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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Logopädie bei MS - Wie Schluck- und Sprechprobleme gelindert werden können

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

Richtiges Atmen, Schlucken und Sprechen – das sind wesentliche Funktionen, die im Alltag ein selbstständiges Handeln ermöglichen. Bei mehr als der Hälfte der MS-Betroffenen sind diese Funktionen allerdings in unterschiedlichem Ausmaß eingeschränkt. Dies gilt insbesondere für das Schlucken, oft in Kombination mit der Sprache. Durch eine logopädische Behandlung können diese Fähigkeiten wiedererlangt bzw. Beeinträchtigungen kompensiert werden.

Was ist Logopädie?

Die Logopädie (Sprecherziehung, gr. logos, das Wort, paideuein, erziehen) kümmert sich als medizinische Fachdisziplin um die Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von organisch oder funktionell bedingten Sprach-, Schluck- oder Hörbeeinträchtigungen. Erstmals wurde der Begriff im Jahr 1924 vom österreichischen Facharzt Emil Fröschels in den medizinischen Sprachgebrauch eingeführt.
Logopäd*innen stellen in enger Abstimmung mit behandelnden Ärzt*innen und unter Berücksichtigung eines ärztlichen Befundes eine Diagnose und entwickeln medikamentenlose Therapiekonzepte in Zusammenarbeit mit Betroffenen und Angehörigen so, dass sie zu Alltag und Lebenssituation der Betroffenen passen. Aktuell arbeiten in Deutschland etwa 10,000 ausgebildete Logopäd*innen angestellt oder selbstständig.

Schluckstörungen bei MS

Ursachen und Symptome

Bei der sogenannten Dysphagie kommt es durch die Schädigung der für das Schlucken zuständigen Nerven im Gehirn und Rückenmark zu Beeinträchtigungen bei den mehr als 25 für den Ablauf notwendigen Muskeln (Gaumensegel, Kehlkopfdeckel, Zugang zu Atemwegen, Lähmung der Muskulatur in Gesicht und Kiefer, auch Facialisparesen), die sich durch Symptome wie

  • Hustenreiz,
  • Räusperzwang,
  • Würgen,
  • vermehrter Speichelfluss,
  • das Gefühl, als ob einem das Essen im Hals stecken bleibt,
  • unbeabsichtigtes Einatmen von Nahrung oder Flüssigkeiten (mit der Gefahr einer Lungenentzündung)
    zeigen können.

Einzelne oder mehrere Phasen des Schluckablaufs sind dabei beeinträchtigt, der Kaumechanismus oder der Schluckreflex kann aussetzen.

Abgesehen von der körperlichen Einschränkung haben diese Störungen auch Auswirkungen auf die Lebensqualität: Nicht mehr ungezwungen gemeinsam essen oder trinken zu können, oder sehr lange für eine Mahlzeit zu brauchen, kann das soziale Leben stark einschränken. Frust, Entmutigung oder Ängste (auch die Angst zu ersticken) nehmen die Freude und den Genuss am Essen und machen es zu einer ungeliebten Notwendigkeit.

Diagnose und Therapie

Schluckstörungen werden u. a. durch folgende Möglichkeiten einzeln therapiert:

  • Funktionsstraining von Zunge und Lippen,
  • Stimulation von Mund und Zunge,
  • Bewegungen von Rachen- und Kehlkopfmuskeln,
  • Kältereize zur Auslösung des Schluckreflexes,
  • Stimm-, Sprech- und Atemübungen,
  • Einüben von Verhaltensmaßnahmen wie die förderliche Körper- und Kopfhaltung, gezieltes Schlucken, langsames und bewusstes Essen, die Verwendung von geeigneten Ess- oder Trinkhilfen oder die Andickung von Getränken mit entsprechenden Pulvern.

Sprechstörungen bei MS

Ursachen und Symptome

Auch Dysarthrie (die Artikulation betreffend) oder Dysarthrophonie (die Stimmhöhe oder Lautstärke betreffend) genannt, kommen MS-bedingte Sprechstörungen durch Koordinationsstörungen der beteiligten Muskeln infolge geschädigter Nerven im ZNS zustande. Äußern können sie sich durch eine anormale Stimmlautstärke, Tonhöhe oder Sprechgeschwindigkeit sowie die Schwierigkeit, Sprechlaute zu bilden oder Worte richtig zu betonen. Das manifestiert sich etwa in

  • einer veränderten Atmung (kurzatmig, flach, schnappend, ungleichmäßig),
  • Atemgeräuschen,
  • einem veränderten Stimmklang (heiser, rau, gepresst, zittrig, zu laut oder leise),
  • einer undeutlichen, „verwaschenen“ Aussprache,
  • einem nasalen Klang,
  • abgehacktem, mit Pausen durchsetztem oder monotonem Sprechen,
  • dem Sprechen bei der Einatmung oder dem Ende der Ausatmung oder
  • der Schwierigkeit, Worte zu finden.

