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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Remyelinisierung bei MS - Aktuelle medikamentöse Ansätze in der Entwicklung

Red., Blickpunkt-Ausgabe 01/2022

In den letzten 20 Jahren ist die Remyelinisierung als neues Therapieziel der MS stark in den Fokus der Forschung gerückt. Dieser spontane, auch bei Betroffenen endogen im Gehirn stattfindende Prozess, der geschädigte Myelinscheiden repariert, soll durch medikamentöse Ansätze (auch in Kombination mit bewegungsorientierten Ansätzen) stärker angeregt bzw. verbessert werden.

Was versteht man unter Remyelinisierung?

Damit Neurone optimal miteinander kommunizieren und Signale schnell weiterleiten können, benötigen sie die spiralförmig angelegten Myelinscheiden, die sie umwickeln. Sind die Scheiden etwa durch die MS beschädigt, besitzt der Körper die Fähigkeit, diese eigenständig zu reparieren und Ersatzmyelinscheiden zu bilden, die Axone vor weiteren Schäden schützt und ihre Übertragungsgeschwindigkeit verbessert. Remyelinisierung beschreibt hier den Prozess der Wiederherstellung der Myelinscheiden nach Verlust oder Beschädigung (der sogenannten Demyelinisierung).
Ist die Schädigung weit fortgeschritten oder findet dauerhaft statt, kann eine vollständige Regenerierung ohne Intervention nicht mehr stattfinden. Dies gilt besonders für Reparaturvorgänge im zentralen Nervensystem (ZNS). Vom Körper zur Regenerierung entwickelte Myelinscheiden sind dann oftmals dünner, die Ausprägungen individuell unterschiedlich und Resultate etwa auch stark vom Alter der Person abhängig.
Je nachdem, wo sich die Nervenzelle befindet, sind unterschiedliche Gliazellen (im peripheren Nervensystem die Schwann-Zellen und im zentralen Nervensystem sowohl die Vorläufer als auch die bereits ausgereiften Oligodendrozyten) in einem komplexen Zusammenspiel mit anderen Akteuren für die Bildung des Myelins verantwortlich. Gängig war bisher die Ansicht, dass dieser Prozess im ZNS durch Oligodendrozyten-Vorläuferzellen vermittelt wird, die zu reifen Oligodendrozyten ausdifferenzieren und neue Myelinscheiden produzieren. Seit kurzem kristallisiert sich allerdings die Erkenntnis heraus, dass die Myelinbildung, wenn auch beeinträchtigt, auch durch bestehende, bereits ausgereifte Oligodendrozyten, die sich in der Nähe der geschädigten Regionen befinden, stattfinden kann.

Hier setzen pharmakotherapeutische Ansätze an, die es sich zum Ziel machen, mit unterschiedlichen Wirkstoffen den körpereigenen Prozess zu unterstützen, auch bei fortgeschrittenen Stadien und/oder progredienten Verläufen weitere Schädigungen zu vermeiden und Symptome eventuell sogar rückgängig zu machen. Da es sich um sehr komplexe Vorgänge handelt, die oftmals nur am Tier sichtbar gemacht werden können, ist trotz langjähriger Forschung noch nicht vollumfänglich verstanden, wie natürliche Remyelinisierungsvorgänge im Menschen stattfinden, deshalb bleiben grundlagenwissenschaftliche Studien, die nicht umgehend zu neuen Wirkstoffen und Verfahren führen, weiterhin wichtig und hilfreich.
Alternativen und/oder Ergänzungen zu pharmakotherapeutischen Ansätzen sind bewegungsorientierte Ansätze, die sich vor allem auf Erkenntnisse der Neuroplastizität stützen. Zunehmend verdichten sich Hinweise, dass eine Kombination aus beiden Ansätzen nachhaltige Verbesserungen erzielen könnte.

