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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Unzureichender Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln im Globalen Süden

Christiane Fischer, Blickpunkt-Ausgabe 03/2024

Unentbehrliche Arzneimittel sind Medikamente, die den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung eines Landes gerecht werden und die jederzeit in ausreichender Menge, in der geeigneten Darreichungsform und zu einem erschwinglichen Preis verfügbar sein sollen. Die Weltgesundheits­organisation WHO erstellt die sog. Modellliste (die WHO Model List of Essential Medicines) seit 1977 und aktualisiert sie alle zwei Jahre. Jedes Land soll diese Liste auf seine Bedürfnisse übertragen. Tatsächlich ist der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln in vielen Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien aber unzureichend. Denn durch wirtschaftliche, politische, infrastrukturelle und soziale Aspekte haben Menschen in diesen Ländern oftmals das Nachsehen.

Herausforderungen beim Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln

Patente

Patente sind ein Haupttreiber hoher Arzneimittelpreise und ein Haupthindernis für den Zugang im Globalen Süden. Die Minimalanforderungen, damit sich ein Produkt für ein Patent qualifiziert, sind Neuheit, Herstellbarkeit durch die Industrie und Innovativität. Geregelt ist das im Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO). Das Abkommen regelt allerdings nicht, wann ein Produkt als innovativ gilt.

Die WTO existiert seit 1994. Seitdem gibt es auf alle Produkte, also auch auf Medikamente, einen 20-jährigen Patentschutz. In dieser Zeit hat die Herstellerfirma ein Monopol auf Herstellung und Verkauf des jeweiligen Arzneimittels. Wie bei jedem Monopol führt dies zu Preisanstieg und Angebotsverknappung. Der Patentschutz gilt in allen WTO-Mitgliedstaaten, wobei es Ausnahmeregeln für die am wenigsten entwickelten Länder (least developed countries, LDCs) gibt. Seit dem 1.1.2005 müssen Entwicklungsländer, die keine LDCs sind, die Bestimmungen des TRIPS-Abkommens umsetzen und vollen Produktpatentschutz für Medikamente gewähren. Darunter fällt auch Indien, das aufgrund seiner enormen Arzneimittelproduktion (aktuell neben China die zweitgrößte der Welt) auch als „Apotheke der Welt“ gilt. Fast alle afrikanischen Länder werden von Indien aus versorgt – etwa als Beispiel im Fall von Impfstoffen oder den gegen HIV/Aids wirksamen hochpreisigen antiretroviralen Medikamenten (ARVs) folgt daraus, dass gerade in den Ländern, in denen Menschen überproportional betroffen sind, für sie unentbehrliche Medikamente nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Dazu kommt, dass in vielen afrikanischen Ländern viele unnötige Patente für sogenannte marginale Innovationen vergeben werden. Da das indische Patentrecht solche Patente verbietet, können viele Medikamente aus Indien zwar exportiert, jedoch nicht in afrikanische Länder importiert werden.
Auch findet die lokale Produktion von Arzneimitteln (etwa auch zur Herstellung von Generika, so wie in Indien) auf dem afrikanischen Kontinent fast nur in Südafrika statt, was zu einer starken Abhängigkeit von importierten Medikamenten führt.

Fehlende staatliche Unterstützung

Viele Länder in Afrika, Lateinamerika und Asien haben entweder nur begrenzte finanzielle Ressourcen oder priorisieren ihr Gesundheitswesen nicht so, wie es notwendig wäre. Teure unentbehrliche Arzneimittel werden so nicht erworben. Dies betrifft insbesondere patentierte Medikamente. Höchstpreise auf Medikamente entstehen auch, wenn es nur einen Hersteller gibt und so ein Quasimonopol entsteht. Man spricht dann von vernachlässigten Medikamenten. Hohe Armutsraten in diesen Regionen kommen hinzu und bedeuten, dass sich viele Menschen die benötigten Medikamente, wenn sie denn verfügbar sind, gar nicht erst leisten können. Ein Krankenversicherungswesen, so wie wir es in Europa kennen, existiert selten bis gar nicht. Die medizinische Versorgung muss also aus eigener Tasche finanziert werden. Wenn man dann bedenkt, dass ein Großteil der Bevölkerung im sogenannten informellen Sektor prekären Tätigkeiten nachgeht und damit zumeist auch im Krankheitsfall auf keine größeren Ersparnisse zurückgreifen kann, wird klar, dass für Menschen, die sich durch ihren Lohn oftmals nicht mehr als eine warme Mahlzeit am Tag leisten können, Medikamente mit utopisch hohen Preisen unerreichbar bleiben werden.

