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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Ressourcen und Kompetenzen fördern - Kreative Ergotherapie bei MS

Red., Blickpunkt-Ausgabe 02/2021

Alltägliche Dinge stellen hohe Anforderungen an Koordination und Motorik – fallen sie mit der Zeit schwerer und entstehen dadurch Einschränkungen, wirken sich diese gleichermaßen auf Körper und Seele von Betroffenen aus. Wenn durch die Krankheit nichts mehr so ist wie zuvor, hilft die Ergotherapie, ein Stück Freiheit für das eigene Leben zurückzugewinnen. Durch verschiedene Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten im Rahmen einer ausdruckszentrierten kreativen Ergotherapie stehen zur Erhaltung bzw. dem Erlangen einer größtmöglichen Selbstständigkeit in Bewegung und/oder Geist der persönliche Heilungsweg, die eigene Lösungsfindung und die Aktivierung von Selbstheilungskräften im Vordergrund. Denn wer sein Leben weitestgehend selbst bestimmen kann, wird selbstbewusster, erinnert sich an seine Lebensziele und gewinnt neue Perspektiven.

Was ist Ergotherapie?

Die Ergotherapie (érgon, gr. Werk, Handeln, körperlich, geistig und seelisch aktiv sein) gehört neben der Physiotherapie und der Logopädie zu den wichtigsten Heilmaßnahmen der Rehabilitation. Als handlungsorientierte Therapieform („Gesundung durch Handeln“) findet sie bei ganz unterschiedlichen Krankheitsbildern (etwa nach akuten Ereignissen wie Unfällen oder Schlaganfällen, bei psychischen Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen wie Rheuma oder MS) Anwendung und zielt darauf ab, eingeschränkte oder von Einschränkungen bedrohte Betroffene bei dem Erhalt oder der Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit in Alltag und Beruf zu unterstützen und zu begleiten, also größtmögliche Handlungsfähigkeit zu erhalten.
Den vielfältigen Funktionseinschränkungen wie Lähmungen, Empfindungsstörungen oder kognitiven Einbußen wird lebenspraktisch begegnet, der Ansatz ist ganzheitlich und zielt auf das harmonische Miteinander von Bewegung, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ab.

Die Ergotherapie kann sowohl stationär (etwa in psychotherapeutischen Kliniken), teilstationär (etwa in Tageskliniken) als auch ambulant (etwa in freien Praxen) erfolgen. Voraussetzung ist eine umfassende ergotherapeutische Diagnostik. Der Mensch, seine Bedarfe sowie seine Einschätzung bezüglich deren Stellenwert bei der selbstständigen Alltagsbewältigung stehen hierbei immer im Mittelpunkt – die Therapie folgt also den Zielen der betroffenen Menschen; dafür gibt es je nach Symptomatik spezifische Messinstrumente. Im Gespräch und durch Testübungen wird ermittelt, welche körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen gegeben sind.

Nach der Festlegung der Behandlungsziele und einem Behandlungsplan werden diese dann Schritt für Schritt umgesetzt.
Die Behandlung kann als Einzeltherapie, in Kleingruppen oder auch als Gruppentherapie akut oder präventiv durchgeführt werden. Zur Übernahme durch die Kasse bedarf es einer ärztlichen Verordnung.

Ergotherapie bei neurologischen Erkrankungen

Dem Einsatz der Ergotherapie im Rahmen von Erkrankungen des zentralen Nervensystems liegt vor allem die Erkenntnis zugrunde, dass das Gehirn auch nach größeren Schädigungen wieder in der Lage sein kann, neue Nervenverbindungen aufzubauen.
Durch den Verlust von alltagspraktischen Fähigkeiten ergeben sich neben physischen Belastungen auch psychische und soziale. Gewohnte und liebgewonnene Dinge nicht mehr erledigen zu können, auf Hilfe angewiesen zu sein – das zieht Einschränkungen der Lebensqualität nach sich, die auch das Selbstwertgefühl betreffen können. Eine ergotherapeutische Behandlung setzt hier an und gibt Betroffenen die Gelegenheit, ihre Einschränkungen physisch und mental besser zu bewältigen und verlorengegangene Fähigkeiten zu erhalten oder wiederzuerlangen, um so ihre Lebensqualität zu verbessern und sie zur größtmöglichen gesellschaftlichen Teilhabe zu befähigen. Gerade bei neurologischen Beeinträchtigungen liegen die Kernziele ergotherapeutischer Maßnahmen in

