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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Moderne Medizintechnik und MS, Teil 2: Vom „Außenskelett“ (Exoskelett) zum „Roboteranzug“ (Exosuit)

Tom Foell, Blickpunkt-Ausgabe 02/2021

Eine Serie über neue Potenziale für eine individuelle und zeitgemäße Behandlung

Exoskelett versus Exosuit

Nach der REHAB in Karlsruhe konnte ich auf der RehaCare-Messe 2017 in Düsseldorf bereits zum zweiten Mal medizinische Exoskelette bewundern. Es handelt sich dabei um eine äußere Stützstruktur für den Körper bzw. vom menschlichen Körper getragene mechanische Strukturen, die relativ leicht anzulegen und wieder zu entfernen sind. Auf der RehaCare hatten die Veranstalter auch einen Exoskelett-Wettbewerb als Marathon veranstaltet und dafür einen Parkour zusammengestellt, den Querschnittgelähmte in Exoskeletten bewältigen mussten. Ich empfand diese Riesengestelle und deren Einsatz durch Querschnittgelähmte als ein neues Wunder der Technik, obwohl sie für mich persönlich nicht so relevant sind. Ich fand es toll, dass Menschen, die in ihrer Bewegung stark eingeschränkt sind, mithilfe der (Medizin-)Technik auf einmal wieder aufrecht stehen und laufen können. Die Gefühle der Betroffenen kann ich zumindest ansatzweise nachempfinden – brauche ich doch nach mehr als 24 Jahren MS zwischenzeitlich auch immer wieder mal einen Rollstuhl. Bis auf letztes Jahr nutze ich den zwar nur für längere Strecken oder an schlechten Tagen, ich weiß aber genau, wie es sich anfühlt, wenn man sich z. B. in Gesellschaft von Stehenden und Laufenden nicht mehr auf Augenhöhe bewegen kann; wenn nicht mit dir, sondern über dich gesprochen wird oder wenn du ignoriert wirst und einfach nur „daneben stehst“. Wenn man in der Mobilität so stark eingeschränkt ist, dass das Wandern nicht mehr klappt oder bereits einfaches Spazieren eine schwere Aufgabe darstellt, bei der man schnell ans Ende seiner Kräfte kommt und einfach nicht mehr weiter kann.

Ein Exoskelett erscheint mir allerdings für meine derzeitigen Bedarfe deutlich überdimensioniert. Deshalb war ich sehr positiv überrascht, als ich an der Seite des Marathon-Geländes ein sehr leichtes Konstrukt entdeckte – eine Art leichter Anzug, ein Exosuit, genauer gesagt, den Myosuit. Im Gespräch mit einem der beiden Erfinder, Kai Schmidt, habe ich dann erfahren, dass ihr Start-up-Unternehmen MyoSwiss AG die Vision verfolgt, mobilitätseingeschränkte Menschen, die aber noch laufen können, mit einem innovativen Anzug zu unterstützen und ihnen damit eine Hilfe im Alltag zu bieten.

Der Myosuit: Von der Entwicklung zur Markteinführung

Das Produkt stand zu dieser Zeit noch kurz vor der ersten Testphase, und ich habe mich gleich als Tester zur Verfügung gestellt. Im Sommer 2018 war es dann soweit, und ich durfte den Myosuit im Entwicklungszentrum in Zürich ausprobieren. Damals war ich schon sehr begeistert, musste allerdings feststellen, dass er noch nicht wirklich alltagstauglich war. Das deckte sich auch mit den Aussagen des Teams um die beiden Gründer, die mir bereits vorab mitgeteilt hatten, dass bis zum ersten markttauglichen Produkt für den Einsatz in Kliniken noch weitere ein bis zwei Jahre nötig sein würden.
Und so war es dann auch. Anfang 2020 ließ Kai Schmidt mich wissen, dass die Markteinführung bevorstand und ich jetzt ein richtiges Produkt testen könne. Das hat mich natürlich interessiert. Dieses Mal bin ich nicht wieder in die Schweiz, sondern nach Köln in das Neurologische interdisziplinäre Behandlungszentrum NiB gefahren, wo ein Myosuit in der Therapie eingesetzt wird. Dort wurde ich während des Tests von dem Physiotherapeuten Julian Breuer betreut.
Ich durfte feststellen, dass sich der Myosuit nicht nur seitens der Hardware enorm verbessert hat und weiter entwickelt wurde, sondern vor allem in der Software einen Riesensprung nach vorne geschafft hat. Da dieser Test aber schon nach der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 stattfand, ließ ich die von den Physiotherapeuten empfohlenen weiteren Tests erst einmal ruhen.

In der Hoffnung, in diesem Sommer auch wieder intensiver mit Tests fortfahren und vielleicht sogar eine richtige Behandlung damit starten zu können, habe ich mich Anfang des Jahres 2021 wieder bei Kai Schmidt und dem Physiotherapeut in Köln gemeldet. Aufgrund der aktuellen Corona-Situation haben wir einen möglichen Test auf den Sommer terminiert.

