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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Lebensqualität in der Medizin - Lässt sich ein gutes Leben messen?

Red., Blickpunkt-Ausgabe 03/2022

In Medizin, Forschung und Gesundheitssystem nimmt das Konzept der Lebensqualität einen immer größeren Stellenwert ein. Neben die überwiegend an wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und ökonomischen Aspekten ausgerichteten Bewertungskriterien vom Nutzen medizinischer Behandlungsmaßnahmen trat über die Jahre die Perspektive der Betroffenen immer stärker in den Vordergrund. Inwieweit ist es jedoch möglich, diese doch sehr subjektiven Dimensionen sichtbar und vergleichbar zu machen?

Was ist eigentlich Lebensqualität?

Die allgemeine oder globale Lebensqualität (Quality of Life, QOL) beschreibt vereinfacht die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, ist also eine rein subjektive Wahrnehmung des eigenen Befindens in Bezug auf die (individuell erwünschten) Umstände und Bedingungen, die das Leben ausmachen oder ausmachen sollen. Je mehr man sich diesen erwünschten Umständen annähern kann, desto größer wird die eigene Zufriedenheit, das subjektive Wohlbefinden. Relevante Faktoren sind dabei etwa der materielle Lebensstandard oder der immaterielle Wohlstand. Zu letzterem zählt neben der Bildung, dem sozialen Status, den Berufswünschen, der Möglichkeit, das Leben frei gestalten zu können, die erfahrene Unterstützung durch die Gesellschaft oder dem Zugang zu einer intakten Natur auch die körperliche und seelische Gesundheit.
Ob Lebensqualität als solche messbar ist und wie, ist in diesem interdisziplinären Forschungsfeld nach wie vor umstritten – in der Soziologie, Philosophie, Psychologie, Medizin, Theologie, Ökonomie oder Politologie nähert man sich ihr entsprechend auf unterschiedliche Art und Weise und versucht, über Indikatoren in den diversen Teilbereichen auf den Gesamtzusammenhang zu schließen oder ihn besser zu verstehen.

Lebensqualität im medizinischen Kontext

Die auf die Gesundheit bezogene Lebensqualität (Health Related Quality of Life, HRQOL) bzw. die erkrankungsbezogene Lebensqualität (Disease Related Specific Quality of Life, DRQOL) ist zu einem wichtigen Kriterium für die Bewertung von Erfolgen oder Erfolgsaussichten in der Behandlung gerade auch von chronischen Krankheiten geworden. Hatte sich die klinische Forschung zur Bewertung der Zweckmäßigkeit einer Maßnahme oder eines Arzneimittels in der ersten Hälfte des 20. Jh. dazu noch an körperlichen Befunden und quantitativ, objektiv messbaren Endpunkten orientiert, wurden ab der zweiten Hälfte dazu verstärkt auch die Einschätzungen der Patient*innen in den Blick genommen. Maßgeblich für diese Umorientierung in der Medizin war die von der WHO verkündete umfassende Definition von Gesundheit (die neben rein körperlichen auch psychische oder soziale Aspekte einschließt), die Veränderung des Erkrankungsspektrums (also vermehrt dauerhaft zu therapierende chronische Erkrankungen) bzw. eine zunehmende Skepsis gegenüber vorherrschenden Bewertungskriterien oder -hierarchien (etwa eine längere Lebenszeit ohne die Berücksichtigung der möglichen Begleitbedingungen wie starke Schmerzen oder eine eingeschränkte Selbstautonomie).
Entsprechend konzentriert sich diese auf Gesundheit bezogene Lebensqualität auf die Betrachtung persönlicher „Funktionsfähigkeit“ bzw. das subjektive Wohlbefinden in verschiedenen, von der Person als wichtig eingestuften Lebensbereichen oder auch „Teilen“ der Lebensqualität (etwa die „5 Dimensionen von Wohlbefinden“, körperlich, emotional, mental, sozial, verhaltensbezogen) sowohl durch die Erkrankung an sich als auch während oder nach einer Behandlung. Ein seit den 1990er Jahren stark angestiegenes Publikationsaufkommen in der medizinischen und epidemiologischen Forschung sowie das Streben nach einer besseren Lebensqualität als eigenständiges Gesundheitsziel in der Versorgungspraxis verweisen auf das Potenzial, das dem Konzept mittlerweile zugeschrieben wird.
Dies gilt insbesondere für chronische Erkrankungen, bei denen eine vollständige Heilung (noch nicht) möglich ist und die Behandlung notwendigerweise eine dauerhaft positive Wirkung auf das subjektive Befinden und die Lebensqualität der Betroffenen haben muss. Mit diesem Hintergrund sollte man auch weitere Ziele der Lebensqualitätserfassung wie einen Informationsgewinn zur Lebenssituation von Patient*innen und den Einfluss medizinischer Aspekte auf die Lebensqualität im Gesamten, etwa zur Entwicklung von Präventionsmaßnahmen, für mögliche Kosten-Nutzen-Analysen oder der Optimierung von Versorgungspfaden begreifen.
Die Berücksichtigung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität als patientenrelevanter Endpunkt (also als Messkriterium mit der Frage: Fühlt sich der/die Patient*in besser?) ist in Deutschland seit 2006 gesetzlich verankert (§ 35 Abs. 1b SGB V). Diese wird neben den Kategorien Mortalität (Verlängert die Therapie das Überleben?), Morbidität (Verringert die Therapie Beschwerden?) und Nebenwirkungen (Welche unerwünschten Effekte hat die Therapie?) vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IGWiG) geprüft, das für das Bundesgesundheitsministerium (BMG) und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) (Zusatz-)Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen für Betroffene mittels Dossiers bewertet, die die Grundlage für die Erstattung von Leistungen durch die Krankenkassen stellen.

