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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

In Balance bleiben: Aquatherapie nach Halliwick

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2022

Therapien im Wasser fördern nachweislich den Gleichgewichtssinn und die Rumpfstabilität und eignen sich insbesondere auch für Schwerst- und Mehrfachbeeinträchtigte. Hier werden Bewegungen möglich, die an Land oftmals beschwerlich oder unmöglich sind. Gerade für neurologische Krankheitsbilder hat sich die Halliwick®-Therapie bewährt. Als Lernprogramm zur Selbstständigkeit im Wasser ist diese aktive Therapieform gerade auch für MS-Betroffene hervorragend geeignet, um einzelne Muskelgruppen zu trainieren, in ihrer Ausdauerleistung zu verbessern und zu Aktivität und Teilhabe zu motivieren. Ganz gezielt kann hier auf individuelle Symptomatiken eingegangen, können verloren gegangene Fähigkeiten wiedererlernt und neue Sicherheit und Selbstvertrauen gewonnen werden.

Was versteht man unter der Halliwick®-Therapie?

Dieses ungewöhnliche Konzept geht zurück auf den britischen Schwimmlehrer und Hydraulikingenieur James McMillan und seine Frau Phyl, die um 1950 zunächst nach einer Methode suchten, um Menschen mit jeglichen Behinderungen das Schwimmen beizubringen. Fähigkeit und Normalität (ability and normality) im Sinne von aktiver Partizipation sollten dabei die Grundlage bilden. Im Schwimmbad der Halliwick School for Crippled Girls in London entwickelten sie in engem Austausch mit Ärzt*innen und Lehrpersonal das sogenannte 10-Punkte-Programm.
Hier nutzen Helfende gezielt Strömungs- und Auftriebskräfte des Wassers, um das Gleichgewichtsverhalten von Betroffenen zu beeinflussen und so Defizite im Bewegungsapparat zu adressieren. Auf Schwimmhilfen wird hierbei ganz verzichtet; nach dem Prinzip „Fördern und Fordern“ geht es primär darum, dass Betroffene ihren Körper unter Zuhilfenahme der Hände des Helfenden im Wasser kennenlernen, im Rahmen von bestimmten Übungen gezielt aus dem Gleichgewicht gebracht werden und durch ihre Reaktionen darauf eine größtmögliche Unabhängigkeit entwickeln, sich in der Folge also selbstständig und ohne Angst im Wasser bewegen können. Die drei wichtigsten Lernphasen sind dabei „Geistige Anpassung“ (an die Umgebung, das Wasser), „Gleichgewicht(skontrolle)“ und „(Fort-)Bewegung“. Die Unterstützung der Helfenden, die sich dauerhaft mit den Betroffenen im Wasser aufhalten, wird dabei schrittweise reduziert.

Im Jahr 1964 wurde die Methode erstmals erfolgreich auf einem Bobath-Physiotherapeut*innen-Kongress in Bad Ragaz/Schweiz vorgestellt und anschließend über Kurse in die ganze Welt verbreitet. Parallel zur Nutzung des Konzeptes im Behindertensport entwickelte McMillan ab 1974 dann auch eine therapeutische Nutzung, die sogenannte Wasserspezifische Therapie (Water Specific Therapy, WST). Hier geht es nicht um das selbstständige Schwimmen, sondern um die Förderung der Selbständigkeit im Wasser und an Land durch einen problemorientierten Ansatz. Ähnlich wie das bereits in BP 2/2022 vorgestellte Pilates werden hier auch bevorzugt Muskulaturgruppen trainiert, die die Körpermitte stabilisieren.

Das Halliwick-10-Punkte-Programm (aktuelle Version)

Das motorische Lernen im Wasser wird in 10 Einzelschritte aufgeteilt:

Geistige Anpassung

1. Geistige Anpassung (GA) (fortlaufend): Betroffene lernen, auf das Wasser (Auftrieb, Turbulenzen, Wellen) richtig zu reagieren und dabei den Atem zu kontrollieren. Der Kopf lenkt die Körperposition, der Atem ist ruhig, die Übungen finden in der aufrechten Position im schultertiefen Wasser statt. Ziel ist die angstfreie Durchführung der folgenden Lernphasen.

Gleichgewichtskontrolle

2. Sagittale Rotationskontrolle (SRK): Ausführen von Bewegungen um die Tiefenachse in der Senkrechten; über geringe Anforderungen an die Koordination (Verlagerung des Gleichgewichts nach rechts und links) wird Stabilität erlernt, die auch eine bessere Haltung an Land unterstützt.

3. Transversale Rotationskontrolle (TRK): Ausführung von Bewegungen um die Körperquerachse, in Rückenlage, hier wird der kontrollierte Positionswechsel vom Stehen in eine sitzende Position und aus der sitzenden Position in eine liegende Position erarbeitet.

4. Longitudinale Rotationskontrolle (LRK): Ausführung von Bewegungen um die Körperlängsachse in der Waagerechten, beginnend mit kleinen Rotationsbewegungen des Kopfes bis zur Rotation um 360°.

5. Kombinierte Rotationskontrolle (KRK): Ausführung einer Kombination der vorangegangenen Rotationen.

6. Auftrieb/Geistige Umkehrung (GU): Vertrauen und Erfahrung, dass das Wasser den Körper trägt.

7. Gleichgewicht in Ruhe (GIR): Das stabile und entspannte Halten einer Ausgangsstellung, ohne die Arme dabei einzusetzen.

8. Gleiten mit Turbulenzen (GT): der Helfende zieht den Betroffenen rückwärtsgehend durch das Wasser hinter sich her, was mit eigenständiger Kopf- und Rumpfkontrolle ausgeglichen werden muss.

