
Wie behandelt man MS? – Teil 5: Basistherapie
Christiane Fischer, Blickpunkt-Ausgabe 03/2025
Neben den in den letzten Heften vorgestellten Immunmodulatoren, Immunsuppressiva, der Immunrekonstitution und der Therapie des akuten Schubs soll heute die Basistherapie näher beleuchtet werden. Die Mehrheitsmeinung empfiehlt, schon früh (beim klinisch isolierten Syndrom, KIS) mit einer Immuntherapie – einer sogenannten Basistherapie – zu beginnen. Aber ist dies in jedem Fall sinnvoll?
Ziele
Mit der Basistherapie, die sich in der Regel an Menschen mit schubförmiger MS (RRMS) richtet, sollen folgende Ziele erreicht werden: Reduktion der Schubrate, Verzögerung des Krankheitsverlaufs, Erhalt der Lebensqualität. Doch es ist fraglich, ob diese Ziele in jedem Fall mit der Basistherapie erreicht werden können.
Diagnose
Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt. Das war im alten Griechenland schon so und hat sich bis heute nicht geändert. Doch das ist nicht so einfach. So besteht die Diagnostik einer MS laut der entsprechenden Patientenleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) aus
- einer Anamnese,
- neurologischen Untersuchungen,
- einer Liquor-Untersuchung (um oligoklonale Banden und somit Hinweise auf Entzündungen im Körper festzustellen),
- Blutuntersuchungen (um andere Infektionskrankheiten und Autoimmunerkrankungen auszuschließen),
- der Messung der Nervenleitfähigkeit und -geschwindigkeit, um die Funktionsfähigkeit der Nervenbahnen zu erfassen sowie
- bildgebenden Verfahren (also MRT bzw. CT, wobei die radiologischen Befunde allerdings nur gering mit dem Ausmaß der klinischen Symptomatik und den später zu erwartenden Behinderungen korrelieren).
Zur Diagnosebestätigung werden die wiederholt geänderten sogenannten McDonald-Kriterien eingesetzt. Seit 2010 wird eine MS schon beim ersten MS-Schub und mit einer einzigen MRT-Untersuchung diagnostiziert, wenn die Läsionen im MRT „MS-typisch“ aussehen und keine andere Erkrankung festgestellt wird. Mit der Einführung der Kriterien wurde die Sensitivität, also die Empfindlichkeit der Diagnostik beständig erhöht. Eine erhöhte Sensitivität geht aber meist zu Lasten der Spezifität, der Genauigkeit. Vor 2010 gab es viele „falsch negative“ Befunde, also gar nicht oder sehr spät diagnostizierte MS-Patient*innen. Heute gibt es (auch belegt durch entsprechende Studien) viele „falsch positive“ Befunde, also Fehldiagnosen.
Verläufe
Das radiologisch isolierte Syndrom (RIS) ist noch keine Erkrankung, sondern ein Zufallsbefund im MRT und stellt noch keinen Grund für den Beginn einer Immuntherapie dar. Das klinisch isolierte Syndrom (KIS) ist die erste Beschwerde, die nicht zwingend die Kriterien einer MS erfüllen muss. Der meist zu Beginn (80–90 %) schubförmig-remittierenden MS (RRMS) folgt oft die sekundär progrediente MS (SPMS). Die primär progrediente MS (PPMS) ist von Anfang an schleichend fortschreitend ohne Schübe. Die Basistherapie wird meist bei der RRMS mit den Wirkstoffen der Kategorie 1 eingesetzt (Abb. 1):
Abb. 1. Therapiealgorithmus bei Ersteinstellung/Therapieanpassung, nach DGN (Hrsg.), 2024, S. 59.
Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) stellt dazu allerdings fest, dass es kaum Evidenz für die Wirksamkeit der Basistherapie gibt, weil wichtige Studiendaten fehlen.
Fehldiagnosen sind häufig
Auch gibt es nach wie vor keinen zuverlässigen MS-Biomarker, Fehldiagnosen sind daher keine Seltenheit. In einer Studie aus dem Jahr 2012 wurden dazu die Daten von 572 MS-Patient*innen ausgewertet, die ihre Neurolog*innen freigegeben hatten. Danach wurde bei 16 % der Betroffenen (überwiegend bei Frauen) fälschlicherweise eine MS diagnostiziert, und die Fehldiagnosen stiegen mit dem Alter an. 70 % der Patient*innen mit falscher MS-Diagnose erhielten zudem eine Therapie mit Immunmodulatoren, 36 % mehr als ein Präparat, 13 % Alemtuzumab, einige auch Zytostatika wie Mitoxantron oder Cyclophosphamid. 30 % wurden damit drei bis neun Jahre behandelt, ebenso viele zehn und mehr Jahre. Solche Fehldiagnosen und falschen Therapien haben auch Auswirkungen auf die damit dann unbehandelten Krankheiten, die stattdessen übersehen wurden. Manche MS-Medikamente verschlimmern diese Krankheiten weiter und die nicht benötigten Medikamente haben gravierende Nebenwirkungen.
Wie kommen diese Fehldiagnosen zustande? Die MRT-Diagnose von MS ist nach wie vor nicht sicher, obwohl einige Fortschritte erzielt wurden. Die leptomeningeale (also Leptomeninx, eine der drei Hirnhäute, die das Gehirn und Rückenmark umgeben) Anreicherung von B-Zell-Follikeln sind ein MS-Diagnosekriterium, aber sie ist nicht spezifisch für MS. Die sogenannte subpiale (unterhalb der Pia mater des ZNS gelegene) Demyelinisierung ist dagegen zwar MS-spezifisch, aber schwer im MRT zu erkennen und wird oft übersehen.
