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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

„Stimme der Seele“: Die Atemtherapie nach Ilse Middendorf

Red., Blickpunkt-Ausgabe 01/2023

Unser Atem ist einzigartig – die Art und Weise, wie wir atmen, spiegelt unsere aktuelle physische und psychische Befindlichkeit wider und verdient deshalb auch bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Störungen eine aufmerksame Betrachtung. Nicht ohne Grund gibt es in allen Kulturen (Bewegungs-)Techniken zur Prävention oder Therapie mit und durch den Atem; klinische Formen der Atemtherapie stehen hier neben der Erforschung des Atemgeschehens aus ganzheitlicher Sicht. Zu den letzteren zählt die Atemtherapie und der Erfahrbare Atem nach Ilse Middendorf, die auf einzigartige Weise die bewusste Wahrnehmung des Atems und seiner Bewegung ohne willentliche Beeinflussung schult. Im jeweils individuellen Rhythmus kann der Atem so seine Heilkraft entfalten.

Ursprünge der Atemtherapie

Atem ist wichtigste Lebensfunktion und auf das engste mit allen physischen und psychischen Vorgängen verbunden. So weisen etwa das griechische Konzept des pneúma (Geist, Hauch, Luft, Atem) oder das althochdeutsche ātum, das altenglische ǣþm, das germanische *ēðma- oder das altindische ātmā́ (Hauch, Seele, Selbst) auf die Idee des Atmens als Tor zur Innenwelt und Weg der Selbsterfahrung. Die Atemtherapie und -schulung zählt entsprechend zu den ältesten therapeutischen Verfahren, erste Ursprünge lassen sich etwa im indischen Yoga oder der Atem- und Bewegungstechnik des Tai-Chi oder Qi Gong aus China verorten – die griechischen Pneumaschulen stellten die bewusste Atmung gar in das Zentrum der geistigen und körperlichen Entwicklung und Reifung.

Moderne Formen der Atemtherapie gehen aus einem Diskurs verschiedener Körper- und Bewusstseinsdisziplinen künstlerischer, tiefenpsychologischer und medizinischer Einflussgeber hervor. Zu nennen sind hier etwa die Idee der Entfaltung des Atems in den drei Leibräumen Kopf-Herz-Bauch als Individuationsweg des Ichs (Innerer Atem) des niederländischen Sängers und Psychologen Cornelis Veening, die Reflektorische Atemtherapie des Internisten Johannes Ludwig Schmitt, die Psychotonik des Arztes für Naturheilverfahren Volkmar Glaser oder die ganzheitliche Atem-, Stimm- und Sprachtherapie der Sängerinnen Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen. Ihre Theorien wurden um etwa 1940 durch die Integrale Atem- und Bewegungsschulung der Schweizer Tänzerin Klara Wolf, die Atemarbeit der Sängerin und Heilpraktikerin Herta Richter oder dem Konzept des Erfahrbaren Atems der deutschen Gymnastiklehrerin Ilse Middendorf weiterentwickelt. Ihnen allen ist auch das Verständnis gemein, dass der Atem alle Körperfunktionen und Ebenen miteinander verknüpft, die Art des Atmens das Befinden und die Emotionen daher beeinflusst und durch atemgymnastische Übungen Krankheiten verhindert oder geheilt, Wohlbefinden und Körpergefühl gestärkt, persönliche Entwicklungsprozesse angeregt und Körper, Seele und Geist in Einklang gebracht werden können.

Die Atemtherapie von Ilse Middendorf

Ilse Middendorf (1910–2009) gründete nach Ausbildungen in den Bereichen Gymnastik, Tanz oder Massage und der langjährigen Arbeit mit Cornelis Veening im Jahr 1965 ihr eigenes Institut für Atemunterricht und -therapie in Berlin, das heute als Ilse-Middendorf-Institut für den Erfahrbaren Atem bekannt ist und dem 1982 ein zweites Institut in Oberzent (Odenwald) folgte. Im Jahr 1971 wurde sie Professorin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Berlin, gab noch bis zum Jahr 2004 im In- und Ausland viele Fortbildungsseminare zu ihrer Atemlehre und therapierte Kinder und Erwachsene. Ihr Sohn Helge Langguth leitet heute die Institute.