  • der Wiederherstellung, Entwicklung, Verbesserung und Erhaltung krankheitsbedingt gestörter motorischer, sensorischer, psychischer und kognitiver Funktionen;
  • der Förderung von Fähigkeiten, die zur Krankheits- und Alltagsbewältigung und zur Wiedereingliederung in Familie, Beruf und Gesellschaft notwendig sind;
  • dem Herstellen der Handlungsfähigkeit im körperlichen, emotionalen und geistigen Bereich.

Dazu gehört u. a.

  • die Wiederherstellung, der Erhalt und die Verbesserung funktioneller Haltungs- oder Bewegungsmuster/Fertigkeiten;
  • das Training von Alltagsfertigkeiten;
  • der Ausgleich und die Minderung der Folgen von neuropsychologischen Einschränkungen;
  • das Training zweckmäßiger Kompensationsstrategien;
  • die Beratung, individuelle Anpassung, Herstellung und Erprobung geeigneter Hilfsmittel oder die Schulung und Beratung bezüglich möglicher Strategien und Unterstützungsmöglichkeiten zur eigenständigen Alltagsbewältigung.

Behandlungsansätze

Die Ergotherapie nutzt Wissen aus Medizin, Psychologie und Kunst. Um die Therapieziele zu erreichen, greift sie auf verschiedene Behandlungsansätze und Methoden zurück, die in der Praxis auch miteinander verbunden und individuell auf die Diagnose der verschiedenen Patient*innen angewendet werden.

Funktionsorientierte Methode

Bei einem funktionsorientierten Ansatz geht es um das Wiederherstellen, Erhalten oder Steigern der motorischen Funktionen. Das kann gerätegestützt (etwa durch transkutane elektrische Nervenstimulation – TENS, Elektro-Muskel-Stimulation – EMS) oder geräteunabhängig (etwa durch Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation – PNF, manuelle Therapie, die Konzepte von Bobath oder Perfetti oder die Spiegeltherapie) geschehen. Oft ist dieser Ansatz notwendig, um hier nachfolgend beschriebene Methoden erst zu ermöglichen.

Kompetenzzentrierte Methode

Bei diesem ergebnisorientierten Ansatz geht es um den Erwerb und/oder das erhaltende Training von bedeutungsvollen Aufgaben aus dem Alltag der Betroffenen (etwa Haare kämmen, Zähneputzen, Wäsche aufhängen, Behördengänge, Mobilität oder Aufgaben aus der Arbeitswelt). Die selbstständige Lebensführung wird angestrebt, etwa durch das Alltagstraining (ADL), der geführten Interaktionstherapie nach Affolter oder dem Arbeitstraining.

Ausdruckszentrierte Methode

In diesem prozessorientierten Ansatz – der kreativen Ergotherapie – werden Therapiemittel in kreativ-gestalterischer Form eingesetzt, Farben und Materialien zur Gestaltung verwendet sowie die entstandenen Werke im therapeutischen Gespräch reflektiert.
Mithilfe der bildnerischen Mittel wird ein therapeutisch begleitender Heilungs-, Linderungs- oder präventiver Entwicklungsprozess angestrebt. Elemente der kreativen Ergotherapie ähneln Ansätzen der Kunst- und Gestaltungstherapie (KGT) oder der Maltherapie, allerdings steht bei der ausdruckszentrierten Methode der Ergotherapie stärker der Aufbau von Kompetenzen und Alltagsfertigkeiten im Mittelpunkt und weniger die Förderung des kreativen Ausdrucks an sich.