Eine frühe Diagnose führt oft auch zu einer dauerhaften Basistherapie. Durch die Änderung der Kriterien haben sich die Diagnosezahlen verdoppelt. Dies wird unter MS-Expert*innen als Erfolg gewertet. Doch ist es das? Was bedeutet das für die vielen MS-Betroffenen mit leichtem Verlauf? Sie werden zu einer belastenden Therapie gedrängt, ohne dass es valide Daten zum Nutzen dazu gäbe.
Medikamente
Ob sich jemand für ein Medikament und die Basistherapie entscheidet, hängt ab:
- vom Krankheitsverlauf und der -aktivität,
- dem Nebenwirkungsprofil,
- dem Lebensstil,
- den Begleiterkrankungen und
- den individuellen Risikofaktoren.
Wenn überhaupt, dann sind regelmäßige MRTs zur Überwachung der Krankheitsaktivität und Bluttests zur Überwachung der Nebenwirkungen sowie eine Anpassung der Therapie bei unzureichendem Ansprechen oder auftretenden Nebenwirkungen unerlässlich. Basistherapien beinhalten Medikamente mit einem (zumindest theoretisch) relativ geringen Nebenwirkungsprofil, sodass diese bereits am Beginn der Erkrankung eingesetzt werden. Die Medikamente der Basistherapie werden oft als verlaufsmodifizierende Therapien (DMTs, disease-modifying therapies) bezeichnet. Die häufigsten sind:
Injektionspräparate: Interferon-beta (Avonex®, Rebif®, Betaferon Tysabri®), Glatirameracetat (Copaxone®);
Orale Therapien: Dimethylfumarat (Tecfidera®), Teriflunomid (Aubagio®), Fingolimod (Gilenya®);
Infusionstherapien: Natalizumab (Tysabri®), Ocrelizumab (Ocrevus®).
Einige dieser MS-Medikamente sind extrem teuer und müssen ein Leben lang eingenommen werden. Ein gutes Geschäft für die Industrie.
Entscheidung
Um eine informierte Entscheidung zu treffen, muss folgendes bedacht werden: Die Wirkung auf die generelle Schubrate, Erkrankungsaktivität und langfristige Prognose der Erkrankung sind nicht sicher belegt. Als gesicherter klinischer Nutzen kann nur die Senkung der Schubfrequenz um 30 % (bis 50 %) von vier bis fünf Jahren angesehen werden. Nach einem akuten Schub ist eine Anpassung der Basistherapie notwendig, um zukünftige Schübe zu verhindern. Behinderungen werden aber nur um wenige Monate hinausgezögert. Es fehlen valide Daten zum optimalen Therapiebeginn und zur optimalen Anwendungsdauer.
Und wie alle Medikamente haben die Wirkstoffe der Basistherapie auch Nebenwirkungen: Grippeähnliche Symptome wie Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Fieber treten meist unmittelbar nach den Injektionen auf. Rote Flecken können an der Einstichstelle über mehrere Tage bis Wochen vorhanden sein, und manchmal werden daraus Geschwüre. Selten kann es nach der Glatirameracetat-Injektion zu Hitzewellen und Schweißausbruch, dem sogenannten sog. Flush-Syndrom, kommen, gelegentlich auch mit dem Gefühl der Brustenge, Atemnot, Herzklopfen und Angstgefühlen.
Individuelle Lebensumstände beeinflussen, wie Betroffene mit der MS umgehen und für welche Form der Behandlung sie sich entscheiden. Was bedeutet es, den unterschiedlichen Bedürfnissen der MS-Betroffenen gerecht zu werden? Jede und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er oder sie Medikamente und zu welchem Zeitpunkt einnimmt oder nicht. Die Basistherapie bedeutet die Anwendung über viele Jahre, und ob das für jeden und jede eine Option darstellt, muss genau überdacht werden.
Quellen
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- Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) e. V. (Hrsg.) 2024. Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, abrufbar im Internet unter www.dgn.org/leitlinie/diagnose-und-therapie-der-multiplen-sklerose-neuromyelitis-optica-spektrum-erkrankungen-und-mog-igg-assoziierten-erkrankungen.
- Gaintan, M./Correale, J. 2019.Multiple Sclerosis misdiagnosis: A persistent problem to solve, abrufbar im Internet unter pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC6514150/.
- IQWiG 2023. Multiple Sklerose: Kaum Evidenz für eine gute Patientenversorgung, abrufbar im Internet unter www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_102401.html.
- Jung, C./Scheiderbauer, J. 2021. Nicht lustig: Multiple Sklerose als Fehldiagnose, 2021, abrufbar im Internet unter www.ms-stiftung-trier.de/nicht-lustig-multiple-sklerose-als-fehldiagnose/.
- Marianne-Strauss-Klinik 2024. Schubtherapie, Immuntherapie, symptomatische Therapie – die Behandlungsmethoden im Überblick. Schübe eindämmen, Lebensqualität steigern – diese Therapien helfen bei MS, abrufbar im Internet unter www.ms-klinik.de/de/leistungsspektrum/therapie/behandlungsmethoden.html.
- Multiple Sklerose Gesellschaft Wien 2025. Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose, abrufbar im Internet unter www.msges.at/multiple-sklerose/leitlinie-multiple-sklerose/.
- Neurologienetz. Diagnosekriterien nach McDonald (Revision 2017), abrufbar im Internet unter www.neurologienetz.de/fachliches/erkrankungen/entzuendliche-erkrankungen-des-zns/multiple-sklerose/diagnosekriterien-nach-mcdonald/.
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- Wicker-Gruppe 2024. Verlaufsformen der Multiplen Sklerose: Ein differenzierter Blick, abrufbar im Internet unter https://www.wicker.de/magazin/verlaufsformen-der-multiplen-sklerose.