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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Moderne Medizintechnik und MS, Teil 4: Neurorehabilitation: Welche Rolle spielt die Medizintechnik in einer integrierten MS-Therapie?

Tom Foell, Blickpunkt-Ausgabe 04/2021

Die diesjährige Artikelserie konzentrierte sich bislang auf Chancen für MS durch neue Entwicklungen in der Medizintechnik. Ist die moderne Medizintechnik also so etwas wie ein Allheilbringer für MS? Sie ahnen es – leider nein, denn am Ende bleibt der Umgang mit der Krankheit für jede/n doch sehr individuell. Und fast genauso individuell zu bewerten wie die MS selbst sind deshalb auch die zwischenzeitlich – zum Glück – vielfältigen Instrumente bzw. externen Einflussfaktoren, die beim Umgang mit den individuellen Symptomen und Verlaufsformen eine Rolle spielen. Ein alleiniger Fokus auf Medizintechnik im Rahmen der MS-Behandlung wird also dem Krankheitsbild nicht gerecht. Trotzdem kann jedes Gerät oder Tool, das ich in der diesjährigen Serie mit Hintergründen, Chancen und Risiken vorgestellt habe, in Verbindung mit anderen Elementen einen wesentlichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben.

Denn alternativ nur auf einen pharmakologischen Ansatz zu setzen, erscheint ebenso wenig zielführend. Der auf MS spezialisierte Arzt Dirk Lemke beschreibt es folgendermaßen:

„Dabei wird im klassisch schulmedizinischen Ansatz der Tatsache nicht Rechnung getragen, dass eine Erkrankung wie die Multiple Sklerose und mit ihr annähernd alle chronischen Erkrankungen multikausaler Natur ist. Komplexen Krankheiten pharmakotherapeutisch monokausal zu begegnen, erscheint unlogisch und lässt wichtige synergistische, therapeutische Effekte ungenutzt.“

Gerade für progressive Verlaufsformen gibt es aktuell auch nur wenige pharmakologische Therapieoptionen, entsprechend empfehlen namhafte deutsche MS-Forschende verstärkt physiotherapeutische Maßnahmen, und dabei am besten den koordinierten Einsatz verschiedener Disziplinen.

Die moderne, integrierte Therapie

Um welche verschiedenen Elemente handelt es sich hier? Von integrierten, übergreifenden Ansätzen – also einer Kombination verschiedener Therapieelemente „im Team“ – haben wir im Blickpunkt in den letzten Jahren schon mehrfach berichtet (so etwa über die Arbeit von George Jelinek im BP 2/2018, von Terry Wahls im BP 3/2016 oder auch im Rahmen der ganzjährigen Artikelserie aus dem Jahr 2020 zum Thema Ayurveda, wo Ernährung/Verdauung, Sport (Yoga), Meditation, Schlaf und Medikamente sehr individuell kombiniert werden). Sowohl George Jelinek als auch Terry Wahls konzentrieren sich in ihren Programmen auf die Kombination von Medikamenten und Lebensstilfaktoren wie körperliche Aktivität, Stressmanagement, Ernährung, Sonnenverhalten/Vitamin D und Omega-3-Fette, wobei Wahls noch stärker auch die Medizintechnik integriert und z. B. Empfehlungen für den Einsatz von Geräten zur Elektro-Muskel-Stimulation (EMS) gibt. Beide Programme sind weltweit verbreitet und werden immer häufiger evaluiert, eine sichere Evidenzbasis für den erfolgreichen Einsatz gibt es bislang trotzdem noch nicht.

Über die Auswertung und Gegenüberstellung aller vorliegenden Studien (etwa in den sogenannten Cochrane Reviews) kommt man aber u. a. auf eine Auswahl von Aspekten mit der vermutlich höchsten Wirkung und dem höchsten Evidenzgrad, die es individuell zu kombinieren und möglichst gut zu befolgen gilt: Ernährung, körperliche Aktivität, Stress, Sonneneinwirkung (Vitamin D), Schlaf, (Nicht!-)Rauchen. Die bereits im BP 2/2018 vorgestellte „Life-SMS“-Methode (die das Programm von George Jelinek in den deutschsprachigen Raum transportiert) fasst die Kombination der einzelnen Elemente hier gut zusammen (Abb. 1).

Abbildung 1 - Stabile Gesundheit - der Mensch in seiner Umwelt

Abb. 1: Schematisches Bild der Life-SMS-Methodik © DSGIP 2014

Körperliche Aktivitäten – Erkenntnisse und Methodik

Meinen Arbeitsalltag verbringe ich größtenteils im Sitzen. Regelmäßig aufstehen für eine körperliche Aktivität (z. B. alle 20 bis 30 Minuten, wie oft empfohlen) habe ich früher nie geschafft und muss mich heute regelmäßig daran erinnern. Denn dass körperliche Aktivitäten gerade für MS-Betroffene einen gesundheitsfördernden Einfluss haben und nahezu alle Symptome positiv beeinflussen können (und eben nicht, wie noch vor 20 Jahren gerne postuliert, sich ungünstig auf die MS auswirken), wird durch immer mehr Untersuchungen belegt. Dirk Lemke hat in seiner Auswertung dazu etwa die australischen Gesundheitsleitlinien modifiziert und empfiehlt MS-Betroffenen die in Abbildung 2 zusammengefassten Aktivitäten. Sehr viel, aber super, solange die eigene Beweglichkeit es zulässt.