Hohe Kosten bei begrenztem Nutzen

Die WHO hat zum ersten Mal 2023 drei MS-Medikamente in ihre Modellliste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen. Doch ihre Wirksamkeit ist beschränkt. Die kritische Organisation LeitlinienWatch, die Leitlinien auf Interessenkonflikte prüft, bewertet die von der Gesellschaft für Neurologie DGN herausgegebene Leitlinie nur mittelmäßig und vergibt zehn von 18 möglichen Punkten. Die überteuerten Medikamente weisen außerdem sehr problematische Nebenwirkungen auf. Cladribin (eine einzige Tablette 10 mg kostet 2.663 €) hat das Risiko von schwerwiegenden Leberschäden, wie Merck Healthcare Germany in einem Rote-Hand-Brief zugeben musste. Auch unter Glatirameracetat (30 Fertigspritzen kosten 1.426,96 €) kann es zu akutem Leberversagen kommen. Und unter Rituximab (für eine Infusionsflasche zahlt man in Deutschland 1085,70 €) kann es zu schweren Immundefekten kommen, warnt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft – diese Preise beziehen sich auf die Rote Liste 2023.

Infrastrukturelle Probleme

Auch infrastrukturelle Probleme bestehen in vielen Ländern des Globalen Südens. Unzuverlässige Versorgungsketten können zu Engpässen und Verzögerungen bei der Lieferung von Medikamenten führen. Insbesondere in abgelegenen oder ländlichen Gebieten ist die Infrastruktur zur sicheren Lagerung und zum Transport von Medikamenten oftmals nicht oder nur unzureichend gegeben. In Dörfern gibt es häufig keine durchgängige Kühlkette oder -möglichkeit, so dass viele Medikamente dort gar nicht erst verwendet werden können. Dies betrifft insbesondere die Impfstoffe.

Auch zu strenge oder ineffiziente Regulierungsprozesse und Korruption behindern den Zugang zu neuen und wichtigen Medikamenten überall dort, wo sie dringend benötigt werden. So konnte man etwa vor einigen Jahren in dem stark von HIV/Aids betroffenen Simbabwe beobachten, dass die über Hilfsorganisationen der Bevölkerung zur Verfügung gestellten ARVs zunächst nur den Familien der Regierungspartei zugutekamen, während unzählige andere Betroffene unter unmenschlichen Bedingungen unnötigerweise an Aids verstarben.

Mangelnde Bildung und ein unzureichendes Wissen über die korrekte Verwendung von Medikamenten sind weitere Problembereiche, stellen aber tatsächlich eine Ausrede dar, um Menschen von unentbehrlichen Arzneimitteln fernzuhalten.

Strategien zur Verbesserung des Zugangs

Es gibt viele Strategien in Ländern des Globalen Südens, um den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln zu verbessern. Dazu zählen die Stärkung der Gesundheitssysteme, die Verbesserung der Infrastruktur für die Lagerung und den Transport von Medikamenten und die Weiterentwicklung effizienter und transparenter Versorgungsketten.

Die Bereitstellung von Finanzhilfen für arme Bevölkerungsgruppen ist dabei essenziell, um ihnen den lückenlosen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten zu ermöglichen. Ein gelungenes Beispiel ist, dass im indischen Bundesstaat Tamil Nadu unentbehrliche Arzneimittel im öffentlichen Gesundheitssektor allen Menschen umsonst zur Verfügung gestellt werden.

Eine andere Möglichkeit ist das Verbot von Arzneimittelpatenten, um die oftmals unanständig hohen Preise zu drücken. Am 2.10.2020 hatten Indien und Südafrika den Antrag vor der WTO gestellt, mindestens zeitweilig für alle Produkte, die zur Vorbeugung, Eindämmung und Behandlung von COVID-19 notwendig sind, den Patentschutz auszusetzen. In der Sprache der WTO heißt so eine Ausnahmeregelung „Waiver“. Dieser Antrag scheiterte vor allem am Widerstand wohlhabender Staaten, darunter den USA, Großbritannien und auch Deutschland.

Erfolgsgeschichten und Initiativen

Internationale Zusammenarbeit, lokale Initiativen und innovative Ansätze sind entscheidend, um die gesundheitlichen Herausforderungen in diesen Regionen zu bewältigen. Erfolgreiche Beispiele dafür sind etwa:

  • Globaler Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria: stellt die finanziellen Mittel zur Bekämpfung dieser Krankheiten bereit und hat so den Zugang zu Medikamenten in vielen betroffenen Ländern verbessert.
  • Gavi, die Impf-Allianz: hat seit der Gründung im Jahr 2000 die Impfung von 760 Mio. Kindern gegen lebensbedrohliche Krankheiten wie Diphtherie, Tetanus oder Keuchhusten gefördert und so ca. 13 Mio. Todesfälle verhindert.
  • Der Medicines Patent Pool (MPP): gehört zu den Vereinten Nationen und engagiert sich für den Zugang zu hochwertigen, sicheren, wirksamen, geeigneten und erschwinglichen Medikamenten, insbesondere für die Behandlung von HIV/Aids und Tuberkulose in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. Dazu verhandelt MPP mit Patentinhabern, ihr geistiges Eigentum in den Pool zu geben. Der MPP vergibt dann Lizenzen, um die Produktion von erschwinglichen Generika zu vereinfachen.

Quellen