Die Kreative Ergotherapie

Während funktionsorientierte und teilweise auch kompetenzorientierte Ansätze (etwa im Rahmen der Constraint-Induced-Movement-Therapie, CIMT, der Spiegeltherapie, die Arm- und Handfunktion verbessern helfen sollen oder der Methoden nach Bobath, Perfetti oder Affolter, die Ansätze zur Behandlung von Lähmungen, Sensibilitätsstörungen und neuropsychologischen Beeinträchtigungen liefern) vornehmlich Verbesserungen der Gleichgewichtsempfindungen, des Muskeltonus oder der Koordination von Sinneswahrnehmungen im Fokus haben, geht es bei den ausdruckszentrierten Ansätzen in der Ergotherapie verstärkt um die Anregung oder Wiedererweckung kreativer Kräfte, die Förderung von Flexibilität und Erlebnisreichtum. Aber auch Ruhe und Entspannung sowie das Loslassen von alltäglichen Sorgen, Ängsten und Problemen, das angesichts seelischer Belastungen als wohltuend empfunden wird, rückt hier in den Vordergrund.

Daraus entsteht eine Kraft, die Reflexion zulässt und Klarheit über Konflikte gibt, Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten aufbaut, aber auch Konzentrations- und Merkfähigkeit sowie Entscheidungsfähigkeit und Handlungsplanung verbessert.

Durch die Arbeit mit oft auch ungewohnten Materialien wie Holz, Ton, Stein, Papier, Stoff, Leder oder Farben können sich Betroffene in einem geschützten Raum ohne Leistungs- und Zeitdruck in eine Aufgabe, ein Spiel, in den künstlerischen Prozess vertiefen, experimentieren und mit zunehmender Freude erleben, wie Dinge neu entstehen. Innere Bilder erhalten durch das Gestalten Form und Farbe, der Perspektivenwechsel, den kreatives Arbeiten mit sich bringt, erlaubt neue Blickwinkel, auch auf die eigene Situation. Aufgrund individueller Farb- und Formassoziationen und Verarbeitungsprozesse kann das bildnerische Denken eigenständige kreative Lösungen erarbeiten, was auch positive Auswirklungen auf das sprachgebundene diskursive Denken hat. All das ermöglicht Veränderungsprozesse, die in den Alltag integriert werden können.

Kreative Verfahren in der Ergotherapie dienen also der Erfahrung der eigenen Ausdrucksfähigkeit, dem Ausdrücken von Vorstellungen und Emotionen und können befreiend wie auch strukturierend wirken. Das Gestalten hat zudem positive, kräftigende Effekte auf die Feinmotorik, gleicht Defizite im Sehen aus und erlaubt das Entwickeln von Strategien, sich trotz körperlicher Einschränkungen im Raum bestmöglich bewegen zu können.

Fazit

Das aktive Tun hat nicht unerhebliche positive Auswirkungen auf Selbstvertrauen und -wahrnehmung, geht aber auch negativen Einstellungen und Verhaltensweisen in Bezug auf die Krankheit auf den Grund. Denn dort, wo durch die Auseinandersetzung mit der Materie überhöhte Ansprüche an das eigene Handeln oder negative Denkmuster zutage kommen, können reflexive Prozesse von Therapeut*innen, die sich ansonsten eher im Hintergrund halten, achtsam angeregt und begleitet werden und dort bewusst – auch auf spielerische Weise – gegengesteuert werden, wo negative Gedanken sich vervielfältigen.
Anhand des jeweiligen und individuellen Umgangs mit dem Material lassen sich Ressourcen und Defizite beobachten und auf alltägliche Aspekte des Lebens übertragen. Die kreative Begabung ist dabei unabhängig von künstlerischen Fähigkeiten und somit für alle gleichermaßen erfahrbar.

Der persönliche Heilungsweg durch verschiedene Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die eigene Lösungsfindung und die Aktivierung von Selbstheilungskräften sind also zentrale Aspekte und helfen Betroffenen, sich und ihre Krankheit anzunehmen, sich ihrer Lebensziele wieder zu erinnern und neue alltagstaugliche Perspektiven zu entwickeln.

Quellen