In der Zwischenzeit hat mir Julian Breuer, Physiotherapeut im NiB Köln, in einem Interview die Funktionsweise des Myosuit erklärt und von seinen Erkenntnissen aus der über einjährigen Testphase mit dem Myosuit berichtet.

Seit wann setzt ihr den Myosuit ein und für wen ist er geeignet?

Julian Breuer: Wir setzen den Myosuit seit Januar 2020 ein. Zu Beginn war es gar nicht so einfach, herauszufinden, wem der Suit am besten hilft, und wir haben das zunächst mit unterschiedlichen Patientengruppen durchgespielt. Dabei konnten wir feststellen, dass es bei Patienten mit Muskeldegeneration sehr gut funktioniert. Das sind z. B. Patienten mit MS oder auch mit Muskeldystrophie. Eine Voraussetzung für die Nutzung ist allerdings eine bestehende Gehfähigkeit der Patienten, denn der Myosuit bringt niemanden aus dem Rollstuhl.

Wo bzw. wie hilft der Myosuit?

JB: Der Anzug wird zuerst angelegt – das dauert mit etwas Übung etwa fünf Minuten. Nach dem Anlegen ist er aber noch nicht aktiviert, und der Nutzer kann sich mit dem Anzug noch sehr frei bewegen, eben wie mit einem leichten Rucksack. Erst mit dem Einschalten der Software wird der Myosuit aktiv und bietet verschiedene Modi: Vorwärts laufen, Treppen auf- und absteigen sowie den Stand stabilisieren.
Mit einer manuellen Steuerung kann man einfach von einem zu einem anderen Modus wechseln und so z. B. vom Stand in den Vorwärtsgang oder den Treppen-Modus etc. gelangen.
In der Software wird für jeden Nutzer ein individuelles Profil angelegt. So lernt der Myosuit mit jedem Einsatz mehr über den Nutzer und dessen Schrittweite und Gangart und kann diesen mit der Zeit immer besser unterstützen.
Wir betreuen z. B. einen Priester mit MS, der den Myosuit unauffällig unter seiner Robe trägt und so im Stand auf der Kanzel selbst eine lange Predigt halten kann.
Wir lassen die Patienten nicht nur in den Innenräumen laufen, sondern gehen mit ihnen auch nach draußen. Selbst wandern ist mit dem Myosuit auch ohne barrierefreie Wege möglich, allerdings muss er aufgrund der Elektronik immer trocken bleiben. Zum Klettern an der Wand ist er dagegen nicht geeignet.

Was sagen MS-Betroffene zum Myosuit bzw. zur Therapie mit dem Anzug?

JB: Unsere MS-Patienten berichten, dass die Therapie ihnen gut hilft. Schwächere Muskelgruppen wie z. B. Fußheber oder Kniestrecker werden unterstützt, sodass sie länger laufen können. Aber auch unsere anderen Myosuit-Nutzer werten positiv, dass sie sich damit im Freien recht unauffällig bewegen können. Das sehe ich klar als einen Vorteil gegenüber einem klassischen Exoskelett an, mit dem man stärker auffällt. Mittlerweile nehmen Patienten weite Wege in Kauf, um diese Reha in Köln machen zu können.

Wie funktioniert eine solche Reha, was kostet sie und wer trägt die Kosten?

JB: Eine Reha mit dem Myosuit – z. B. für MS-Patienten – bieten wir im NiB ambulant und optimalerweise als Block-Intensiv-Wochen an. Das sind vier bis sechs Wochen mit drei bis sechs Therapie-Einheiten pro Woche. Das klappt gut, und wir sind bis Sommer ausgelastet. Die Patienten, die nicht in Köln leben, suchen sich dafür eine Übernachtungsmöglichkeit in der Nähe.
Der Myosuit ist ein neues Gerät und als solches noch nicht im Katalog der Krankenkassen enthalten. Wir können aber Teile über KG-ZNS-Rezepte abwickeln. Den Rest zahlt der Patient selbst. Eine Therapie-Stunde kostet bei uns ca. 70 Euro.

Wie bewertet der Physiotherapeut den Myosuit?

JB: Der Myosuit nimmt einem nichts weg, sondern bringt den Patienten in aktive Bewegung, bei der die Muskeln gefördert/aufgebaut werden. Das ist aus Therapeuten-Sicht sehr gut.

Was ist euer erstes Fazit?

JB: Im Vorher-Nachher-Vergleich sehen wir, dass die Patienten durch die Myosuit-Therapie länger und aktiver beweglich sind.

Wie lange hält der Akku etc.?

