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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Klang, Rhythmus und Gehirn - Musiktherapeutische Behandlung in der Neurologie

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2021

Musik ist bei allen uns bekannten Kulturen dieser Welt ein zentraler Bestandteil heilkundlicher oder therapeutischer Handlungen. Das liegt nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten 50 Jahre nicht nur daran, dass Musik in uns starke positive oder negative Gefühle auslöst, uns zur Bewegung animiert, zur Kommunikation dient und unser Wohlbefinden und unsere Motivation steigern kann, sondern auch daran, dass Prozesse bei ihrer Rezeption eine wichtige Rolle bei der Therapie neurologischer Erkrankungen und der Neurorehabilitation spielen können. Vorreiter auf diesem Gebiet ist das Team um Professor Michael H. Thaut, der die Entwicklung der Neurologischen Musiktherapie (NMT) maßgeblich beeinflusst hat.

Was ist Musiktherapie?

Zunächst noch als spezieller Bereich der Psychotherapie oder der Psychopädagogik verstanden, ist die Musiktherapie – also der gezielte Einsatz von Musik zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung psychischer und physischer Gesundheit – heute eine eigenständige praxisorientierte Wissenschaftsdisziplin, die Körper und Geist als Einheit begreift. Je nach Bereich gibt es unterschiedliche Verfahren oder Ausrichtungen, also etwa

  • integrativ oder systemisch (als psychotherapeutische Verfahren),
  • verhaltenszentriert oder regulativ (als verhaltenstherapeutische Verfahren),
  • schöpferisch (als Verfahren zur Unterstützung künstlerischer Potenziale),
  • neurologisch (als Verfahren zur Behandlung neurologischer Beeinträchtigungen),
  • musikmedizinisch (als Verfahren zur Angstlösung, Entspannung oder Herbeiführung von Schmerzunempfindlichkeit bei medizinischen Eingriffen oder Behandlungen) oder
  • als heilpädagogisches Verfahren.

Je nach Ansatz und Bereich kann die Therapie entweder einzeln oder in der Gruppe, verstärkt aktiv (Musik selbst mit Stimme oder Instrumenten erzeugend) und/oder rezeptiv (Musik vornehmlich hörend und erlebend) erfolgen. Alle Ansätze folgen dem Konzept der Salutogenese, man ist also darauf bedacht, das Gesunde und die positiven Gefühlsempfindungen zu stärken, anstatt (nur) das Kranke und die negativen Gefühle zu bekämpfen.

Grundlagen der Neurologischen Musiktherapie (NMT)

Der Hörsinn ist der erste Sinn des Menschen und bereits im Mutterleib ausgeprägt. Studien zeigen, dass das Erleben von Musik (und besonders der rhythmische Anteil von Musik) weitverzweigte neuronale Netzwerke in beiden Hirnhälften aktiviert und emotionale Zentren, soziale Signale sowie das Belohnungssystem des Gehirns anspricht. Je angenehmer die Musik dabei empfunden wird, desto mehr Hirnareale werden aktiviert, und je bedeutsamer die damit verknüpfte Wahrnehmung oder Handlung wird, desto stärker werden auch neuronale Mechanismen in Gang gesetzt, die für die Bildung, Stabilisierung und Vernetzung neuer Nervenverbindungen – und das ist dabei zentral – auch außerhalb der angesprochenen Areale sorgen.

Für die Neurologie hat sich besonders das Team um den aus Mannheim stammenden Erziehungs-, Musik- und Neurowissenschaftler Professor Michael H. Thaut Anfang der 1990er-Jahre auf den Weg gemacht, mit der Neurologischen Musiktherapie wissenschaftliche Erkenntnisse so zu systematisieren, dass eine standardisierte Therapiemethode und ein evidenzbasiertes Funktionstraining zur Behandlung aller neurologischen Erkrankungen, die Kognition, Bewegung und Kommunikation beeinträchtigen (etwa Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Parkinson oder eben auch die Multiple Sklerose) entstanden ist. Die unterstützende Wirkung der Musik auf therapeutisches Lernen, Verhalten und Neuroplastizität steht dabei im Vordergrund.
Für die Bereiche Sensomotorik, Kognition und Sprache werden dazu zunächst nicht-musikalische Übungen entwickelt, die mit geeigneter Musik und Rhythmen (und dem gezielten Spiel etwa mit Tempo, Tonhöhe und -dauer, Klangfarbe, Lautstärke) verbunden und die Übungen dadurch musikalisch optimiert werden.

