Skip to main content

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Kurzkettige Propionsäure bei MS

Red., Blickpunkt-Ausgabe 02/2021

Welche Rolle spielen kurzkettige Fettsäuren, wie Propionsäure, in der Pathogenese der Multiplen Sklerose? Die dazu durchgeführte internationale Studie aus dem letzten Jahr zeigt klar antientzündliche Eigenschaften auf und verweist auf das Potenzial einer Gabe im Rahmen einer MS-Therapie.

Das Mikrobiom im Darm

Die wichtige Rolle, die der Darm bei entzündlichen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose spielt, ist in den letzten Jahren stärker in den Fokus gerückt. Denn im Darm angesiedelte Bakterien beeinflussen über ihre Stoffwechselprodukte Immunsystem und Gehirn. Unterschiedliche Studien haben gezeigt, dass sich das Mikrobiom des Darms (ein Teil des gesamten menschlichen Mikrobioms, das alle Mikroorganismen umfasst, die einen Menschen natürlicherweise besiedeln) von MS-Betroffenen von dem gesunder Menschen unterscheidet.

Kurzkettige Fettsäuren beeinflussen regulatorische T-Zellen

Den Forschungsarbeiten der Ruhr-Universität Bochum (RUB) unterliegt die Idee, dass das Darm-Mikrobiom ein eigenständiges endokrines Organ darstellt, das durch die Interaktion zwischen der Nahrung, den dortigen Bakterien, deren Stoffwechselprodukten und dem Immunsystem in der Darmwand auch weiter entfernt liegende anatomische Strukturen wie das Gehirn erreicht und somit direkt und indirekt beeinflussen kann.

Ihre vormals in der Zellkulturschale und im experimentellen Modell gezeigten Erkenntnisse konnten die Forschenden in ihrer aktuellen Arbeit auf 300 MS-Betroffene übertragen und dabei belegen, dass kurzkettige Fettsäuren wie die Propionsäure oder deren Salz Propionat zu einer vermehrten Entstehung und gesteigerten Funktion von regulatorischen Zellen des Immunsystems beigetragen haben.
Ihre Kernspin-Untersuchungen im Verlauf wiesen auch darauf hin, dass Propionsäure als Supplement möglicherweise neuroprotektive Wirkungen hat; eine entsprechende Zunahme an grauer Hirnsubstanz konnte beobachtet werden. Die Schubrate ließ sich dadurch deutlich senken und das Risiko einer Behinderungszunahme reduzieren, so die RUB anlässlich der Veröffentlichung ihrer Studie.

Antientzündliche Wirkung

Kurzkettige Fettsäuren werden von Darmbakterien im Dickdarm aus den Zellwänden langer Pflanzenfasern abgespaltet, dienen als Energieträger und als Substrat für Darmepithelien und andere Zellen und haben einen regulierenden Einfluss auf die Entzündungsbereitschaft des Darms und des gesamten Organismus. Bei MS-Betroffenen lässt sich allerdings besonders in der Frühphase der Erkrankung nach dem ersten Schub (hier in der Studie durch Untersuchung von Serum und Stuhl) ein fehlbesiedeltes Darmmikrobiom und gleichzeitig ein Propionsäuremangel feststellen, was die Forschenden in Kooperation mit dem Max-Delbrück-Centrum Berlin und den Ernährungswissenschaften der Universität Halle-Wittenberg erarbeiten konnten. Hier sind offensichtlich ganze Netzwerke an Bakterienfamilien vor allem in ihrer Quantität verändert, die u. a. für die Produktion kurzkettiger Fettsäuren (wie Propionsäure, Essigsäure und Buttersäure) verantwortlich sind.

Im Rahmen ihrer Wirksamkeitsstudie verabreichten sie therapienaiven sowie mit einer Immuntherapie behandelten MS-Betroffenen zweimal täglich 500 mg Propionsäure. Bereits zwei Wochen nach der Einnahme wurde unabhängig von der MS-Medikation ein Anstieg von funktionell kompetenten regulatorischen T-Zellen (Treg) beobachtet, während gleichzeitig die entzündungsfördernden Th1- und Th17-Zellen signifikant abnahmen. Eine veränderte Funktion der Bakterien im Darm als Folge der Supplementierung spielte dabei die entscheidende Rolle bei der Entstehung der regulatorischen T-Zellen.

Eine langfristige Gabe von Propionsäure, so das Fazit der Autor*innen, wirkt sich demnach positiv auf den Behinderungsgrad, die Schubrate, das Gehirnvolumen sowie die Zusammensetzung des Mikrobioms aus; Fehlbesiedelungen des Darms lassen sich dadurch zu einem messbaren Teil beheben und positive immunmodulatorische Effekte auslösen.

Der Darm als Ziel therapeutischer Ansätze in der Zukunft

Mit einer regelmäßigen Gabe lassen sich Darmfunktion und Fatigue-Symptomatik recht zügig und neuronale Beeinträchtigungen bereits nach mehreren Monaten bessern. Die Anwendung lohne sich auch noch in späteren Phasen der Erkrankung, so Univ.-Prof. Dr. med. Aiden Haghikia, Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Magdeburg, der die Auswirkungen von Ernährung und Mikrobiom des Darms auf das Immunsystem und das chronische Entzündungsgeschehen bei MS bereits seit Jahren erforscht. Da die aktuellen Studien noch nicht die Vorgaben für eine Zulassung erfüllen, empfiehlt er die Gabe der Propionsäure im Moment nur zusätzlich zu einer bestehenden MS-Medikation. Nebenwirkungen wurden zwar bisher nicht beobachtet, etwa jeder Dritte spräche offensichtlich aber nicht auf die Behandlung an.

Die kurzkettigen Fettsäuren stellen nur einen Bruchteil der Stoffwechselprodukte von Darmbakterien dar, und es ist noch weitgehend unbekannt, wie ein komplettes Mikrobiom funktioniert. Im Idealfall ist die Symbiose aus Individuum und dessen Mikrobiom perfekt aufeinander abgestimmt; ob es aber eine bestimmte Zusammensetzung innerhalb eines Organismus geben kann oder sollte, bzw. welche Veränderungen etwa die dauerhafte Gabe einer Bakterienspezies auf regulatorische Prozesse im System hat, ist auch deshalb schwierig zu bestimmen, weil Mikrobiome sehr variabel und individuenspezifisch sind. Weitere Forschung ist also nötig, um diese Prozesse besser zu verstehen und Einflussfaktoren umfassend zu benennen.

Quellen