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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Psychoneuroimmunologie - Auswirkungen von Stress und Angst auf das Immunsystem

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2019

Wie Körper und Psyche miteinander verbunden sind, wird in der Psychoneuroimmunologie (PNI) seit etwa 45 Jahren erforscht. Entgegen der Ansicht der biomedizinischen Wissenschaft, dass das Immunsystem im Körper eigenständig agiert, gibt es hier klare Anzeichen dafür, dass Nerven-, Hormon- und Immunsystem zum Schutz des Organismus zusammenarbeiten. Entsprechend können Faktoren, die Stress oder Ängste auslösen, Entzündungsprozesse verursachen und verstärken, während sich Entspannung und Wohlbefinden auf diese positiv auswirken.

Womit beschäftigt sich die Psychoneuroimmunologie?

Die Psychoneuroimmunologie (PNI) oder Psychoimmunologie ist ein Zweig der Psychosomatik und der Psychotherapie, der sich seit 1974 mit der Erforschung funktioneller und biochemischer Zusammenhänge zwischen Psyche, Nerven-, Hormon- und Immunsystem befasst. Sie steht damit im Gegensatz zu einem rein biomedizinisch-technischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das sich körperorientiert auf eine Objektivierung und Standardisierung konzentriert und individuelle psychische und physische Zusammenhänge nicht oder nur am Rand miteinbezieht. Solch ein Ansatz kann in der Akutmedizin zwar sinnvoll sein, bei chronischen Erkrankungen ist er aber mindestens unzureichend.

Das anerkannte Forschungsgebiet PNI ist interdisziplinär angelegt, das heißt, Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Fachgebieten arbeiten zusammen, um Mechanismen zu verstehen, die sich im Organismus wechselseitig beeinflussen. Durch diverse Studien aus diesem Gebiet weiß man heute, dass das Immunsystem auf neurochemische Signale des Nerven- und Hormonsystems reagiert, und deren Funktionen wiederum von Produkten eines aktivierten Immunsystems beeinflusst werden. So ist das autonome Nervensystem (ANS) beispielsweise über Nervenstränge von Sympathikus und Parasympathikus, die vom Gehirn in die Peripherie verlaufen, direkt mit den Immunzellen verknüpft und kann diese mit Nervenreizen versorgen, die bis zum Zellkern weiter übermittelt werden.

Schaut man sich nun die Reaktionen des Systems auf Stressreize an, wird bei der näheren Betrachtung adaptiver (also anpassungsfähiger) physiologischer Mechanismen, die sich evolutionsbedingt in unseren Organismen weiterentwickelt haben, klar, dass Stress Immunreaktionen geradezu steuert.

Was ist Stress?

Stress kann als Zustand beschrieben werden, der eintritt, wenn das eigene Wohlbefinden in Gefahr ist und man sich mit aller Energie vor dieser Gefahr schützen muss. Stress wird ausgelöst durch sogenannte Stressoren und äußert sich in sogenannten Stressreaktionen.

Stressoren

Stressreize können sowohl physischer als auch psychischer Natur sein, sie können kurze Zeit andauern oder dauerhaft vorhanden sein. Einige Forscher*innen unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen

  • akuten, kurzzeitigen Stressoren;
  • natürlich vorkommenden, zeitlich begrenzten Stressoren;
  • Stress, der durch ein zentrales Ereignis ausgelöst wird, dessen Folgen nicht absehbar sind;
  • chronischem Stress und Stressoren, die aus weit zurückliegenden Ereignissen bis heute nachwirken.

Andere teilen die Stressoren in

  • Leistungsstressoren (etwa im Bereich der Arbeit, im Beruf);
  • physikalische Stressoren (etwa Lärmbelastung, Licht- oder Temperatureinflüsse);
  • soziale Stressoren (etwa in Beziehungen) und
  • körperliche Stressoren (etwa Verletzungen oder Krankheiten) ein.

Als besonders starke Stressoren gelten dabei Enttäuschungen, Versagerängste, Überforderung und Unsicherheiten.

Stressreaktionen

Um Menschen besonders in Bedrohungs- (also Stress-)situationen schneller handlungsfähig (und damit aus evolutionärer Sicht überlebensfähig) zu machen, kommt es im Organismus zu verschiedenen Reaktionsphasen. In einer ersten Alarmreaktion setzt der sogenannte Initialschock ein, Kreislauf- und Stoffwechselfunktionen werden schlagartig reduziert, das Gehirn schlägt Alarm.

