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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Therapie des spastischen Syndroms - Aktuelle Möglichkeiten für Betroffene

Red., Blickpunkt-Ausgabe 03/2020

In Deutschland sind rund 250.000 Menschen von einer spastischen Bewegungsstörung betroffen, die im Verlauf der MS, aber auch im Rahmen eines Schlaganfalls, eines Schädel-Hirn-Traumas oder bei Rückenmarksläsionen auftreten kann. Etwa die Hälfte aller MS-Betroffenen sieht sich mit spastischen Bewegungseinschränkungen konfrontiert, die mit unterschiedlichen therapeutischen Möglichkeiten gelindert, aber nicht geheilt werden können. Die neu aufgelegten S2k-Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie von 2019 sind ein guter Anlass, um einen Blick auf aktuelle Behandlungsmöglichkeiten zu werfen.

Was versteht man unter dem spastischen Syndrom?

Das spastische Syndrom umfasst alle Aspekte der sogenannten spastischen Bewegungsstörung (spastic movement disorder, SMD). Eine Spastik (gr. spasmos, Krampf) bezeichnet den Zustand einer erhöhten Muskelspannung, der auf eine Schädigung des Gehirns oder Rückenmarks (ZNS) zurückzuführen ist. Hierbei sind Teile der Nervenbahnen unterbrochen, die das Gehirn mit dem Rückenmark verbinden und die Muskulatur des Körpers versorgen. Die Kommunikation zwischen Nerv und Muskel ist also gestört; Signale zur Anspannung wechseln sich nicht mehr mit Signalen zur Entspannung ab, es kommt zu einer Überreizung motorischer Neurone.

Spastiken treten fokal (herdförmig), segmental (ein Rückenmarkssegment betreffend) oder generalisiert (im ganzen Körper) auf; je nach Stadium wird dadurch die Beweglichkeit verschiedener Extremitäten mit unterschiedlichem Schweregrad einschränkt. Eine Spastik kann sich sowohl im Ruhezustand als auch bei Bewegung bemerkbar machen. Muskelsteifigkeit, Verkrampfungen, Schwere- und Spannungsgefühl bis hin zu Muskelverkürzungen können die Folge sein, die mit Schmerzen einhergehen.

Spastik bei MS

MS-Betroffene haben sich häufig u. a. mit den folgenden Beeinträchtigungen auseinanderzusetzen:

  • eingeschränkte Mobilität/Alltagsaktivitäten aufgrund von eingeschränkten Finger-, Arm- und Beinbewegungsmöglichkeiten;
  • durch Spastik bedingte Müdigkeit (Fatigue), die Arbeits- und Sozialleben beeinträchtigt;
  • Atemwegsinfektionen aufgrund mangelnder Möglichkeiten zum Durchatmen;
  • Schluckbeschwerden und Sprachstörungen aufgrund von Beeinträchtigungen der Rachen- und Gesichtsmuskulatur;
  • Blasenfunktionsstörungen durch Beeinträchtigungen der Beckenbodenmuskulatur oder
  • Schlafstörungen, ausgelöst durch nächtliche Muskelkrämpfe.

Die Symptome können sich allerdings stark unterscheiden und ihre Sichtbarkeit, Intensität oder Dauer hängen vom persönlichen Krankheitsbild ab.

Diagnose und Therapieziele

Zur Diagnosestellung ist eine körperliche Untersuchung erforderlich, die die Beweglichkeit einzelner Gelenke, den Grad der Einschränkung, die Muskelkraft sowie Beugung und Streckung der Muskeln erforscht. So misst zum Beispiel die sogenannte Ashworth-Skala den Grad der Anspannung der Muskulatur bei passiver Bewegung. Bildgebende Verfahren (wie CT oder MRT) werden ergänzend eingesetzt.

Spastiken sind zwar bisher nicht heilbar, können aber gelöst und die Beweglichkeit – und damit die Möglichkeiten im Alltag und generell die Lebensqualität – entsprechend verbessert werden. So kann Verschleißerscheinungen etwa an Gelenken, Schwierigkeiten beim Entleeren der Blase und beim Geschlechtsverkehr, Schmerzen, einer verminderten Gehfähigkeit oder reduzierten Schlafqualität begegnet werden. Hierfür ist ein langfristiger Therapieplan notwendig, der regelmäßige Behandlungen erfordert. Als wichtig erachtet wird auch der Zeitpunkt des Therapiebeginns – liegt dieser weit hinter dem Auftreten der ersten Symptome, können Komplikationen wie Versteifungen (Kontrakturen), Hautschädigungen (Läsionen) oder Wundliegegeschwüre (Dekubitus) die Behandlungserfolge beeinträchtigen.
Therapiemöglichkeiten
Die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten siedeln sich, je nach Ausprägung der Spastik, im Bereich der Bewegungstherapie, der ergänzenden Behandlungen, der medikamentösen Therapie sowie der operativen Therapie an.

