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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Die Lücke zwischen Krankengeld und Erwerbsminderungsrente

Anja Bollmann, Blickpunkt-Ausgabe 03/2025
Der Fall: Frau A., 45 Jahre, lebt mit Multipler Sklerose. Nach mehreren schweren Schüben schafft sie es nicht mehr, die volle Stundenzahl zu arbeiten. Sie ist erschöpft, wofür ihr Arbeitgeber Verständnis hat. Schon seit längerem bezieht sie Krankengeld von ihrer Krankenkasse. In Kürze endet diese Krankengeldzahlung, weil die Höchstdauer erreicht ist. Ihr Antrag auf Erwerbsminderungsrente läuft, wann darüber entschieden werden wird, ist offen – die Rentenversicherung fordert ein medizinisches Gutachten. Frau A. fragt sich, wovon sie leben soll, wenn das Krankengeld endet und die Rente noch nicht gezahlt wird.

Aussteuerung und Meldung

Die Übergangssituation zwischen Krankengeld und Erwerbsminderungsrente ist existenziell. Pro Erkrankung zahlt die Krankenversicherung 78 Wochen Krankengeld. Eine sogenannte Aussteuerung tritt für die betroffene Person dann ein, wenn der Anspruch nach 78 Wochen erschöpft ist. Die Krankenkasse ist nun verpflichtet, auf das bevorstehende Ende der Zahlung hinzuweisen. Das Schreiben enthält die Aufforderung, sich bei der Agentur für Arbeit zu melden.

Auch und gerade wenn eine Rückkehr in den Beruf krankheitsbedingt in der Regel nicht möglich ist, stößt die Aufforderung, sich bei der Agentur für Arbeit zu melden, auf Unverständnis, da keine Arbeitslosigkeit besteht. Auch Frau A. ist nicht gekündigt, sie steht immer noch in einem Arbeitsverhältnis und hat bereits frühzeitig eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Rentenversicherung beantragt. Die Dauer eines Rentenverfahrens kann allerdings langwierig sein, der Zeitpunkt der Entscheidung über den Rentenantrag ist ungewiss.

Nahtlosigkeit

Wenn die Rente noch nicht bewilligt ist, das Krankengeld aber endet, greift die sogenannte Nahtlosigkeitsregelung. Sie ist in § 145 SGB III (Leistungen und Maßnahmen zur Arbeitsförderung) gesetzlich geregelt. Die Aufgabe der Agentur für Arbeit ist es, in diesem Fall sicherzustellen, dass die finanzielle Unterstützung von Krankengeld zu Erwerbsminderungsrente nahtlos weiterfließt, damit keine Lücke zwischen dem Ende des Krankengeldbezugs und dem Beginn der Rentenzahlung wegen Erwerbsminderung entsteht.

Die Nahtlosigkeitsregelung des § 145 SGB III greift, wenn

  • eine Person dauerhaft erkrankt und
  • ihr Anspruch auf Krankengeld ausgeschöpft und
  • eine Erwerbsminderungsrente beantragt, aber noch nicht bewilligt ist.

Sie soll dauerhaft leistungsgeminderte Arbeitnehmer*innen vor Nachteilen schützen, die infolge von unterschiedlichen Zuständigkeiten auftreten können.

Zusammenspiel der Sozialversicherungsträger
Im Grunde geht es um das Zusammenspiel der Sozialversicherungsträger Krankenversicherung, Rentenversicherung und Agentur für Arbeit:

Die Krankenkasse ist die erste Ansprechpartnerin, wenn es um Arbeitsunfähigkeit geht. Innerhalb von drei Jahren zahlt sie für dieselbe Erkrankung für maximal 78 Wochen Krankengeld. Das Krankengeld beträgt nach § 47 SGB V 70 % des erzielten regelmäßigen Bruttoarbeitsentgelts, aber nicht mehr als 90 % des Nettoarbeitsentgelts.

Wenn es um die Frage der Erwerbsfähigkeit geht, ist die Rentenversicherung zuständig. Sie beurteilt abschließend medizinisch und rechtlich, ob die Voraussetzungen für die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung erfüllt sind. Kann Frau A. dauerhaft nur noch weniger als drei Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten, ist sie voll erwerbsgemindert. Teilweise erwerbsgemindert ist sie, wenn sie weniger als sechs Stunden pro Tag unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann.