Die Intensität nimmt meist in den späteren Phasen der MS zu und kann von einer beeinträchtigten Kontrolle der Sprechbewegungen mit leichten Auswirkungen bis zu einer völligen Unverständlichkeit für andere führen. Man unterscheidet zwischen schlaffen (hypoton), unkoordinierten (ataktisch) oder durch unkontrollierte Bewegungen (dyskinetisch) gestörte Muskeln, es gibt dabei auch Mischformen. Ein gänzlicher Sprachverlust (Aphasie) ist bei MS allerdings selten.

Durch Sprechstörungen kann die Kommunikation mit anderen schnell anstrengend und zur Herausforderung werden. Nicht wenige Betroffene ziehen sich in der Folge zurück und schränken ihre Sozialkontakte ein.

Diagnose und Therapie

Um herauszufinden, in welchen Teilbereichen die Störungen auftreten, ist eine gründliche Untersuchung notwendig. Tests wie Frenchay (untersucht Reflexe, Respiration, Lippenbewegungen, Kiefer, Gaumensegel, Stimme, Zunge oder Verständlichkeit) oder eine Verlaufsdiagnostik sind hier gängig.
Die Einzeltherapie konzentriert sich zunächst auf die Wahrnehmungsschulung, d. h., Betroffene müssen die Veränderungen wahrnehmen lernen. Es folgt ein Training von Verhaltensänderungen, etwa durch Übungen

  • zur Mundmotorik (Beweglichkeit, Muskelkräftigung),
  • zur Lautbildung (Lautanbahnung, Laute im Kontext),
  • zur Veränderung der Körperhaltung (ausgewogene Körperspannung),
  • zur Atmung (Wahrnehmung, Vertiefung, Muskelkräftigung),
  • zur Stimmgebung (Stimmkräftigung und -lockerung),
  • zur Steuerung der Sprechgeschwindigkeit (etwa unter Zuhilfenahme eines Metronoms oder Sprachverzögerers, der zeitversetzt die eigene Sprache wiedergibt und zum kontrollierten Sprechen anhält),
  • zur Verwendung kurzer Sätze,
  • zur Entspannung, da Stress und Anspannung die Störungen auch verstärken können.

In den Fällen, in denen Sprechen nicht (mehr) möglich ist, kann sich das Training auf die Benutzung von Hilfsmitteln zur Verständigung (etwa Sprachausgabeprogramme, Kommunikationshilfen mit Bildern, Apps oder Buchstabentafeln) konzentrieren.

Beratung und Unterstützung durch Angehörige

Logopäd*innen bieten neben Diagnose und Therapie auch immer eine Beratung zu Ursachen und Auswirkungen an und geben, wo möglich, auch Anleitungen zum Eigentraining. Die Sichtweise der und die Unterstützung durch Angehörige ist von großer Wichtigkeit und wird in Diagnosestellung und Therapie eingebunden. Hier geht es insbesondere um Klärung der Ausgangslage und Vermeidung der Auslöser (etwa im Rahmen der Schluckdiagnostik), die Unterstützung von Betroffenen bei der Umsetzung des Gelernten im Alltag, eine verbesserte Kommunikationssituation zwischen Angehörigen und Betroffenen (Blickkontakt, Gestik, Mimik, Zeit und Geduld) oder eine Aufklärungsarbeit im Bekanntenkreis.

Prognose, Kosten und Dauer

Ausprägungen, die Häufigkeit sowie der Verlauf von Sprech- oder Schluckstörungen ist von Person zu Person unterschiedlich. Für alle bedeutet es aber, dass funktionelle Aktivitäten des Alltags, soziale Teilhabe oder die Fortsetzung der Berufstätigkeit infrage gestellt werden. Erste Anzeichen sollten also nicht ignoriert, sondern die Ursachen baldmöglichst abgeklärt werden. Zur Therapie sollte auch gehören, das Selbstwertgefühl zu steigern und zu lernen, sich auf seine Stärken anstatt auf die Beeinträchtigungen zu konzentrieren.
Die Logopädie ist als Heilmittel Bestandteil der medizinischen Grundversorgung. Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen die Therapie auf Verordnung der Haus- oder Fachärzt*innen, pro Verordnung ist ein Eigenanteil von 10 Prozent der Kosten plus 10 Euro zu leisten. Es besteht auch die Möglichkeit eines Hausbesuchs, wenn solcher aus medizinischen Gründen zwingend notwendig ist. Bei privat versicherten Patient*innen übernehmen die privaten Krankenkassen die Kosten in unterschiedlichem Umfang.
Da sich Erfolge oft erst nach Wochen zeigen, sind Geduld und Eigeninitiative wichtige Aspekte für eine aussichtsreiche Therapie. Fast immer gelingt es so, die Beeinträchtigungen zu beheben oder zumindest zu kompensieren.

Weitere Informationen und Therapiesuche

  • Deutscher Bundesverband für Logopädie e. V., im Internet abrufbar unter www.dbl-ev.de/service/logopaedensuche.
  • Jacobs-Kersten, C. 2013. Besser sprechen und schlucken bei Multipler Sklerose. Übungen für zu Hause. Senden: Deutscher Medizin Verlag.
  • Ziegler, W., Vogel, M. 2010. Dysarthrie, verstehen – untersuchen – behandeln. Stuttgart: Georg Thieme Verlag.