Pharmakotherapeutische Ansätze

Diese Ansätze nehmen mittels unterschiedlicher Mechanismen etwa Einflüsse auf die Entwicklung und Aktivierung der Oligodendrozyten-Vorläuferzellen und deren Ausreifung in den Blick; hier werden in den letzten Jahren verstärkt Wirkstoffe getestet, die entweder bereits für andere Erkrankungen zugelassen oder neu entwickelt wurden. Die meisten sind aus unterschiedlichen Gründen über die Phase-II-Stadien noch nicht hinausgekommen. Eine kleine Auswahl ist in der Folge kurz dargestellt.

Temelimab: Ein humanisierter, gegen das Hüllprotein (pHERV-W-Env) des MS-assoziierten Retrovirus (MSRV) gerichteter monoklonaler Antikörper. MSRV ist normalerweise inaktiv, kann durch Virusinfektionen (etwa das Epstein-Barr-Virus, EBV) aber reaktiviert werden. ENV hemmt dabei die oligodendroglialen Vorläuferzellen in ihrer Differenzierung. Obwohl eine Reduktion der entzündlichen MS-Läsionen in der bereits abgeschlossenen Phase-IIb-Studie CHANGE-MS (GeNeuro) nicht gezeigt werden konnte, neutralisierte der Antikörper Temelimab erfolgreich das Hüllprotein und verminderte die Schädigung des Nervengewebes, auch in der Folgestudie ANGEL-MS.

Opicinumab: Dass ein experimenteller Verlust von LINGO-1 (ein Protein, das im Gehirn die natürliche Myelinbildung blockiert) eine vermehrte Reifung oligodendroglialer Zellen bewirkt und zu einer Milderung des Schweregrades von MS führt, konnte für den gentechnisch veränderten Antikörper Opicinumab sowohl in der RENEW-Studie als auch der SYNERGY-Studie nicht umfänglich gezeigt werden. Auch die aktuell laufende AFFINITY-Studie (Biogen), die sich auf eine Patientenuntergruppe mit kürzerer Erkrankungsdauer konzentriert, zeigt bisher noch keine überzeugenden Ergebnisse.

Bexaroten: Der Wirkstoff aus der Klasse der Retinoide, der auch in der Krebstherapie eingesetzt wird, zeigte sich in einer sechsmonatigen Phase-IIa-Studie (Multiple Sclerosis Society of the United Kingdom) zwar als ermutigend hinsichtlich der Stimulierung von Oligodendrozyten-Vorläuferzellen, wird aber aufgrund ausgeprägter Nebenwirkungen aktuell nicht weiterverfolgt.

Ibudilast: Auch für den Enzymhemmer Ibudilast, der in Asien zur Behandlung von Asthma bronchiale und von Schwindel nach Schlaganfall zugelassen ist, ließ sich in der Phase-II-Studie NN102/SPRINT-MS (Mellen Center for Multiple Sclerosis, Cleveland Clinic) zwar eine geringere Progression der Hirnatrophie nachweisen, der Behinderungsgrad verbesserte sich aber nicht, und das Nebenwirkungsprofil war ungünstig.

Domperidon: Der D2/D3-Dopaminrezeptorantagonist ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Prokinetika, der für die Behandlung von Übelkeit und Erbrechen eingesetzt wird. Im Tiermodell konnte gezeigt werden, dass der Wirkstoff die Prolaktinproduktion stark steigert. Prolaktin wiederum stimuliert die Remyelinisierung. Hier sind zwei Phase-II-Studien von der University of Calgary durchgeführt worden, die die Behinderungsprogression sowie regenerative Eigenschaften untersucht hat. Ergebnisse hierzu liegen noch nicht vor.

Clemastin/Metformin: Der Wirkstoff Clemastinfumarat ist derzeit bereits als Allergiemedikation zugelassen. Die randomisierte doppelblinde Phase-II-Studie ReBUILD konnte die Förderung der Reifung oligodendroglialer Vorläuferzellen nachweisen (siehe auch BP 4/2019), die Phase-III-Studie steht hier noch aus. Auch das Diabetes-Medikament Metformin hat sich in einer Reihe von anderen Versuchen dahingehend als günstig erwiesen. Da aufgrund der verschiedenen Prozesse, die der Demyelinisierung Einhalt gebieten und/oder eine stabile Reparatur von Myelinscheiden voranbringen sollen, auch eine Verbindung von Einzelwirkstoffen zielführender sein könnte, wird die Kombination beider Wirkstoffe aktuell in einer Phase IIa-Studie der University of Cambridge untersucht.