In einer zweiten, der sogenannten Widerstandsphase, kommt es zu einer vermehrten Freisetzung von Glucocorticoiden, um die Muskeln entsprechend zu aktivieren. Die Atem- und Herzfrequenz sowie die Schmerztoleranz wird beispielsweise erhöht und wichtige Wirk- und Botenstoffe (insbesondere Adrenaline, Noradrenaline und Cortisol) werden vermehrt ausgeschüttet. Zusammen mit dem pro-inflammatorischen Zytokin Interleukin-6 wird nun die Immunabwehr aktiviert: Dabei entstehen lokale Entzündungsreaktionen, um eine Wundheilung zu beschleunigen, die durch die etwaige Verletzung des Organismus während eines körperlichen Angriffs an entsprechenden Stellen notwendig werden könnte – immer darauf bedacht, im Fall eines tatsächlichen Angriffs dem System schnell den bestmöglichen Schutz anbieten zu können.
Dem Organismus stehen nun Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung, die man auch als die sogenannten Kampf-oder-Flucht-Situationen (fight or flight response) bezeichnet, sich der Situation also zu stellen oder vor ihr zu fliehen. Wesentliche Schaltzentralen sind hierfür das autonome Nervensystem (ANS) (und hier der Sympathikus) und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse).

Da diese Entzündungsaktivierung dauerhaft dem Organismus schaden würde, existiert gleichzeitig eine Art Gegengewicht: In einer Erholungsphase können die Stresshormone zuvor aktivierte Immunzellen auch wieder deaktivieren, in dem sie sie zu ihren ursprünglichen Aufenthaltsorten zurückrufen, sobald die Gefahrensituation bewältigt ist. Der Parasympathikus ist hier maßgeblich aktiv.
Hört der Stress nicht auf, wird der Organismus geschädigt: Das System kann die Entzündungsreaktion nicht mehr kontrollieren, und die nervliche und hormonelle Regulation gerät aus dem Gleichgewicht, was man auch als Erschöpfungsphase bezeichnet.

Obwohl Stressoren aus früherer Zeit (wie etwa der akute Angriff durch ein Raubtier und die damit verbundene Gefahr für Leib und Leben, auch „Steinzeitstress“ genannt) so nicht mehr existieren, hat der Organismus physiologische Reaktionen auf diese Stressoren bis heute beibehalten.

Stressreaktionen bilden sich neben körperlichen Auswirkungen wie Herzklopfen, Schweißausbrüche oder Muskelverspannungen auch kognitiv (etwa als Denkblockade, Konzentrationsstörung, Erschöpfung oder Gedankenkreisel), emotional (etwa als Angst, Nervosität, Wut und Gereiztheit) oder als Verhaltensänderung (etwa als Fingertrommeln, Zähneknirschen oder Stottern) ab.

Stress und Krankheitsentstehung

Sind die Stressreize leicht oder von kurzer Dauer, können sie sich positiv auf den Organismus auswirken (man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Flow-Effekt). Das gilt insbesondere dann, wenn man sich einer Belastung bewusst ist, eine positive Anspannung spürt, sie aber gleichzeitig unter Kontrolle hat. Diese Art von Stress wird auch als Eustress bezeichnet.
Sind die Belastungen aber stärker und dauern an (entsteht also der sogenannte Disstress), hat das die Folge, dass Stresshormone die Immunzellen so beeinflussen, dass die Immunabwehr regelrecht unterdrückt wird.
Eine dauerhafte Überbeanspruchung der HPA-Achse kann nun zu einer Überlastung des Systems führen und die stressbedingte Entzündung nicht mehr eingedämmt werden. Die typischen Effekte wie Erschöpfung, Traurigkeit, geringes Interesse und Appetitlosigkeit sind dabei immunologisch vermittelte Anpassungsleistungen, um dem Körper Freiraum zu schaffen, sich mit der Entzündung zu befassen.
Solch eine dauerhafte Überlastung steigert dann auch ganz maßgeblich das Risiko, Allergien, Infekte und schwerwiegende chronische Krankheiten nicht mehr abwehren zu können.

Angst als Stressor oder als Folge von Stress

Angst ist an sich eine natürliche Reaktion und ist evolutionär gesehen durchaus sinnvoll. Sie schützt uns entsprechend vor und mobilisiert uns bei Gefahren. Angst kann aber auch dann entstehen, wenn der Organismus Stressoren übermäßig und vor allem dauerhaft ausgesetzt ist und das Gefühl entsteht, eine Dauerbelastung nicht mehr bewältigen zu können. Können Ängste dann auch nicht mehr kontrolliert werden, verselbstständigen sich und treten auch in ungefährlichen Situationen auf, beeinträchtigt dies wiederum das Immunsystem. In dieser Situation werden Ängste als sehr starke Stressreize wahrgenommen.

Ein in ständige Alarmbereitschaft versetztes Immunsystem, gerade bei chronischen Entzündungskrankheiten, kann wiederum die Psyche nachhaltig beeinflussen. Depressionen, beispielsweise, können ihre Ursache auch in Funktionsveränderungen im Gehirn haben, die durch die dauerhafte Entzündung ausgelöst werden.