Messverfahren

Wie misst man nun die Lebensqualität im Rahmen von medizinischen Interventionen? Um ein „objektives Maß des subjektiven Befindens“ zu finden, werden neben biomedizinischen Parametern subjektive Einschätzungen der Betroffenen mittels Befragung gesammelt, die physische (u. a. Häufigkeit und Intensität körperlicher Symptome), psychische (u.a. Angst, Depression, Zuversicht, Lebenswille) und soziale (u. a. Familienleben, soziale Kontakte, Sexualität) Aspekte berücksichtigen. Aus den verschiedenen Bereichen werden also Fragen oder gesundheitsrelevante Szenarien formuliert und eine Punkte-Bewertungsskala für die Antworten vorgegeben, aus denen sich dann der Grad der Qualität errechnen lässt.
Hierbei wird unterschieden in nutzentheoretische und psychometrische Verfahren. Erstere ermitteln Indexwerte und sollen gesundheitsökonomischen Kosten-Nutzen-Berechnungen dienen (sogenannte Utility-Messungen, etwa mit Standard-Gamble-Verfahren oder Time-Trade-Off-Verfahren; durch die Verknüpfungen mit Angaben zur Lebenszeit entstehen sogenannte „qualitätskorrigierte Lebensjahre“, QALYs), während die verstärkt eingesetzten letzteren eher Profile erarbeiten. Um immer genauer auf Eigenheiten spezifischer Patient*innengruppen etwa im Rahmen von Studien eingehen zu können, werden bestehende Instrumente beständig weiterentwickelt oder um neue Formen ergänzt.

Standardisierte Fragebögen lassen sich in generische (etwa SF-36, WHO-QOL, EUROQOL, PLC), krankheitsvergleichende und krankheitsspezifische Befragungsinstrumente (etwa DISABKIDS, FACT, CBS) einteilen. Während erstere in allen Bevölkerungsgruppen auch vergleichend Anwendung finden können, sind letztere auf spezifische Krankheitsbilder ausgerichtet. Es gibt

  • Verfahren nur für Kinder und Jugendliche oder Erwachsene,
  • Verfahren mit einer unterschiedlichen Befragungsart (Selbstbeurteilung versus Fremdbeurteilung, Selbstbeantwortung versus geführtes Interview) sowie
  • Verfahren, die sich durch die Art der Resultate (Profile versus Kennzahlen) und deren Nutzbarmachung unterscheiden.
    Neuere Entwicklungen in diesem Feld sind etwa
  • das computergestützte adaptive Testen (CAT) mit individuell ausgewählten und minimierten Beantwortungsanforderungen,
  • die Item-Response-Theorie (IRT) mit maßgeschneiderten Fragebögen oder
  • Itembanken (PROMIS) zur Auswahl der besten Elemente in bereits vorhandenen Fragebögen.

In der klinischen Forschung ist der Patient-reported-Outcome (PRO) im Rahmen der psychometrischen Frageinstrumente (die Patient-Reported-Outcome-Measures, PROMs) das Mittel der Wahl – Ergebnisse liefern also nur die Betroffenen selbst.
Für die MS gibt es dazu spezifische Verfahren, wie etwa das Multiple Sclerosis Quality of Life (MSQOL-54), ein Instrument, das sowohl generische also auch krankheitsspezifische Elemente kombiniert, das Functional Assessment of MS (FAMS), Hamburg Quality of Life Assessment in MS (HAQUAMS) oder das Multiple Sclerosis Quality of Life Inventory (MSQLI), das in zehn MS-relevanten Untereinheiten spezifische Symptome (etwa Fatigue, Schmerz, Blasen- und Sexualfunktion, Depression oder Seheinschränkungen) betrachtet. Auch patientengenerierte Verfahren, in denen die Betroffenen noch mehr Möglichkeiten bei der Entwicklung/Auswahl der ihnen wichtigen Bereiche haben, wie Patient Generated Index (PGI) und Schedule for the Evolution of Individual Quality of Life Direct Weighting (SEIQoL-DW), werden je nach Bedarf angewendet.