Bewegung

9. Einfache Fortbewegung (EF): Schwimmbewegung mit den Händen in Hüfthöhe.

10. Basis Halliwick Schwimmstil (BHS): rudernde rückwärtige Schwimmbewegung mit den Armen, auch Möglichkeit des Schwimmens in Brustlage.

Dieses 10-Punkte-Programm ist nicht starr, sondern kann immer individuell je nach Symptomatik und Fortschritt abgewandelt und angeglichen werden.

Die Wasserspezifische Therapie

Therapeutisch angewendet geht es um die Verbesserung von motorischen Einschränkungen ohne fest definierte Übungen – hier werden je nach Aufgabenstellung und Ausgangslage individuelle Kombinationen aus dem 10-Punkte-Programm zusammengestellt. Elemente sind hier:

  1. Pretraining (Vorbereitung, Sicherheit, Gewöhnung; 1–6 des 10-Punkte-Programms)
  2. Inhibition (Training in Ruhe, Punkt 7 des 10-Punkte-Programms)
  3. Fazilitation (Training von kontrollierter Mobilität)
  4. Dynamik (erhöhte Anforderungen durch Änderungen der Körperhaltung, der Unterstützungsfläche, der Wasserhöhe oder Einwirkungen wie Turbulenzen oder Wellen)

Die Rotationsachsen folgen dabei den im 10-Punkte-Programm beschriebenen, es werden sieben Ausgangsstellungen im Wasser angewendet (Stand, sitzende Position, Kniestand, Sitz auf einer Stufe oder dem Boden, Rückenlage, Rückenlage mit Bodenkontakt der Fersen und Bauchlage). Auch verschiedene Eintauchtiefen, metazentrische Effekte und von Therapeut*innen ausgelöste Turbulenzen spielen eine wichtige Rolle für die Gleichgewichtsreaktionen der Betroffenen. So lassen sich Einschränkungen auf verschiedenen von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) definierten Ebenen (Atmung, Gelenkbeweglichkeit und -stabilität, Muskelkraft, -tonus und -ausdauer, unwillkürliche Bewegungsreaktionen, Kontrolle von Willkürbewegungen oder Bewegungsmuster beim Gehen) gezielt positiv beeinflussen.

Potenzial und Umsetzung

Die Halliwick®-Therapie zeigt gerade bei neurologischen Beeinträchtigungen sehr gute Erfolge. Wasser, Wärme und Auftrieb bieten hier klare Vorteile gegenüber dem Training an Land. Schmerzzustände und Wahrnehmungsprozesse werden positiv beeinflusst und gerade die Instabilität aufgrund von Ataxie, Muskelschwäche oder Gangstörungen kann im Wasser einfacher adressiert werden, weil keine Sturzgefahr besteht. Betroffene haben also mehr Zeit zu reagieren, ihr Selbstvertrauen wird gesteigert und die Motivation für das (Gleichgewichts-)Training erhöht. Im Wasser erlernte Fähigkeiten können amerikanischen Studien zufolge das Verhalten an Land positiv beeinflussen. Eine im Jahr 2020 durchgeführte Studie zeigte etwa auch, dass die Halliwick-Methode bei MS-Betroffenen hinsichtlich der Handgeschicklichkeit als auch der Körperstabilität signifikant größere Verbesserungen als bei einem plyometrischen Training im Wasser ermöglicht. Wieder andere Studien aus Japan zeigen, dass aufgrund der im Wasser verändert beanspruchten Fuß- und Unterschenkelmuskelgruppen Betroffene mit Fußheberschwäche ideal profitieren. Weniger Kraft zur Ausführung von Bewegungen im Wasser kann auch Betroffenen mit einer Spastik entgegenkommen.

MS-Betroffene, die unter dem Uhthoff-Phänomen leiden, sollten darauf achten, dass das Wasser nicht zu warm ist, während bei Betroffenen mit Spastik kühleres Wasser zu einer zeitweisen Verstärkung der Spastik führen kann. Für Betroffene, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, steht in ausgesuchten Bädern auch immer ein Lifter zum Ein- und Ausstieg zur Verfügung. Grundsätzlich wird der höhere Aufwand, der mit einer Therapie in einem nicht-alltäglichen Umfeld verbunden ist, eher als Chance verstanden, auch hier die alltagsüblichen Bewegungsabläufe und Fähigkeiten zu trainieren.

Die Halliwick®-Therapie ist eine Zusatzausbildung für Physio-, Ergo- und Sporttherapeut*innen, die von der International Halliwick Association (IHA) oder der International Aquatic Therapy Faculty (IATF) zertifiziert wird. Dazu gibt es in vielen Ländern der Welt in der Therapie ausgebildete Ansprechpartner*innen, die diese Kurse leiten. Viele große neurologische Zentren oder Kliniken haben die Halliwick-Methode bzw. die Wasserspezifische Therapie im Angebot (z. B. die Median-Kliniken, die Schmieder-Kliniken, die Kliniken Beelitz, die Uniklinik Freiburg, die Johanniter-Kliniken, die Klinik Niedersachsen oder die Marianne-Strauß-Klinik).
Eine frei zugängliche Liste zur gezielten Therapeut*innensuche auch für eine ambulante Therapie existiert aktuell allerdings nicht –über gängige Portale für Physio-, Ergo- oder Sporttherapeut*innen (ideal auch Bobath-Therapeut*in) kann aber gezielt nach Personen mit einer Weiterbildung in der Halliwick-Methode gesucht werden.
Die Kostenübernahme wird unterschiedlich gehandhabt, und nicht immer wird die Halliwick®-Therapie als neurologische Therapie anerkannt – es empfiehlt sich also vor Beginn der Behandlung immer, sich mit der eigenen Krankenkasse abzustimmen.

Quellen