Therapieabfolge und -techniken

Die Therapie folgt dem sogenannten Transformational Design Model (TDM) in folgenden Schritten:

  1. Diagnostische und funktionale Anamnese;
  2. Bestimmen therapeutischer Nah- und Fernziele;
  3. Entwickeln funktionaler, nicht-musikalischer therapeutischer Übungen und Stimuli;
  4. Übertragen von Schritt 3 in funktionale, therapeutische Musikanwendungen;
  5. Transfer des Lernprozesses in Alltagsfunktionen (ADL-Score).

Insgesamt verfügt die Neurologische Musiktherapie über 20 standardisierte Techniken (Therapeutic Music Interventions, TMI) in den Bereichen Sensomotorik, Kognition, Affekt sowie Sprechen und Sprache, die überwiegend auf musikalisch-rhythmische Wahrnehmungsprozesse aufgebaut sind und von denen einige im Anschluss kurz vorgestellt werden sollen. Deren Auswirkungen auch auf nichtmusikalische Gehirn- und Verhaltensfunktionen sind als medizinisch wirksam anerkannt.
Daneben besteht für Therapeut*innen und Betroffene aber immer noch viel kreativer Spielraum. So „komponieren“ neurologische Musiktherapeut*innen die Übungen oft auch individuell, um auf die jeweiligen Gegebenheiten bestmöglich eingehen zu können; musikalische Präferenzen oder landesspezifische Musikgewohnheiten der Betroffenen werden dabei berücksichtigt.
Neben der Neurologie und der Neurorehabilitation wird NMT auch im Bereich Psychosomatik und Psychiatrie angewandt.

Für den Bereich Sensomotorik

Musiktherapeutische Techniken, bei denen sich Menschen rhythmisch bewegen, können Koordination, Konzentration und körperliche Ausdauer verbessern:

Gangtraining mit Musik: Rhythmic Auditory Cueing (RAC)

Durch rhythmisch-akustische Stimulationstechniken werden die Bewegungsabläufe nachhaltig unterstützt, die rhythmisch sequenziert sind (wie etwa das Gehen). Durch die Vorgabe bestimmter Schlüsselreize (die Cues), etwa durch Musik über Kopfhörer, werden Bewegungsimpulse angeregt, Abläufe stabilisiert und Koordinationsblockaden überwunden.

Bewegungstraining durch das Spiel von Instrumenten: Therapeutic Instrumental Music Performance (TIMP)

Durch die repetitiven Bewegungen, die beim therapeutischen Spiel von Instrumenten entstehen, werden Arme, Rumpf, Hände oder Finger effektiv trainiert. Große Trommeln (etwa afrikanische Djembes) oder auch andere Rhythmus- und Musikinstrumente, die auf unkonventionelle Art im Gehen oder im Sitzen gespielt werden und räumlich so angeordnet werden, dass die angestrebte Bewegung geübt werden kann, sprechen überdies Funktionen wie Aufmerksamkeit, Konzentration oder Arbeitsgedächtnis an. Durch Führung der Therapeut*innen können auch stark gelähmte Muskeln dabei wirksam trainiert werden.

Musikalisches Sequenztraining: Patterned Sensory Enhancement (PSE)

Mit einer für eine komplexe Bewegungsabfolgen komponierten Melodie (die kinematische Melodie), die Teilabfolgen musikalisch unterstützt (eine Art akustische Schablone), werden zeitliche, räumliche oder kraftbezogene Anker für die Bewegungsausführung geboten, um einzelne Bewegungen als funktionale Bewegungssequenzen zu trainieren.

Für den Bereich Kognition

Gedächtnisprobleme, eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit oder etwa in Vergessenheit geratene Erinnerungen – durch musiktherapeutische Techniken können kognitive Leistungen nachhaltig verbessert werden, weil sie sich gut in musikalischen Strukturen abbilden lassen. Sie unterstützen Betroffene maßgeblich beim Strukturieren, Organisieren, Lernen, Verankern oder dem Abrufen von Gedächtnisinhalten.

Musikalisches Aufmerksamkeitstraining: Musical Attention Control Training (MACT)

Hier geht es um das Training von anhaltenden (sustained), selektiven (selective), geteilten (divided) und alternierenden (alternating) Aufmerksamkeitsformen, bei denen vonseiten des Betroffenen musikalische Reaktionen auf die vom Therapeuten vorgegebenen Aufmerksamkeitsmuster erforderlich sind.

Musikalisches Wahrnehmungstraining: Auditory Perception Training (APT)

Hier wird das Unterscheiden von verschiedenen Klangkomponenten wie Tonhöhe, Dauer, Tempo oder Rhythmus geübt. Ergänzt wird die Technik durch eine sensorische Komponente, etwa das Erspüren der durch das Instrument verursachten Vibration oder dem Anregen zum bildhaften Sehen durch Klänge, Rhythmen oder Melodien.

