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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Was bringt uns eine personalisierte Medizin? Chancen und Risiken im Überblick

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

Die Bundesregierung bezeichnet die sogenannte personalisierte Medizin als Medizin der Zukunft. Mittels einer modernen Diagnostik soll es gelingen, für jede Patientin und jeden Patienten das höchstmögliche Maß an therapeutischer Wirksamkeit zu erzielen und dabei Kosten zu senken. Eine umfangreiche Datensammlung ermöglicht dabei ein besseres Verständnis von grundlegenden Krankheitsmechanismen und die Entwicklung noch effizienterer Behandlungsansätze. Nach Jahren der globalen Forschung gibt es allerdings vermehrt auch kritische Stimmen und noch zahlreiche ungelöste Fragen.

Was möchte die personalisierte Medizin?

Die sogenannte personalisierte Medizin (auch als stratifizierte, individualisierte oder Präzisionsmedizin bezeichnet) möchte mittels moderner Diagnoseverfahren (der Erhebung sogenannter Biomarker, vgl. dazu auch den Beitrag im BP 3/2020) Krankheitsrisiken in der Bevölkerung bereits im Vorfeld erkennen, so mithilfe von Präventionsprogrammen auf den Lebenswandel einwirken und bei einer Erkrankung eine frühzeitige Behandlung ermöglichen. Wirkstoffe sollten dann so gewählt und dosiert werden, dass Patient*innen den bestmöglichen Nutzen daraus ziehen können. Die dazu umfangreich erhobenen Daten sollen es auch ermöglichen, vom Ansatz des „One-fits-all“ (ein Wirkstoff für alle Betroffene einer bestimmten Krankheit) zur Entwicklung passgenauerer Wirkstoffe und der spezifischeren Bestimmung von Krankheitserregern zu gelangen.

Wie sieht die Praxis aus?

Die bereits gängige Berücksichtigung diverser Charakteristika von Patient*innen bei der Therapiewahl (etwa Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht und Bedarfe) werden bei diesem Ansatz auch um genetische, molekulare oder zelluläre Parameter erweitert, um abzusehen, inwieweit ein bestimmtes Medikament voraussichtlich wirksam ist, voraussichtlich gut vertragen wird und wie das Medikament bei einem Individuum am besten zu dosieren ist. Je genauer Patient*innen zu charakterisieren sind, desto besser lassen sie sich – auch für die Forschung – in Gruppen einteilen, und die Bedingungen, die Krankheiten negativ beeinflussen, systematisch ordnen (Risikostratifikation).
Nach der Diagnose und vor einer geplanten Behandlung werden in der Praxis also Vortests durchgeführt, um herauszufinden, ob die Therapie wirksam und nebenwirkungsarm sein wird. Eine spezialisierte Diagnostik und die entsprechende Therapie sind dabei nicht voneinander zu trennen.
Das bedeutet allerdings im Regelfall nicht, dass eine Medikation speziell für die individuellen Parameter der Patient*innen entwickelt wird. Nur in ganz seltenen Fällen (etwa bei der CAR-T-Zell-Therapie oder personalisierten Impfstoffen für bestimmte Krebsarten) werden körpereigene Zellen für die Entwicklung einer Medikation entnommen und dann wieder zugeführt.
Zum Einsatz kommen kann personalisierte Medizin in allen Fachrichtungen; die erwähnten Tests vor Medikamentengabe kommen derzeit bereits für 82 Wirkstoffe zur Anwendung, Tendenz steigend.

Wo liegen die Risiken?

Die Aussicht auf eine individuelle, auf die eigenen Bedarfe zugeschnittene (eben personalisierte) Medikation ist verlockend und weckt bei Forschung, Politik, Leistungsträgern und Patient*innen gleichermaßen Hoffnungen, die schwer zu erfüllen sind.
Von einer Krankheit Betroffene erwarten eine Medikation, die therapeutisch höchst wirksam ist und wünschen sich Ärzt*innen, die sich endlich ausreichend Zeit nehmen können, auch auf individuelle Bedarfe einzugehen. Ärzt*innen wiederum wünschen sich neue abrechnungsfähige Heilungsmöglichkeiten, und die Politik hofft auf das effektive Management kostenintensiver chronischer Krankheiten und einen Rückgang der Gesundheitskosten. Die Forschung schließlich freut sich auf einen Ausbau eines globalen Datenmanagements und vermehrte Investitionen zur Schaffung idealer Forschungsbedingungen, um neue Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Obwohl in Deutschland stark gefördert, bleiben die anfangs erwarteten bahnbrechenden Erkenntnisse für die Patient*innengesundheit oder gar ökonomische Vorteile derzeit noch überschaubar. Das zeigt sich zum einen in der noch recht geringen Anzahl der Vortests oder wirksamen Therapien, die auf genetischen Erkenntnissen beruhen. Ebenso bergen gentherapeutische Möglichkeiten in sich neue Risiken und sind dabei bisher keinesfalls kostengünstiger. Eine gesteigerte Patient*innenzufriedenheit ist in dem Zusammenhang auch noch keine Kennzahl, weil sich spürbare Veränderungen derzeit nur in Bereichen der seltenen Erkrankungen zeigen. Zu viele Genvarianten gilt es zu entschlüsseln, um belastbare Aussagen für eine Vielzahl von Erkrankungen machen zu können. So halten sich auch die gezielten Prognosemöglichkeiten für individuelle Risiken noch in Grenzen.

Die Erhebung, Aufbewahrung und Weiternutzung sensibelster Gesundheitsdaten durch unterschiedliche Akteure wirft weitreichende rechtliche und ethische Fragen auf und führt zu Konsequenzen, die bisher nur am Rande diskutiert werden. Menschen werden möglicherweise auf ihre Genetik reduziert und in Kategorien eingeteilt, andere wichtige, nicht unmittelbar messbare Faktoren dabei außer Acht gelassen. Studien zeigen außerdem, dass erstellte Risikoprofile oder entwickelte Präventivprogramme nicht nur gute Dienste leisten, weil allein das Wissen um mögliche persönliche Risiken und Gefahren auch nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheit von Betroffenen haben kann.

Was bringt die Zukunft?

Somit wird es immer wichtiger werden, den Wert oder den Nutzen solcher Aussagen und Ergebnisse für das eigene Leben deuten und hinterfragen zu lernen. Wie in der Onkologie bereits heute Realität, wird die personalisierte Medizin in den Bereichen der Infektiologie, Pneumologie, Immunologie, Kardiologie oder Neurologie sicher zu einem verbesserten therapeutischen Spektrum führen. Es müsste dabei, wie so oft, nur gelingen, durch eine klare Kommunikation und unter Einhaltung verbindlicher datenschutzrechtlicher und medizinethischer Regeln die Nutzen und Risiken einer breiteren gesellschaftlichen Debatte zuzuführen, um letztlich die Akzeptanz derjenigen zu fördern, die davon eigentlich zuerst profitieren sollten.

Quellen