Lebensqualität bei MS

Studien aus Europa und Nordamerika zeigen, dass MS-Betroffene sowohl im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als auch im Vergleich zu Personen mit anderen chronischen Erkrankungen über eine geringere Lebensqualität berichten. Entgegen des in den letzten zwanzig Jahren stark gestiegenen Interesses am Thema und der Vielfalt der Bewertungsmöglichkeiten hat eine im Jahr 2019 durchgeführte Analyse zulassungsrelevanter Phase-III-Studien zu Arzneimitteln für die verlaufsmodifizierende bzw. immunmodulierende Behandlung der MS allerdings ergeben, dass die (gesundheitsbezogene) Lebensqualität in der Regel gar nicht betrachtet wurde, sondern nach wie vor verstärkt auf biologische Indikatoren (sogenannte Surrogat-Endpunkte) und bildgebende Verfahren mit unklarer Bedeutung für die Krankheitsschwere geachtet wurde. Ein- bis zweijährige Zulassungsstudien mit sehr speziellen Studienpopulationen ohne eine weitere Ermittlung der sich im Verlauf ergebenden Auswirkungen für Betroffene können gerade bei notwendig langer Behandlungsdauer und Medikamenten mit starken Nebenwirkungen aber kein vollständiges Bild ergeben und sind unter Einbeziehung eines PRO vielleicht gar nicht mehr zulassungsfähig.

Andere Untersuchungen belegen, dass Ärzt*innen nach wie vor zu behandelnde körperliche Einschränkungen und wahrscheinlich erwartbare Verschlechterungen in diesem Bereich in den Vordergrund stellen und dazu neigen, mögliche Verbesserungen der Lebensqualität durch bestimmte Maßnahmen zu überschätzen, während MS-Betroffene ihre Lebensqualität eher etwa durch emotionale Probleme, kognitive Schwierigkeiten, eine Beschneidung der Selbstautonomie oder einem Gefühl der Machtlosigkeit beeinträchtigt sehen. Gerade auch bei neurologischen Erkrankungen, die mit einer stark schwankenden Selbsteinschätzung einhergehen können, speist sich die Definition „patientenrelevanter“ Endpunkte sowie deren Gewichtung aktuell aber noch zu wenig aus dieser Perspektive.
Eine neuere Studie hat überdies gezeigt, dass eher „untypische“ Aspekte wie der Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung und Lebenslust jeweils signifikant zur Lebensqualität von MS-Betroffenen beitragen können. So mag es also in jedem Fall sinnvoll sein, wenn Patient*innen die Möglichkeit haben, die ihnen wichtigen Bereiche bevorzugt selbst zu definieren oder auszuwählen. Zur Ermittlung relevanter Endpunkte auf Institutionsebene könnten auch Patientenvertreter*innen eingebunden werden.

Fragen und Potenzial

Unbestritten liegt die große Schwierigkeit darin, für ein subjektives Empfinden im Rahmen einer Bewertung relevante Endpunkte zu finden, die zuverlässig, statistisch validierbar und möglichst änderungssensitiv für Unterschiede im Zeitverlauf sind und sich direkt auf den Einfluss der Krankheit oder die medizinische Maßnahme zurückführen lassen. Das ist insbesondere dann wichtig, wenn sich eine verbesserte Lebensqualität nicht nur auf die Reduktion von Krankheitsaktivität beziehen soll, sondern auch Einschränkungen sichtbar macht, die ursächlich durch eine Therapie entstehen.
Trotz der wahrgenommenen Schwierigkeiten ist man sich darüber einig, dass ein ausreichender Anteil an bisher vorhandenen Kategorien von allen Individuen gleich verstanden wird, eine empirische Messung und quantitative Erfassung der gesundheits- oder erkrankungsbezogenen Lebensqualität in der Medizin also hilfreich und gerechtfertigt ist. Als Vorteil wird etwa angebracht, dass die Nutzung von ermittelten Normwerten eine einfachere Kommunikation zwischen Ärzt*in und Patient*in erlaubt und/oder die Möglichkeit für Kostenträger bietet, durch allgemeingültige Messungen in eine standardisierte Therapie überzugehen, die begrenzte Ressourcen entsprechend verteilen hilft. Erkannt hat man allerdings auch, dass für Behandelnde eine Notwendigkeit besteht, sehr viel ausführlicher darüber aufzuklären, inwieweit mögliche Maßnahmen auf individuelle Vorstellungen von Lebensqualität einwirken, welche Optionen einen individuellen Nutzen versprechen könnten, aber auch, mit welchen Risiken diese behaftet sind.
In jedem Fall ist eine individuelle Priorisierung der für Patient*innen wichtigen Dimensionen und Gewichtungen unerlässlich, dürfen ermittelte Werte nicht als statisch angesehen werden und könnte die erweiterte Erfassung verschiedener Aspekte von Lebensqualität dann auch als Chance begriffen werden, Bedarfe von Betroffenen besser zu verstehen, um ganzheitlich positiv auf den Krankheitsverlauf einzuwirken. Letztlich lässt sich über eine subjektiv erlebte verbesserte Lebensqualität indirekt auch auf somatische Verläufe Einfluss nehmen, wie sich etwa in Forschungen aus dem Bereich der Psychoneuroimmunologie gezeigt hat.
Dahingehend kann Versorgung optimiert, eine bessere Kommunikation auf Augenhöhe ermöglicht, die Behandlung patientenorientiert und mit möglichst geringen nachteiligen Auswirkungen gestaltet und die Zufriedenheit der Betroffenen letztlich verbessert werden.

Quellen