Theophyllin: Bei chronischem Asthma und der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) bereits erfolgreich eingesetzt, zeigen Studien am Mausmodell durch die Gabe des ursprünglich in Teeblättern enthaltenen Purinalkaloids Theophyllin hinsichtlich der Remyelinisierung Verbesserungen im ZNS, und im peripheren Nervensystem erholten sich die Myelinscheiden sogar vollständig. Theophyllin aktiviert und erhöht das Enzym Histon-Deacetylase (HDAC2), das den Wiederaufbau von Myelinscheiden ermöglicht. Klinische Studien im Auftrag der Universität Mainz sind geplant.

Biotin: Das B-Vitamin Biotin aktiviert das Enzym, das für die Fettsäuresynthese notwendig ist und hilft so beim Wiederaufbau der Myelinscheiden. Eine klinische MS-SPI-Pilotstudie konnte zunächst zeigen, dass die Behinderungsprogression und einige andere Symptome aufgehalten wurden; die flankierende MS-ON-Studie zeigte überdies bei progredienten Verläufen eine Verbesserung der Sehschärfe. Die aktuell laufenden BIOSEP- und SPI2-Studien mit hochdosiertem Biotin (MedDay Pharmaceuticals, MD1003) bei progredienter MS zeigen allerdings keine statistisch signifikanten Verbesserungen.

Vitamin D: Vitamin D, speziell hochdosiert, ist nach aktuellen Studien der University of Cambridge durch die Förderung der Differenzierung der Oligodendrozyten-Vorläuferzellen an der Remyelinisierung beteiligt und spielt eine wichtige Rolle im Energiestoffwechsel der Nervenzellen (zur Rolle von Vitamin D siehe auch den Beitrag im Bereich Therapie Nachgefragt in diesem Heft)

CDP Cholin: CDP-Cholin, ein Zwischenprodukt des Zellmembranstoffwechsels, der als essenzieller Baustein für die Biosynthese von Zellmembran-Phospholipiden (Phosphatidylcholin, auch: Lecithin) benötigt wird, zeigte in verschiedenen Tiermodellen eine verbesserte Myelinsynthese. Eine klinische Studie (Medizinische Hochschule Hannover), die die Degeneration der Nervenfasern durch CDP-Cholin nachweisen soll, ist in Planung.

N-Acetylglucosamin: Ein Einfachzucker, der in Muttermilch enthalten und als Nahrungsergänzungsmittel verfügbar ist, hat in einer Studie am Tier (UCI School of Medicine, ECRC Berlin) die Myelin-Stammzellen aktiviert, um die primäre Myelinisierung und Myelinreparatur zu fördern. Klinische Studien sind in Planung.

Chi3l3: Noch ganz am Anfang sind Untersuchungen mit dem Chitinase-3-like 3 Protein (Chi3l3), das die Entwicklung von neuronalen Stammzellen zu Myelinreparaturzellen befördert. Untersucht wird an der Charité Berlin, inwieweit eine therapeutische Anwendung in verschiedenen Krankheitsphasen zur Modulation von Oligodendrogenese, Remyelinisierung und zu klinischen Veränderungen beitragen kann.

NVG-291: Protein-Phosphatase (PTPσ)-Rezeptoren, so konnte gezeigt werden, unterbinden den Prozess der Remyelinisierung im ZNS nach einer Verletzung. Der neue PTPσ-Inhibitor NVG-291 steht kurz vor den ersten klinischen Studien (NervGen) und hat sich im Tiermodell bereits in unterschiedlichen Bereichen ZNS-basierter Störungen (Nervenschäden und -verletzungen, neurodegenerative Krankheiten) als wirksam erwiesen.

