einem Orchester: Die Schönheit entstehe „im Konzert durch das harmonische Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente“. Die Immunzellen kommunizierten durch Zytokine und andere Faktoren miteinander. Die meisten pharmakologischen Strategien zur Immunmodulation gleichen nach Krutiaks Worten lediglich dem einfachen Lauter- oder Leiserwerden eines Instruments. „Dies führt nicht notwendigerweise zu höherem Hörgenuss.“

Das Immunsystem kann lernen

Ein besonders interessanter Ansatz bei Multipler Sklerose ist die Möglichkeit der direkten Beeinflussung des Immunsystems. Geschichtlich gesehen ist dies wohl eines der ältesten Einsatzgebiete der Hypnose: Wenn Warzen nach dem sogenannten Besprechen verschwinden, basiert das vor allem auf den hypnotischen Anteilen der Methode. Die DGH hatte ihre Projekttage 2019 unter das Thema „Stärkung der Immunkompetenz bei chronisch-entzündlichen Erkrankungen“ gestellt. Der klinische Hypnotherapeut Thomas Seiffert stellte dort sein Vorgehen bei Klient*innen mit MS vor (siehe Interview).

Viele haben deutliche Verbesserungen erlebt“

Sabine Rochlitz: Herr Seiffert, wie starten Sie bei Menschen mit MS die Behandlung?
Thomas Seiffert: In der ersten Sitzung beginne ich eigentlich immer mit einem auf den Klienten abgestimmten sogenannten sicheren Ort. Viele wissen intuitiv, welches Bild ihnen guttut. Das kann für einen das kühlende Quellwasser sein, das über die Beine fließt, jemand anders spürt, dass im Meer alle Kraft wieder da ist oder empfindet beim Fliegen Leichtigkeit.
SR: Wie geht es dann weiter?
TS: In der zweiten Sitzung versuche ich, mithilfe von Hypnose nach Ursachen beziehungsweise Auslösern zu suchen. Das können Zusammenhänge sein wie systemische Aspekte innerhalb der Familie, die den Selbstwert berühren, aber auch größere Einschnitte im Leben, die viel Stress verursacht haben.
SR: Wenden Sie standardisierte Behandlungsmuster an oder gehen sie individuell vor?
TS: Die Grundstruktur der Hypnotherapie ist sehr ähnlich, und zwar unabhängig davon, ob es um MS geht oder Ängste und Raucherentwöhnung. Im Detail gestalte ich die Abläufe allerdings sehr individuell. Meist wechseln sich reine symptombezogene Hypnosen mit Sitzungen ab, in denen es stärker um die Ursachen geht, darum, die Krankheit als eine Art Wegweiser zu verstehen, um Veränderungen im Leben anzugehen.
SR: Begleiten Sie mit der Hypnotherapie eine medikamentöse Behandlung oder tritt sie an deren Stelle?
TS: Das überlasse ich den Klienten, ich rede niemandem die Medikamente aus. Es gibt aber durchaus Menschen, die die Erfahrung machen, dass sie auch ohne wieder gut im Leben stehen.
SR: Sie haben schon mit vielen Menschen mit MS gearbeitet, wie konnten Sie ihnen mit der Hypnotherapie helfen?
TS: Viele haben deutliche Verbesserungen erlebt, sei es beim Laufen, bei Missempfindungen oder der Fatigue.
SR: Sehen Sie auch Grenzen für die Hypnotherapie?
TS: Das ist natürlich allein Sache der Klienten, ich würde es aber aus meiner Sicht immer probieren. Ich habe auch schon mit Menschen arbeiten dürfen, die bereits den Rollstuhl brauchten und ihn dann wieder verlassen konnten.
SR: Konzentriert sich die Behandlung auf die Sitzungen oder profitieren die Menschen langfristig?
TS: Ich bin für meine Klienten immer ansprechbar, begleite sie, wenn gewünscht, auch über längere Zeiträume. Und ich zeichne die Trancen auf, sodass sie damit unabhängig weiterarbeiten können. Wenn sie merken, dass etwas passiert, brauchen sie mich nicht mehr.

Der relativ junge Forschungszweig der Psycho-Neuro-Immunologie (PNI) untersucht die Zusammenhänge zwischen Seele und Körper sowie dem Immunsystem (siehe Bericht in Blickpunkt 4/2019). Wissenschaftlich wurde in mehreren Studien belegt, dass sich das Immunsystem konditionieren lässt. 1975 gab ein Team um den Psychiater Robert Ader Ratten in einer Süßstofflösung ein Chemotherapeutikum, das Übelkeit auslöste, aber auch das Immunsystem unterdrückte. Viele Tiere starben, selbst wenn sie danach nur noch die süße Lösung ohne Medikament erhielten – ihr Immunsystem hatte gelernt. Heute befassen sich Forscher*innen um Manfred Schedlowski, Professor für Medizinische Psychologie und Verhaltensimmunbiologie am Universitätsklinikum Essen, mit solchen Phänomenen auch beim Menschen. Eines ihrer Ziele ist es, die Medikamentendosis von Patient*innen zu reduzieren, die wegen einer Autoimmunerkrankung Immunsuppressiva einnehmen.
Entscheidend für den nachhaltigen Erfolg hypnotischer Verfahren ist das regelmäßige Training in Form von Selbsthypnose. Positiver Nebeneffekt: Man bekommt eine Methode an die Hand, mit der man aktiv etwas tun kann, um (wieder) Kontrolle über die Erkrankung zu erlangen.

Qualifizierte Therapeut*innen

Da Hypnotherapie kein geschützter Begriff ist und daher auch Menschen ohne jegliche Grundqualifikation Hypnosebehandlungen anbieten dürfen, sollte man bei der Suche nach qualifizierten Therapeut*innen auf Dachgesellschaften wie die DGH und die M.E.G. zurückgreifen, die vornehmlich Ärzt*innen, Psycholog*innen und Zahnärzt*innen ausbilden. Die M.E.G. hat stellvertretend für alle wissenschaftlich fundierten deutschsprachigen Hypnosegesellschaften eine Informationsplattform für Interessierte initiiert: www.hypnose.de.

Weiterführende Informationen