Der Erfahrbare Atem

Die Atemtherapie von Ilse Middendorf unterliegt dem salutogenetischen Prinzip, nimmt also an, dass der Mensch über eine Selbstheilungstendenz verfügt, die er aktiv beeinflussen kann. So werden nicht die Defizite eines Menschen in den Blick genommen, sondern stets seine vorhandenen Widerstandsressourcen und Schutzfaktoren, die gesunden Anteile gestärkt.

Neben dem willentlich eingesetzten Atem (etwa beim Yoga) und dem unbewussten, nicht registrierten Atmen gibt es nach Middendorf noch eine dritte Form: das bewusst zugelassene, aber nicht willentlich beeinflusste Atmen, das sie den Erfahrbaren Atem nennt. Hier geht es nicht um eine Manipulation des Atems, sondern darum, den eigenen ursprünglichen natürlichen Rhythmus wahrzunehmen, ihm nachzuspüren, ihn zu begleiten und sich ihm zu überlassen. Dabei spielt die Bewusstwerdung von Empfindungen (durch Wahrnehmung) in Körperregionen und nicht von Gefühlen (also der Bewertung von Empfindungen) eine zentrale Rolle.

Am sogenannten Leitseil des Atems soll wahrgenommen werden, dass der Atem

  • von selbst kommt,
  • von selbst geht und
  • eine Pause macht, bis er wieder von selbst kommt.

Dieser Prozess ist physisch spürbar und wird Atembewegung genannt.

Jeder Atem ist, so die Idee, einzigartig wie ein Fingerabdruck, weil alles, was der Mensch bewusst und unbewusst erlebt, sich in seinem Atemgeschehen abbildet. Jeder kleinste Reiz, jede Empfindung verändert so auch die Art und Weise, wie ein Mensch atmet – genau das lässt sich auch differenziert erleben. Entsprechend gibt es kein falsches Atmen, sondern durch die Biografie entstandene sogenannte ungünstige Atemgewohnheiten, wie etwa zu flaches Atmen, hektisches Atmen oder ein Zurückhalten des Ausatmens, die zu einer mangelnden Sauerstoffversorgung oder zu einem dauerhaft unruhigen und nervösen Gefühl führen können. Dazu einen Zugang zu bekommen, den eigenen Atem kennenzulernen und sich ohne Willen oder Denken zu sammeln – dem Atem, der Körper, Seele und Geist durchlässiger und spürbarer macht, also die Führung zu überlassen –, braucht Zeit und entsprechende Schulung durch Atemtherapeut*innen.
Entsteht in diesem Prozess die Durchlässigkeit für Atembewegungen, ändern sich Atem-, Empfindungs-, Konzentrations- und Sammlungsfähigkeit und die Fähigkeit, „anwesend“, präsent im Körper zu sein. Eine veränderte Haltung (des Körpers wie auch der eigenen Haltung zu vorhandenen Problemen oder Krankheiten) ist die Folge, Selbstheilung kann beginnen.

Beschwerdebilder

Grundsätzlich wirken sich Beeinträchtigungen des natürlichen Atems auf Körper und Geist aus und können zu Verspannungen, Schmerzen, Müdigkeit, Erschöpfung, Ängsten oder Stress führen. Auch bei Krankheiten der Atemorgane oder Atembeschwerden (auch Stimm- und Sprechprobleme), bei Erkrankungen des Bewegungsapparates, die auch die Nutzung eines Rollstuhls notwendig machen, bei Depressionen oder Burn-Out wird die Atemtherapie eingesetzt. Sie findet begleitend in der Rehabilitation nach Unfällen oder bei chronischen Krankheiten statt. Für MS-Betroffene hat die Atemtherapie nach Ilse Middendorf positive Auswirkungen auf Spastiken, Ataxie, Fatigue oder Sprachstörungen, wenn sich durch ein bewusstes Atmen die Sauerstoffversorgung im Körper und die Belüftung der Lunge (gerade bei eingeschränkter Gehfähigkeit) bessert, die Reaktionsfähigkeit stärkt sowie sich Rumpf und Beweglichkeit stabilisieren und Verspannungen, innere Widerstände und Blockaden auflösen lassen. Die Arbeit mit dem Atem fördert auch die Akzeptanz der eigenen Person, die Kreativität und das Wohlbefinden, sie reduziert merklich Stress- und Angstzustände und gibt Halt.