Die Agentur für Arbeit hat die Aufgabe, diejenigen, die keine Beschäftigung haben, also aktiv Arbeit suchen und vermittelbar sind (d. h. dem Arbeitsmarkt mindestens 15 Stunden wöchentlich zur Verfügung stehen), Arbeitslosengeld I zu zahlen. Für Personen unter 50 Jahren beträgt die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zwölf Monate.
Im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung hat die Agentur für Arbeit aber auch die Aufgabe, die finanzielle Lücke zwischen Ende der Krankengeldzahlung und Beginn der Rentenzahlung zu schließen, indem sie Frau A. in dieser Übergangsphase Arbeitslosengeld I zahlt, obwohl sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht und aufgrund ihrer Erkrankung auch nicht vermittelbar ist.

Amtsärztliche Prüfung

Die primär im Interesse der Rentenversicherung stehende Aufgabe der Agentur für Arbeit ist, jetzt zu prüfen, ob die Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt werden kann. Das kann beispielsweise durch eine medizinische oder eine berufliche Rehabilitationsmaßnahme bei Frau A. der Fall sein. Es erfolgt eine amtsärztliche Begutachtung. Sie dient nur dazu, die Leistungspflicht der Agentur für Arbeit zu begründen. Die Erwerbsfähigkeit wird nicht abschließend geprüft. Das ist Aufgabe der Rentenversicherung. Das Gutachten der Agentur für Arbeit dient ausschließlich der Feststellung, ob die Voraussetzungen für die Leistungspflicht nach § 145 SGB III erfüllt sind. Es steht nicht im Widerspruch zu einem möglichen Gutachten der Rentenversicherung.

Unerwartete Entscheidungen

Es kann sein, dass die Agentur für Arbeit bei der amtsärztlichen Untersuchung zu dem Ergebnis kommt, dass die Person teilweise erwerbsfähig ist, beispielsweise drei bis unter sechs Stunden täglich arbeiten kann. Gerade bei dem fluktuierenden Krankheitsbild der Multiplen Sklerose ist das nicht gänzlich ausgeschlossen. Der Erschöpfungszustand von Frau A. könnte sich gebessert oder eine medikamentöse Behandlung erfolgreich gewesen sein. Nun passt das nicht zu der Erwartungshaltung, die Frau A. bei der Beantragung der Rente wegen voller Erwerbsminderung hatte. Es empfiehlt sich, darauf vorbereitet zu sein.

Vorbereitung

Zur Prüfung der Erwerbsfähigkeit kann die Agentur für Arbeit eine amtsärztliche Untersuchung veranlassen oder aber zum Einreichen von aktuellen medizinischen Befundunterlagen auffordern. Es ist wichtig, aussagekräftige und aktuelle medizinische Unterlagen zu sammeln, um sie bei Bedarf zur Verfügung zu haben. Geprüft wird, ob Frau A. aus gesundheitlichen Gründen für mehr als sechs Monate nicht in der Lage ist, eine Tätigkeit von mindestens 15 Stunden pro Woche auszuüben. Neben den ärztlichen Befunden, Klinikberichten etc. ist auch der aktuelle Medikationsplan wichtig. Multiple Sklerose ist ein Krankheitsbild, bei dem die Symptome stark schwanken und eine statische Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nur schwer ermöglichen. Symptome wie Fatigue, kognitive Beeinträchtigung, Gangunsicherheit und Sehstörungen können tageweise unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Wichtig ist, die Dynamik der Erkrankung im Begutachtungsverfahren zu verdeutlichen. Dazu kann ein Symptomtagebuch hilfreich sein, in dem die Symptome festgehalten sind. Es kann dazu beitragen, die Schwere der Erkrankung über einen längeren Zeitraum objektiv darzustellen. Hilfreich ist aber auch, die Symptome und deren konkrete Auswirkung auf den Alltag in einem Untersuchungsgespräch detailliert und realistisch zu beschreiben und dabei weder zu verharmlosen noch zu dramatisieren. Der Satz „Ich könnte eigentlich schon wieder ein bisschen arbeiten“ sollte ein nicht ausgesprochener Gedanke bleiben, um das Eingreifen der Nahtlosigkeitsregelung nicht zu gefährden.

Ablehnung

Sollte das Eingreifen der Nahtlosigkeitsregelung trotz aller guter Vorbereitung abgelehnt werden, kann dagegen vorgegangen werden. Gegen die Ablehnung mit Bescheid der Agentur für Arbeit kann innerhalb der Frist von einem Monat Widerspruch – und sollte auch der nicht erfolgreich sein, Klage vor dem Sozialgericht – erhoben werden.

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