Musikalisches Vernachlässigungstraining: Musical Neglect Training (MNT)

Hier werden durch das Aufstellen und der Art der Verwendung von Instrumenten gezielt die Körperbereiche trainiert, die Betroffene aufgrund von Beeinträchtigungen vernachlässigen.

Musikalisches Gedächtnistraining: Musikalisches Mnemoniktraining (MMT)

Hier dienen Lieder oder leicht zu erinnernde Melodien als „Erinnerungsschablonen“, in die nicht-musikalische Gedächtnisinformationen (etwa Einkaufslisten oder Informationen zur Orientierung) eingebunden werden. Durch die Erinnerung an die musikalische Struktur wird der Abruf der nicht-musikalischen Gedächtnisinformationen erleichtert.

Für den Bereich Sprache und Sprechen

Singen und Sprechen teilen sich rhythmische und melodische Charakteristika – über die Musik werden diese hervorgehoben und helfen, Sprach- und Sprechfertigkeiten, die im Rahmen von neurologischen Erkrankungen beeinträchtigt sind, wiederherzustellen und zu erhalten.

Therapeutisches Singen (TS)

Das therapeutische Singen spricht allgemeine Sprech-, Sprach- und Atemfunktionen gleichermaßen an und wirkt sich durch seine automatische Silbenzusammenfassung und rhythmische Antizipation vorteilhafter in der Sprach- und Sprechrehabilitation aus als das Sprechen.

Sprachtraining mit Musik: Melodic Intonation Therapy (MIT)

Fällt das Sprechen schwer, ist das Singen aber noch möglich, lassen sich durch kurze Äußerungen, die im Alltag Verwendung finden, unterstützt durch eine Klopftechnik, die den Sprachrhythmus wiedergibt, das Sprachverständnis oder die Sprachproduktion gezielt stimulieren.

Rhythmisches Sprechtraining: Rhythmic Speech Cueing (RSC)

Hier wird Rhythmus (etwa mittels eines Metronoms oder einer Trommel) genutzt, um eine unverständliche Aussprache zu strukturieren und die Sprechflüssigkeit zu verbessern. Etwa wird je eine Silbe im Takt gesprochen, wobei das Tempo einem normalen Sprechtempo angeglichen wird.

Oral Motor and Respiratory Exercises (OMREX)

Hier handelt es sich um eine Aussprache- und Atemtechnik, um während des Singens gezielt die Artikulation schlecht verständlicher Silben oder einzelner Vokale und Konsonanten einzuüben. Dazu wird etwa ein bekanntes Lied nur auf einer einzelnen Silbe gesungen.

Gerade Menschen mit MS kann die Neurologische Musiktherapie auf mehreren Ebenen helfen und die Lebensqualität erheblich verbessern. Durch das Spiel und die Auseinandersetzung mit den Instrumenten werden einerseits Gangbild, Koordination, Konzentration und körperliche Ausdauer gestärkt, Antriebsarmut beseitigt sowie Aufmerksamkeit und das Erinnerungsvermögen trainiert, durch das Singen können Atmung, Aussprache und Sprachrhythmus erheblich verbessert werden. Die Berührung der Instrumente oder die erzeugten Schwingungen sprechen auch sensorische Aspekte der Wahrnehmung an.

Besonders wichtig ist dabei immer, dass es Spaß macht und angenehm ist, Klang und Musik zu erleben und selbst zu gestalten. Den eigenen Gefühlen kann so auf besondere Weise Ausdruck verliehen werden. Ängste können abgebaut, Körper und Geist entspannt, entlastet und erholt werden, was sich immer auch positiv auf Schmerzzustände auswirkt. Ermutigend ist es für Betroffene auch zu sehen, was der eigene Körper trotz Beeinträchtigungen noch machen kann und will. In vielerlei Hinsicht ist Musik eine heilsame universelle Sprache, die Interaktion fördert und es gleichzeitig schafft, auch ohne Worte Dialoge aufzubauen.

Praxis

Musiktherapeutische Anwendungen findet hauptsächlich im Rahmen stationärer Behandlungen und medizinischer Rehabilitationsangebote statt. Im ambulanten Bereich sind sie keine Regelleistung und können deshalb nur auf besonderen Antrag im Einzelfall mit den Krankenkassen abgerechnet werden. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, für eine musiktherapeutische Behandlung Mittel der Eingliederungshilfe zur verbesserten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu beantragen.
Musiktherapeut*innen haben in Deutschland kein eigenes Berufsgesetz, sie können sich aber nach einem Studium oder einer vergleichbaren Ausbildung in Musiktherapie von mindestens zwei Jahren in Vollzeit oder drei Jahren in Teilzeit und mindestens zwei Jahren Berufserfahrung über die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) zertifizieren lassen. Die NMT kann als zertifiziertes Fortbildungsseminar absolviert werden.

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