Bewegungstherapie

Hier handelt es sich um Formen der Physio- und Ergotherapie, die Muskeln und Gelenke beweglich halten und die alltägliche Handlungsfähigkeit wiederherstellen helfen.
Passive Muskeldehnungen und anhaltende Strecklagerungen der betroffenen, sowie Stärkung der gesunden Bereiche können sich dabei ergänzen, um (weiteren) Verkürzungen des Sehnen- und Bandapparates vorzubeugen. Techniken, die Betroffene in ihren Alltag integrieren können, wiederholt motorische Übungen oder die Beratung zur Verwendung notwendiger Hilfsmittel (zum Beispiel Schienen und Orthesen), die funktionsbeeinträchtigte Muskeln trainieren, entlasten oder fixieren sollen, sind ebenfalls Teil dieser Therapie.
Die Ansätze dazu sind vielfältig. Bekannt sind vor allem die Physiotherapie nach Bobath (die sich auf die Hemmung abnormaler Bewegungsmuster konzentriert), nach Vojta (die die Rückkehr zu angeborenen Bewegungsmustern anregt) und die Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF), bei der die Weiterleitung von Nervenimpulsen zwischen Nerven und Muskeln durch eine gezielte Reizung (Dehnung, Zug, Druck) erleichtert werden soll.
Die Constraint Induced Movement Therapie (CIMT), einer Ergotherapieform nach Taub, basiert auf dem Ansatz des gelernten Nichtgebrauchs und versucht ganz gezielt, die betroffenen Gliedmaßen, an deren Nichtgebrauch man sich gewöhnt hat, zu reaktivieren, indem gesunde Gliedmaßen möglichst wenig eingesetzt werden.

Auch das serielle Anlegen von sogenannten Casts (Kunstoffgips) bzw. Gipsverbänden wird zumeist bei einer Spastik im Bein empfohlen, um verkürzte Muskulatur zu strecken. Motorgetriebene Fahrräder etwa oder die robotikgestützte Gang- und Laufband-Therapie mit Entlastung des Körpergewichts können die genannten Therapieformen unterstützen. Logopädische Maßnahmen, die die Aussprache verbessern helfen und das Schlucken wieder sicher machen, gehören ebenfalls zu diesen Behandlungsformen.

Ergänzende Behandlungen

Entspannungstechniken wie Yoga oder Meditation, Massagen oder die Therapie mit und im Wasser (Hydrotherapie) können ergänzend und unterstützend wirken. Die Stimulation durch elektronische Impulse (Elektrostimulation oder Elektroakupunktur an Arm und Bein) sowie die periphere repetitive Magnetstimulation (prMS), die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) des Gehirns oder der Nerven, die Ganzkörpervibration oder die extrakorporale Stoßwellentherapie (ESWT, mittels Körperschallwellen) werden weiterhin als ergänzende Möglichkeiten genannt, die aufgrund des fehlenden Wirksamkeitsnachweises allerdings noch nicht für die vertragsärztliche Versorgung anerkannt wurden.

Medikamentöse Therapie

Eine antispastische medikamentöse Therapie wird in Abhängigkeit der Lokalisierung und dem Schwergrad der Spastik ausgewählt. Bei einer generalisierten oder multisegmentalen mittelschweren bis schweren Spastik wird die orale Therapie mit Antispastika (Baclofen, Tizanidin, Tolperison, Dantrolen), krampflösenden Medikamenten wie Gabapentin (Off-Label) oder Cannabis-Derivaten (etwa das Mundspray Sativex) sowie Benzodiazepinen als psychoaktive Substanzen (Diazepam) eingesetzt. Eine damit einhergehende Müdigkeit und Muskelschwäche der systemisch wirkenden Präparate kann die Symptome allerdings auch verstärken und etwa die Stand- und Gangfähigkeit (weiter) beeinträchtigen.
Reversible Kaliumkanalblocker wie Fampridin erhöhen speziell die Gehgeschwindigkeit stark darin eingeschränkter Betroffener; das Produkt kann sowohl mit als auch ohne Physiotherapie eingesetzt werden.
Bei fokaler Spastik wird das muskelentspannende Botulinum-Neurotoxin A (BoNT A) (bekannt als Botox) direkt in die betroffene Muskulatur (auch den Schließmuskel der Blase) injiziert. Gesunde Muskelbereiche werden so nicht belastet – die Wirkung hält allerdings auch nur wenige Monate an. Kontrolltechniken während der Injektion wie die Ultraschall-, EMG- oder Elektrostimulationstechnik werden dabei empfohlen. Bei segmentaler Spastik wird BoNT A mit oraler Medikation kombiniert, Schienen und Orthesen werden hier zusätzlich empfohlen.
BoNT A ist in Deutschland noch nicht für jede Form der Spastik zugelassen und soll derzeit auch nur abhängig von der Art der zugrundeliegenden Erkrankung verabreicht werden.

Operative Therapie

Bei ungenügendem Therapieerfolg, zu starken Nebenwirkungen oder Lähmungsverstärkungen wird für die generalisierte oder multisegmentale Spastik die intrathekale Baclofen-Therapie empfohlen. Hierbei handelt es sich um eine medikamentöse Therapie mit chirurgischem Zugang. Kommt es bei der Behandlung der fokalen oder segmentalen Spastik zu Kontrakturen, werden orthopädisch-chirurgische Eingriffe nötig (etwa einer Sehnenverlängerung oder -verkürzung oder das Lösen von Verwachsungen oder Operationen am Knochen, um Fehlstellungen zu korrigieren).

Fazit

Durch die Vielzahl an Behandlungsmöglichkeiten lässt sich für die Mehrzahl der Betroffenen eine Spastik zumindest stabilisieren und verbessern; Einschränkungen können so ausgeglichen werden. Da einige der Möglichkeiten mit starken Nebenwirkungen einhergehen können und sich nicht jede Behandlungsform für jede*n eignet, sollte eine umfassende Beratung zu Behandlungsformen, die möglich und sinnvoll sind, immer durch Fachärzt*innen erfolgen. (Red.)

Quellen