 Abbildung 2 - Körperliche Aktivitäten

Abb. 2: Pyramidale Darstellung der empfohlenen wöchentlichen körperlichen Aktivität gemäß der australischen Gesundheitsleitlinien, modifiziert © Dirk Lemke

Die Rolle von Medizintechnik zur Förderung von körperlicher Aktivität bei MS

Durch die fortschreitende Neurodegeneration leidet allerdings auch die Mobilität. Damit wird der oben beschriebene Umfang und die Intensität der körperlichen Aktivitäten immer mehr zu einer Herausforderung. Hier kann moderne Medizintechnik helfen, die Einschränkungen zu kompensieren und die Mobilität zu stabilisieren bzw. zum Teil sogar eine Remission zu ermöglichen (Abb. 3).

Abbildung 3 - Mobilität durch Neurodegeneration

Abb. 3: Wirkungspotenziale von Medizintechnik bei MS © Tom Foell

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Konzept der Neuroplastizität. Verlernte Bewegungsmuster können demnach auch dann neu gelernt werden, wenn Nervenareale bereits zerstört sind – und bereits erloschene zentrale Funktionen somit auch von anderen Zentren übernommen werden. Dies eröffnet vollkommen neue therapeutische Wege. Im Rahmen der sogenannten Neurorehabilitation erlangen Betroffene entsprechend durch körperliche Aktivität mehr Kraft und Ausdauer und verbessern dadurch ihre Lebensqualität. Kraft- und Ausdauertraining bei niedriger Belastung oder auch eine Kombination beider Trainingsarten wird gut toleriert und stärkt sowohl das körperliche als auch das seelische Befinden. So lassen sich z. B. mit EMS-Geräten (wie dem Neubie, siehe BP 1/2021) auch solche Muskeln reaktivieren und aufbauen, die selbst nicht mehr oder nur mit geringem Erfolg trainiert werden können.

Persönliches Fazit zum Einsatz von Medizintechnik

lch selbst absolviere speziell für MS konzipierte (Online-)Trainings (s. z. B. inspiriert durch www.msgym.com), gehe seit mehreren Jahren regelmäßig ein- oder zweimal wöchentlich zur Physiotherapie und habe dabei schon viele Tools der Medizintechnik kennengelernt. Nach dem Motto „Benutze es oder verliere es“, das ich über Garrett Salpeter, dem Erfinder des Neubie bzw. der NeuFit-Methode (BP 1/2021) kennenlernte, versuche ich aber entsprechend weitere körperliche Aktivitäten in meinen Alltag zu integrieren. Wenn es gut läuft, trainiere ich täglich, in jedem Fall aber möglichst regelmäßig und mehrmals pro Woche (lieber fünf- als dreimal).

Neben der klassischen Physiotherapie gehören seit Anfang des Jahres ein Neubie (EMS-Therapie) und seit ca. zwei Jahren eine Vibrationsplatte zu meinen Helfern. Das Training mit dem Neubie bringt mich immer wieder an meine Grenzen, die ich aber möglichst nicht überschreite. In den letzten beiden Jahren hatte ich schon einige Phasen mit schlechter Mobilität und saß über Zeiten auch im Rollstuhl. Seit meiner Ayurveda-Kur im letzten Herbst und dem Start mit dem Neubie-Training im April spüre ich aber, dass mir regelmäßiges Training sehr hilft und sich meine Mobilität langsam aber stetig verbessert. Therapie bei MS ist eben kein Spurt, sondern ein Marathon – und braucht vor allem Disziplin, Ausdauer und auch viel innere Kraft bei Rücksetzern. Durch meine Zeit in China bin ich nach wie vor ein großer Freund von Qigong und versuche auch das täglich einzubauen.

Wie aber oben schon zusammengefasst, sind gute körperlichen Aktivitäten allein nicht auseichend. Ich habe mir deshalb ein relativ breites Tagesprogramm aufgebaut und achte viel auf meine Ernährung (Fette, Gluten, Zucker, etc.), nehme dabei ausgewählte Nahrungsergänzungsmittel (inkl. Vitamin D) zu mir, versuche möglichst gut zu schlafen, meditiere möglichst täglich für mein Stressmanagement und bin immer offen für Neues.

Im Urlaub erlaube ich mir auch einmal Pausen von diesem Programm – zum Teil zwangsläufig (etwa im Bereich Medizintechnik oder dem Ernährungsplan), danach stelle ich aber immer wieder fest, wie viel mir vor allem das Training – besonders mit den effizienzfördernden MedTech-Tools – fehlt und wie meine körperliche Fitness unter dem Trainingsdefizit leidet.

Zukunft und Potenziale für Multiple Sklerose

Leider führten meine bisherigen Erfahrungen weder zu pauschalen Antworten noch zu Personen (nein, auch keine Ärzt*innen/Neurolog*innen), die die optimale Lösung für jede/n Betroffene/n kennen – obwohl es so viele (Anbieter*innen) gibt, die das behaupten. Damit gilt es für uns alle, den eigenen Weg zu finden. Ich freue mich für jede/n, der die Lösung für sich gefunden hat und denke auch, dass jede/r auf eine eigene passende Lösung hoffen darf und sollte.

Mit Erwartungen ist das ja so eine Sache – glaubt man sehr stark daran, dann können sie tatsächlich auch heilen (s. Placebo-Effekt), allerdings können sie auch schwierig für diejenigen sein, die sie wecken.

Ob neue Medikamente oder neue Medizintechnik-Geräte: Für MS gibt es aktuell vielleicht so viel in der „Pipeline“ wie noch nie zuvor. Da können wir viel erwarten. Aber vor allem auch heute schon aktiv mit den bestehenden Tools arbeiten.

Ich wünsche mir und jeder/m MS-Betroffenen viel körperliche und geistige Fitness, Neuroplastizität, Remission und vor allem viel Erfolg auf dem eigenen Weg.

Quellen und weiterführende Informationen