Lenken die Nervenhüllen die Kommunikation der Hirnzellen?
Neue amerikanische Studie zeigt vielfältige Funktionen von Myelin auf
Blickpunkt-Ausgabe 2/2014
Eine wichtige Erkenntnis für die Erforschung schwerer Erkrankungen wie Multipler Sklerose kommt von Forschern der Harvard University: Demnach schützt Myelin nicht nur die Nervenbahnen im Gehirn, sondern ist vermutlich auch an der Kommunikation und Vernetzung der Hirnzellen beteiligt.
Die schützenden Myelinhüllen der Nervenzellen des Gehirns haben weit mehr Aufgaben als bislang bekannt. In der Großhirnrinde von Säugetieren dienen sie nicht nur der Isolierung der Nervenbahnen, sondern offenbar auch der Vernetzung. Das ergab eine Studie, in der Forscher spezielle Nervenzellen, die sogenannten Pyramidenzellen, der sechs Schichten der Hinrinde analysierten. Wie das Team um Paola Arlotta von der amerikanischen Harvard University in Cambridge im Magazin "Science" berichtet, variieren Struktur und Abstand der Myelinhüllen entlang verschiedener Nervenfasern überraschend stark. Entgegen der bisherigen Annahme sind demnach ausgedehnte Abschnitte nicht umhüllt.
Myelin wird im Zentralen Nervensystem (ZNS) von speziellen Zellen um die schlauchartigen Nervenzellfortsätze - die Axone - gebildet. Schäden an dieser Umhüllung tragen zu einer Reihe von Erkrankungen bei, wie etwa Multiple Sklerose. Bisher gingen Forscher davon aus, Myelin diene der Isolierung und sorge dafür, dass Reize schnell entlang der Axone weitergeleitet werden. Zudem dachte man, die Axone seien relativ einheitlich ummantelt. Dem widersprechen die Erkenntnisse, die die US-Forscher an Mäusen gewannen.
Mit Schichtaufnahmen per Elektronenmikroskopie rekonstruierten sie den Aufbau der Pyramidenzellen. Die Aufnahmen zeigten, dass die Myelinisierung der Axone in den verschiedenen Schichten stark schwankt. Auch unter benachbarten Zellen der gleichen Schicht fanden die Forscher deutliche Unterschiede. Zudem hing die Ausprägung der Myelinschicht - entgegen der bisherigen Annahme - nicht von der Größe der Axone ab. Überraschend war auch die Ausdehnung der myelinfreien Abschnitte.
Mehr als Isolierband für das Hirn
Zwar bedürfe die Rolle der unterschiedlichen Myelinprofile noch der Klärung, schreiben die Forscher. Vermutlich ermöglichen sie aber die Vielseitigkeit der Kommunikation zwischen den Nervenzellen.
In einem Kommentar betont Douglas Fields von den National Institutes of Health (NIH) in Bethesda, US-Bundesstaat Maryland, die Rolle der Myelinscheide reiche weit über die Isolierung hinaus. Die myelinfreien Abschnitte könnten etwa die Vernetzung der Zellen beeinflussen. So könnten solche freien Stellen die Ausbildung von Kontakten zu anderen Nervenzellen unterstützen oder zur Freisetzung von Botenstoffen dienen. All dies widerspreche der "Neuronendoktrin", derzufolge Nervenzellen Informationen nur an Synapsen aufnehmen und auch wieder abgeben.
"Myelin organisiert die eigentliche Struktur der Vernetzung, ermöglicht Funktionen des Nervensystems und reguliert das Timing des Informationsflusses durch einzelne Schaltkreise", betont er. "Es ist sicher an der Zeit, die abgenutzte Metapher von Myelin als Isolierung abzulegen und die faszinierendere Realität zu würdigen."
Quelle: Magazin Science, Spiegel online - 22. April 2014