Die Wahrnehmung von Stress und Angst

Stress und Ängste stehen im Spannungsfeld von Anforderungs- und Bewältigungsmöglichkeiten. Man geht heute davon aus, dass die Reaktionen auf eine Stresssituation maßgeblich von einer individuellen Bewertung der Situation abhängig ist. Ist diese bedeutsam oder nicht (betrifft mich das ganz persönlich oder nicht), ist sie kontrollierbar oder nicht (kann ich sie mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln bewältigen oder nicht), sind hierbei relevante Fragen, die der Einordnung des Geschehens dienen. Was also individuell als unangenehm oder bedrohlich empfunden wird, kann Stress auslösen, und umgekehrt, hat man das Gefühl, man kann die Situation bewältigen, bleiben Stresshormone im System auf einem niedrigen Level.

Das lernfähige Immunsystem: Bewältigungsstrategien

Man weiß heute, dass das Immunsystem lernfähig ist und entsprechend konditioniert werden kann – nachgewiesen etwa durch die sogenannten Placeboeffekte. Dabei stellen sich lindernde oder heilende Wirkungen durch die reine Erwartungshaltung der Betroffenen ein, dass die eingenommenen Medikamente oder die durchgeführten Behandlungen wirksam seien – selbst wenn die verabreichten Medikamente keinen Wirkstoff enthalten oder die Behandlung nur zum Schein durchgeführt wurde. Unterstützt wird dieser Effekt dann, wenn Behandelnde die Sorgen ihrer Patient*innen ernst nehmen und ihnen eine Heilwirkung auch glaubhaft vermitteln können.
Gleichermaßen konnte nachgewiesen werden, wie stark das Gehirn in den Prozess der Krankheitsentstehung involviert ist.

Wenn eine rein erwartete Wirkung einer Behandlung bei gleichzeitiger Kontrolle über den Behandlungsprozess immunologische Wirkmechanismen bereits in Gang setzen kann, stellt sich zwingend die Frage, welche positiven Einflüsse auf das Immunsystem Krankheitsrisiken eindämmen und Gesundheit fördern können.

Emotionale Grundhaltung

Hier kann man zunächst die eigene positive Grundhaltung anführen. So konnte beispielsweise in diversen Studien gezeigt werden, dass Entzündungswerte generell dann niedriger sind, wenn man sein Umfeld und seine eigene Rolle darin als positiv wahrnimmt (beispielsweise gute soziale Kontakte und ein unterstützendes Umfeld pflegt oder Tätigkeiten nachgeht, die man als befriedigend wahrnimmt). In Studien konnte sogar nachgewiesen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, sich mit einem Virus zu infizieren, dann sank, wenn das emotionale Persönlichkeitsprofil entsprechend stark war, dieses also direkte Auswirkungen auf die Regulation der Immunzellen hatte.

Entspannung, Visualisierung und Reflektion

Kann das Immunsystem gesundheitsfördernde Informationen registrieren und speichern, kommen Mechanismen ins Spiel, die der Stressverarbeitung dienen und damit die Immunfunktion verbessern. Entspannungsstrategien (wie Yoga oder Meditation) können dabei ebenso hilfreich sein wie Techniken, bei denen (entweder mittels Hypnose oder ohne) immunspezifische Prozesse visualisiert werden und sich in der Folge die Immunabwehr maßgeblich verbessert.
Auch das Aufschreiben von Gedanken und Gefühlen kann hier als effektive Strategie genannt werden, Reflektions- und Verarbeitungsprozesse in Gang zu setzen, die sich positiv auf die Immunantwort auswirken. Grundsätzlich hilft bereits, über Probleme zu sprechen, sich also mit anderen über Erlebtes regelmäßig auszutauschen und sich so emotional zu öffnen.

Psychotherapie

Gerade bei einer dauerhaften Stresssituation und einer Entzündungsreaktion, die der Organismus selbst nicht mehr bewältigen kann, ist Psychotherapie eine wichtige Behandlungsmethode, die Immunantwort nachhaltig zu verbessern.

Ausblick

Die Erkenntnisse, die in den letzten Jahren in diesem Bereich gewonnen wurden, sind von unschätzbarem Wert für das Verständnis der Entstehung von Krankheit und Gesundheit und können nutzbringend sowohl in präventive als auch therapeutische Maßnahmen einfließen. Durch eine konditionierte Abwehr beispielsweise lassen sich Medikamentengaben und -dosen verringern sowie Nebenwirkungen durch Medikamente oder operative Eingriffe eindämmen.

Gerade für die Behandlung von Krankheiten, die das Immunsystem primär betreffen, besteht auf dieser Ebene ein sehr großes Potenzial, die Lebensqualität Betroffener maßgeblich zu verbessern. Stress, und hier insbesondere psychischer Stress, führt bei MS nachgewiesenermaßen zu einer Verstärkung chronischer Entzündungsprozesse, und Symptome sowie Krankheitsverläufe verschlechtern sich nach einem belastenden Ereignis auch subjektiv. Stress zu vermeiden oder den verursachenden Faktoren entgegenzutreten, sollte deshalb ein wesentlicher Bestandteil eines ganzheitlichen Therapieansatzes sein.

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