Hilfsmittel fallen nicht einfach vom Himmel: Nur durch Eigeninitiative zu seinem Recht
Holger Kranz, Blickpunkt-Ausgabe 4/2016
Der §33 des Sozialgesetzbuchs (SGB) V beinhaltet den Rahmen für den Anspruch eines jeden Versicherten auf einen Ausgleich aufgrund seiner Behinderung (Erkrankung) durch Hilfsmittel (Hörgeräte, Sehhilfen, Inkontinenzbedarf, Pflegebett, Gehhilfen aller Art, auch Rollatoren, Rollstühle u.s.w.). Daraus kann jeder Betroffene ableiten: Ich habe einen gesetzlichen Anspruch und der Kostenträger hat das durch den Einsatz von Geldmitteln auszugleichen.
Doch welcher Mensch, egal welche Diagnose ihm irgendwann im Verlauf seines Lebens gestellt wird, kennt sich damit aus, geschweige denn dass er weiß, womit er sich ab jetzt zu beschäftigen und welche rechtlichen Ansprüche er hat. Gesagt wird einem selten etwas. Man muss sich selbst informieren und kümmern. Zum einen kennen sich die „Fachleute“ (medizinisches Personal, Mitarbeiter der Kostenträger oder von Beratungsstellen) oftmals selber nur partiell und nur auf dem eigenen Fachgebiet aus, zum anderen gibt es Parteien wie die Kostenträger, die der Auffassung zu sein scheinen, sie müssten sparen, statt Ihrer gesetzlichen Verpflichtung einer adäquaten Versorgung nachzukommen.
Verschaffen Sie sich einen Überblick zu Hilfsmitteln aller Art
Des einen Fluch ist für Betroffene das „World Wide Web“ eher Segen. Zwar kann jeder sein Wissen dort ungefiltert einstellen, doch immerhin habe ich eine Quelle, die es mir erlaubt, mir zumindest einmal einen ersten Überblick zu verschaffen, in dem dichten und manchmal schier undurchdringlichen Netz von Beteiligten, die sich hier anbieten.
Fakt ist: Habe ich die Diagnose MS, gibt es nicht nur ein „neues Leben“ privat, beruflich, psychisch und sozial, sondern ich muss mich mit Themen – und nicht gerade wenigen – beschäftigen, die nicht zum bisherigen Alltag gehörten. Unter anderen sind das medizinische und therapeutische Themen und die Versorgung mit den richtigen Heil- und Hilfsmitteln. Die Verabreichung von pharmazeutischen Produkten ist immer der vermeintliche Rettungsanker, die dadurch oft implizierte „Wunderheilung“ und steht daher immer an erster Stelle. Das Geflecht von Arzt, Apotheker und Hersteller erscheint uns vertraut, eine Grippe hatte ja schließlich (fast) jeder schon Mal und da lief es ja auch.
Wie sehr uns Hilfsmittel aller Art als „dienender Freund“ das Leben nach der Diagnose erleichtern könnten, ist uns dagegen eher fremd. Wer kennt schon ein Sanitätshaus von innen, wenn er nicht gerade schon einmal für einen älteren Angehörigen die Windeln oder Stützstrümpfe dort abgeholt hat.
Wer ist zuständig für die Versorgung mit Hilfsmitteln?
Das Geflecht ist auch weit unübersichtlicher, wenn es um Hilfsmittel geht, als bei der Versorgung mit Heilmitteln, wobei darunter selbstverständlich auch natürliche zu verstehen sind. Denn neben dem Arzt kommen der Physio- und/ oder Ergotherapeut, die Krankenkasse oder ein anderer Kostenträger, der Medizinische Dienst, das Sanitätshaus, irgendwelche Gutachter und viele mehr ins Spiel.
Mit den Therapeuten hatten viele von uns schon einmal vor der Diagnose zu tun. Da musste die Blockade im Rücken aufgehoben werden oder die Muskulatur nach einer OP bzw. einem Bruch wieder aufgebaut werden. Aber die anderen Teilnehmer an dieser neuen Runde, die hat uns niemand vorgestellt, niemand gesagt, was die dürfen und was nicht oder wie man mit ihnen umzugehen hat.
Dabei ist das Ganze so einfach – zumindest auf den ersten Blick: Sie sind unsere Leistungserbringer, wenn es um den Nachteilsausgleich aufgrund der Erkrankung geht z. B. bei der Versorgung mit dem richtigen Hilfsmittel. Sie haben also uns zu dienen und nicht wir haben uns „klein zu machen“.