CNM-Au8: Für das Gold-Nanotherapeutikum CNM-Au8, das den Energiestoffwechsel der Oligodendrozyten optimieren und sie dadurch zu einer erhöhten Myelinproduktion bringen soll, laufen nach erfolgreichen ersten Studien aktuell die Phase-II-Studien Visionary-MS und RepairMS (Clene Inc.) an. Hier geht es vornehmlich um die Verbesserung sehbeeinträchtigender MS-Läsionen bei Teilnehmenden mit chronischer MS-Sehbehinderung als Folge der schubförmig remittierenden Form.

Kombination mit bewegungstherapeutischen Ansätzen

Dass einige der Studien, etwa zu Biotin, Bexaroten oder Opicinumab, zwar im Tierversuch Erfolge gezeigt hatten, in den durchgeführten klinischen Studien aber nicht vollumfänglich überzeugen konnten, machen manche Forschende daran fest, dass gezielte körperliche Bewegung und Aktivität nicht in die Studien miteinbezogen wurde. Diese spielen bei Remyelinisierungsvorgängen aber eine entscheidende Rolle, wie bereits vielfach gezeigt werden konnte. So wiesen etwa Studien der Monash University nach, dass durch spezielle, immer wiederkehrende Bewegungen wie Musizieren oder Jonglieren eine Stimulierung der Nervenzellen im Gehirn stattfand, die zu einer aktiven Bildung von Myelin sowie einer Verdickung der Myelinschicht führten (siehe auch die Beiträge zur Musiktherapie und zur Neurorehabilitation in BP 4/2021).
Auch andere aktuelle Studien zeigen, dass sich Bewegung neben anderen positiven Effekten auch auf inflammatorische Prozesse im ZNS auswirkt und strukturelle Veränderungen des Gehirns beeinflusst, die die Oligodendrogenese und Remyelinisierung betreffen. Dabei stellte sich auch heraus, dass motorisches Lernen zum richtigen Zeitpunkt (etwa nach einer partiellen Remyelinisierung) entscheidende Auswirkungen auf weitere Remyelinisierungsfortschritte hatte. Immer wieder neu zu lernen und den Körper aktiv an neue Gegebenheiten heranzuführen, setzt demnach neuroplastische Prozesse in Gang und hat einen positiven präventiven und rehabilitativen Effekt.

Ausblick

Forschende geben zu bedenken, dass für die Bewertung einiger Wirkstoffe noch nicht abschließend festgelegt wurde, ob sie eine Progression in Zukunft verhindern oder akute Symptome rückgängig machen helfen sollen. So lässt sich eine Umkehrung chronischer Prozesse eventuell nicht ausreichend in den für Phase-II-Studien angedachten Zeiträumen abbilden. Auch seien bisher verwendete Parameter (etwa EDSS) zur Bestimmung der Effektivität auf chronische Prozesse nicht ausgerichtet. Andere geben zu bedenken, dass die meisten Wirkstoffe zunächst überwiegend in Modellorganismen getestet wurden, in denen ein mögliches Zusammenspiel auch noch unerkannter Hemmfaktoren (etwa Fibrinogen, das die Myelinproduktion beeinflusst) nicht darstellbar ist. In klinischen Studien ergab sich dann in der Folge ein oftmals enttäuschendes Bild. Dies sind Aspekte, so wird argumentiert, die im Design neuer Studien mitgedacht werden müssen, um die Wirkweise einzelner Stoffe besser beurteilen zu können. Auch das Zusammenspiel mit dem angeborenen Immunsystem, dem Alter, dem Geschlecht sowie der Dauer der Erkrankung der Betroffenen hat Einfluss auf Umfang und Möglichkeiten der Regenerierung und muss in den kommenden Studien noch gezielter berücksichtigt werden, um die ermutigenden Effekte und Erkenntnisse in sichere und wirksame Therapien für Betroffene zu überführen.

Quellen