JB: Die Batterie reicht für ca. vier Stunden. Wer einen Ersatz-Akku mitnimmt, erhöht zwar das Gewicht, verlängert aber auch die Reichweite auf acht Stunden.
Das Gerät ist vornehmlich für die Behandlung mit Physiotherapeuten gedacht, laut Hersteller aber auch als Heimgerät geeignet.

Was ist in Zukunft vom Myosuit zu erwarten?

JB: Ich denke, das Material wird immer leichter und die Intelligenz in der Software – dem Gehirn –immer besser werden; dadurch wird die Bewegung immer perfekter. Ich rechne also mit immer mehr Einsatzmöglichkeiten.

Nach den für mich sehr wertvollen Einblicken in die Praxis der Myosuit-Therapie hatte ich noch ein paar Fragen zu Hintergründen und Zukunftsaussichten, die mir der Erfinder des Myosuit und Mitgründer von MyoSwiss, Dr. Kai Schmidt, im Interview beantwortete.

Was unterscheidet den Myosuit von anderen Exoskeletten?

Kai Schmidt: Der Myosuit ist ein leichtes, flexibles und erschwingliches Exoskelett. Das macht den Myosuit so besonders. Exoskelette sind normalerweise schwer, starr und relativ teuer. Mit 5,7 Kilogramm und 6590 Euro ist der Myosuit nicht nur ein Fliegengewicht, sondern auch preislich sehr attraktiv. Ein weiterer und wichtiger Unterschied ist, dass für die Anwendung mit dem Myosuit noch Restmuskelfunktionen in den Beinen vorhanden sein müssen. Der Myosuit unterstützt also die Bewegungen und fördert die aktive Mitarbeit vom Anwender, was sich auf die Neuroplastizität besonders günstig auswirkt.

Was hat sich in den letzten drei Jahren beim Myosuit getan?

KS: Die letzten Jahre waren sehr aufregend für uns. Wir haben den Myosuit von einem Prototypen im Labor zu einem zugelassenen Medizinprodukt entwickelt. Seit einem Jahr vertreiben wir den Myosuit erfolgreich und fokussieren uns darauf, ein Netzwerk aus Partnern auf- und auszubauen. Der Einsatz insbesondere in der Physiotherapie wird fortlaufend erweitert, damit wir den Zugang für die Patienten gewährleisten können. Natürlich arbeiten wir auch an der stetigen Verbesserung des Myosuit. Bald wird es ein erstes Software-Udpate geben, welches den Myosuit noch cleverer und individueller macht.

Was ist eure Vision für die Zukunft? Wie schätzt ihr den Einfluss von künstlicher Intelligenz auf die weitere Entwicklung ein? Und wann kann ich mit so etwas wie einer Myosuit-Jeans rechnen, die ich beim Laufen einfach bei Bedarf einschalten kann?

KS: Unsere Vision ist es, Produkte zu entwickeln, die Menschen im alltäglichen Leben zu mehr Mobilität und Selbstständigkeit verhelfen können. Die Forschung macht hier immer weitere Fortschritte, jedoch braucht es auch sehr viel Zeit, diese Entwicklungen marktfähig zu machen. Wir versuchen stets, das Neueste aus Technik und Wissenschaft zu nutzen und in unsere Produkte zu integrieren. Bis es aber so etwas wie eine Myosuit-Jeans gibt, wird es noch ein paar Jahre dauern. Künstliche Intelligenz verwenden wir heute schon. Sie hilft uns bei der Einstellung bestimmter Parameter im Myosuit und bei der individuellen Datenauswertung.

Wo kann man den Myosuit in Deutschland schon heute nutzen, testen, kaufen?

KS: Wir arbeiten mit verschiedenen Partnern im Physiotherapie- und Rehabilitationsbereich in Deutschland zusammen. Bei diesen kann der Myosuit auch ausprobiert werden, z. B. beim NiB in Köln oder im Therapiezentrum am Rothenberg in Kassel. Interessierte wenden sich am besten direkt an diese Einrichtungen, dürfen sich aber auch gerne bei uns melden. Unsere Partner haben viel Erfahrung mit dem Myosuit und können Interessierten die Anwendung zeigen. Möchte man den Myosuit für die Physiotherapie oder auch für den Privatgebrauch kaufen, kann man sich direkt an uns wenden (info@myoswiss.com).

Anders als in der Entwicklung von neuen Medikamenten scheint mir der Fortschritt in der Medizintechnik viel schneller und vor allem meist auch ohne kritische Nebenwirkungen zu verlaufen. Ich glaube fest daran, dass der Myosuit und ähnliche Produkte eine große Zukunft haben und nicht nur für MS-Betroffene, sondern auch für die im demografischen Wandel zunehmende Zahl der Menschen mit Mobilitätseinschränkungen einen großen Mehrwert bedeuten werden.

Für diesen und die weiteren Beiträge der Serie freue ich mich auf Ihre Rückmeldungen.

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