Nehmen Sie Ihr Recht in Anspruch – wer sich nicht wehrt, zahlt selbst
Seit mehr als 25 Jahren bin ich selbst in dieses Konstrukt hineingewachsen und wenn ich eines gelernt habe, dann das: Derjenige gewinnt, der sich sein Recht holt. Die anderen gefühlten achtzig Prozent der Betroffenen verlieren und das nicht nur einmal, sondern nach dem ersten Mal immer.
Das Prinzip, mit dem das System bewusst arbeitet, ist einfach: Wer sich nicht wehrt, zahlt selbst. Wie im Fall von Benno M., so nenne ich ihn mal. Inzwischen achtzigjährig, einstmals stolzer Unternehmer, entschied er sich bereits vor Jahren, sich nicht mit seiner Krankenkasse anzulegen – es ist im Übrigen egal, ob es sich dabei um eine private oder gesetzliche handelt, die rechtlichen Grundlagen gelten für alle. Er zahlte seine Hilfsmittel selbst. Da nunmehr allmählich die Eigenmittel zur Neige gehen, wird er in absehbarer Zeit doch auf die Finanzierung durch die Krankenkasse angewiesen sein.
Doch die wird so ohne weiteres nicht übernehmen. Sondern erst einmal prüfen, ob er überhaupt einen Anspruch darauf hat, der ihm übrigens nach wie vor gesetzlich zusteht, doch hat er aufgrund der jahrelangen Übernahme der Kosten aus eigener Tasche den Kostenträger aus der Pflicht genommen. Er muss nun mit achtzig erst einmal alles bei- und einbringen sowie beantragen, als hätte er die Diagnose erst gestern und nicht schon vor mehreren Jahrzehnten gestellt bekommen.
Wie praktisch für den Kostenträger: Es verstreicht Zeit, die ein älterer Mensch eventuell ja nicht mehr hat. Niemand sollte glauben, dass im Zeitalter der Computer nicht ein Knopfdruck genügt, um sich ein Bild zu machen, wie lange jemand zu leben hat und wie weit denn die Krankheit schon voran geschritten ist. Auch daraus lassen sich taktische Verfahrensweisen entwickeln.
Ich muss mir also nach der Diagnose sobald als möglich bewusst machen, dass ich Rechte habe und dass ich mich kümmern muss, diese einzufordern, ein Dritter (Anwalt oder Berater) wird es unaufgefordert nicht tun.
Übersicht über die Beteiligten am Hilfsmittel-Versorgungssystem
Hier einmal eine grobe Übersicht der Beteiligten an dem Hilfsmittel-Versorgungssystem. Medizinische Teilhabe oder Rehabilitation:
• Ärzte
• Therapeuten
• Sozialarbeiter
• Medizinischer Dienst/ Fremdgutachter
• Maßnahmen: Kliniken
• Beschaffung eventuell verordneter Hilfsmittel: Sanitätshaus
• Kostenträger: Krankenkassen (sowohl für die Rehamaßnahme als auch für die Kostenübernahme für das verordnete Hilfsmittel zuständig)
Berufliche Teilhabe oder Rehabilitation:
• Integrationsberater
• Ärzte, Betriebsärzte
• Therapeuten (bedingt)
• Technische Rehaberater
• Eventuell der Schwerbehindertenbeauftragte des Unternehmens
• Hilfsmittel/ barrierefreie Arbeitsplatzausstattung: Sanitätshaus
• Kostenträger: Agentur für Arbeit und Deutsche Rentenversicherung
Gesellschaftliche oder soziale Teilhabe bzw. Rehabilitation:
• Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter
• Therapeuten
• Eventuell Medizinischer Dienst/ Fremdgutachter
• Krankenkasse
• Pflegekasse (z. B. für die Bezuschussung bei baulichen Maßnahmen zur Barrierefreiheit)
• Sozialamt (z. B. für Fahrscheine bzgl. eines Personentransports ins Kino oder zum Sport)
Es gibt viele zuständige Stellen und Ansprechpartner. Doch initiieren muss ich das Ganze selbst. Von den aufgeführten Beteiligten kommt niemand von sich aus auf uns zu und fragt: Was brauchen Sie denn noch? Nicht so ganz einfach, sich von unserem so manifestierten Konsumverhalten zu lösen. Ein völlig neues Zeitalter bricht oft für die Betroffenen an, wie in einer anderen Welt.
Machen Sie sich Ihre Rechte bewusst, informieren Sie sich darüber, was Ihnen zusteht und nehmen Sie Ihr Recht mit Nachdruck in Anspruch – es wird sich bei der Bewältigung des täglichen Lebens lohnen.