Um dahin zu gelangen, können zunächst auch unangenehme Erinnerungen zum Vorschein kommen, die Blockaden z. T. auch ausgelöst haben. Nach Middendorf ist es durch die Atemtherapie aber gleichzeitig auch leichter, sie zu verarbeiten und sie anzunehmen. Wenn der Erfahrbare Atem richtig gelehrt wird, ist er laut Middendorf nie gefährlich, weil der unterrichtete Mensch immer nur das annimmt, was er auch verarbeiten kann. Ein sehr vielfältiges Repertoire an Übungen ermöglicht flexibles Arbeiten mit Menschen jeden Alters und erlaubt, auch wenn langfristig geschult werden sollte, Gelerntes schnell in den Alltag zu übertragen.

Durchführung

Grundsätzlich unterstützen Atemtherapeut*innen das Geschehen durch Dehnung, Druckpunktberührungen, Vokal- und Bewegungsübungen. Dadurch treten Körperbereiche, die bisher auf unbewusste Art und Weise gesteuert werden, in das Bewusstsein. Zusammenhänge zwischen dem eigenen Atem- und Lebensrhythmus werden erfahren – die Bewegungen wirken auf Atemrhythmus und vegetatives Nervensystem ausgleichend und stärkend; eine intensivere Körperwahrnehmung löst Verspannungen und ermöglicht Gefühle von Weite und Leichtigkeit.
Sowohl Einzel- als auch Gruppensitzungen sind möglich und finden je nach Bedarf mehrmals wöchentlich statt. Eine achtsame meditative Haltung der Therapierenden ohne Erwartungen und Annahmen ist Grundvoraussetzung für eine solche Behandlung. Die Ausbildung zur Atemtherapeut*in oder Atempädagog*in nach Ilse Middendorf nimmt insgesamt etwa fünf Jahre in Anspruch.

In den 60 bis 90 Minuten einer Gruppensitzung finden einfache, zunächst geführte und später auch eigeninitiativ unternommene sanfte Dehnungen, Druckpunktarbeit, die Arbeit mit der Stimme (Vokalatemraumarbeit) und Bewegungen statt, um den eigenen Atem kennenzulernen. Teilnehmende stehen, sitzen, gehen oder liegen sich im Kreis gegenüber, nehmen sich Zeit für die Empfindung der Veränderungen und sprechen auch über das Erfahrene.

Üblich bei etwa einstündigen vertiefenden Einzelsitzungen ist die Behandlung im Liegen, der Atem wird hier oftmals durch den/die Therapeut*in am Körper erspürt, und es entwickelt sich durch diese individuelle Ansprache eine Art „atemgesteuerter Dialog ohne Worte“ auf der Suche nach der eigenen Biografie, bei dem Hände die Wahrnehmung unterstützen und Möglichkeiten aufzeigen. Orientiert wird sich am Wohlgefühl des Betroffenen.

Kosten und Therapeut*innensuche

Die Einzelbehandlung durch einen Atemtherapeut kostet im Durchschnitt etwa 75 Euro pro Stunde, der Gruppenkurs beläuft sich auf etwa 100 Euro für 10 Termine. Diese Atemtherapie ist keine reguläre Leistung der gesetzlichen Kassen – ob die Kosten trotzdem übernommen werden, sollte deshalb immer vor Beginn direkt mit der Kasse geklärt werden. Denn es gibt selbstständige oder in Einrichtungen tätige Physio- oder Psychotherapeut*innen, die sich in der Atemtherapie von Middendorf weitergebildet haben und deren Leistungen bei bestimmten Beschwerdebildern von der Kasse getragen werden. Über die Datenbanken auf den Seiten der Ilse-Middendorf-Institute lassen sich ausgebildete Therapeut*innen gezielt nach Region finden.

Quellen und weitere Informationen