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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

„Du siehst ja gar nicht krank aus!“: Zum Umgang mit den unsichtbaren Symptomen der Multiplen Sklerose

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 01/2019

Multiple Sklerose/MS: zwei Buchstaben, die die Welt von Betroffenen und Angehörigen von einem auf den anderen Tag auf den Kopf stellen. MS ist die Krankheit der 1000 Gesichter – eine Krankheit mit extrem unterschiedlichen Symptomen. Vor allem sind viele Symptome, die das Leben eines MS-lers enorm einschränken, oft unsichtbar und werden vom Umfeld deshalb nicht wahr- und ernstgenommen. Davon möchte ich heute berichten.

  • Urteile nicht nach dem äußeren Schein, wie jemand wirkt oder zu sein scheint. Denn man weiß nie, ob diese Person nicht vielleicht gegen eine schwere Krankheit kämpft.
  • Es könnte jemand sein, der ständig Schmerzen aushalten muss, oder einen schwerwiegenden Kummer mit sich herumträgt.
  • Es können unzählige Faktoren sein, die diesen Menschen ausmachen.
  • Er atmet, aber vielleicht bereitet ihm das Schmerzen.
  • Er mag jung aussehen und wie das "blühende Leben", aber vielleicht fühlt er sich innerlich um Dekaden älter.
  • Er lächelt, aber sein Herz und sein Körper weinen.
  • Er läuft, er spricht, er kocht und macht sauber, er arbeitet, wenn er kann, und manchmal auch, wenn er NICHT kann!
  • Dieser Mensch IST, aber er ist nicht alles auf einmal.
  • Dieser Mensch ist hier, ist anwesend, aber ein Teil von ihm ist nicht da – er vermisst ihn selbst!
  • Dieser Teil kämpft eine Schlacht, die Du niemals sehen wirst.
  • Aber wenn Du Dir einen Moment Zeit nimmst und hinter das Lächeln dieses starken Menschen schaust, siehst Du vielleicht die Person, die er ist, die ihn ausmacht,
    und zwar mit allen anwesenden und NICHT-anwesenden Teilen.

Die wichtigsten unsichtbaren Symptome im Überblick

Ich möchte zunächst einmal die wichtigsten unsichtbaren Symptome aufzählen und kurz beleuchten.

Fatigue

Die MS-Fatigue (Fatigue = Müdigkeit) äußert sich in einer vorzeitigen, allgemeinen, physischen und psychischen Erschöpfung, genauer:

  • in einer Erschöpfung bis zur Unfähigkeit, aufzustehen (und behindert dadurch körperliche Bewegung und deren Ausführung);
  • die MS-Symptome verstärken sich, es kommt zu einem Zittern und innerlicher Unruhe;
  • man ist extrem müde, ohne einschlafen zu können oder schläft ständig;
  • es fällt schwer, klar zu denken (auch verlangsamt), Gedanken zusammen zu halten, sich zu konzentrieren; man ist motivationslos;
  • die psychische und körperliche Belastbarkeit wird eingeschränkt;
  • es kommt zu einer extremen und schnellen physischen und psychischen Erschöpfung, begleitet von Sprachschwierigkeiten, Übelkeit, Sehstörungen, Schmerzen;
  • es kommt zu Depressionen (Traurigkeit, Verzweiflung).

Uthoff-Phänomen

Als Uthoff-Phänomen im weiteren Sinne wird die vorübergehende Verschlechterung neurologischer MS-Symptome bei einer Erhöhung der Körpertemperatur (zum Beispiel bei Fieber, heißen Bädern oder in der Sauna) bezeichnet. Betroffen sind mehr als 80 Prozent der MS-Erkrankten. Als Ursache wird auch hier eine temperaturbedingte Verschlechterung der Leitfähigkeit demyelinisierter Axone angenommen. Eine Verschlechterung des Zustandes von MS-Patienten aufgrund von Hitze oder Anstrengung wird auch als Pseudoschub bezeichnet.

Schwindel

Das Gefühl von Schwindel (lateinisch Vertigo) kennt fast jeder. Allerdings irritieren Reize, die wie drehende Körperbewegungen wahrgenommen werden, den Gleichgewichtssinn nur kurzfristig. Dagegen führen diverse gesundheitliche Störungen, wie zum Beispiel MS, zu wiederkehrenden Schwindelattacken. Wie alle Symptome der MS hat auch das Symptom Schwindel viele Gesichter und jeder Betroffene erlebt ihn unterschiedlich. Manche MS-ler empfinden nur ab und zu ein vorübergehendes Schwindelgefühl, andere erleben eine Art „Dauerschwindel“ – alle haben aber eines gemeinsam: Es ist ein unangenehmes Symptom und vor allem eine stark beeinträchtigende Symptomatik. Denn Vieles kann man mit Schwindel gar nicht mehr ausüben: Autofahren, Fahrradfahren und manche Berufe sind mit Schwindel undenkbar und sehr gefährlich. Und nicht selten ist während der Schwindelattacken sogar das Gehen und Stehen unmöglich.

Gleichgewichtsstörungen

Diese werden oft ausgelöst durch Schwindel, sind aber auch eine eigenständige Symptomatik. Schwer zu handhaben sind:

  • längeres Stehen/Schwanken, anschließend Gangschwierigkeiten, beim Laufen/Schwanken, beim Treppensteigen (abwärts und aufwärts, oft auch verbunden mit Sehstörungen), häufiges unkoordiniertes Stoßen (zum Beispiel mit dem Kopf an die Waschmaschine, an Lampen usw.)
  • das „Anecken“ an bekannte Gegenstände (zum Beispiel an Schränke, Tische, Kommoden). Die Folgen sind blaue Flecken, Schürfwunden oder kleine Verletzungen.

Sehstörungen

Sehstörungen oder Doppelbilder treten auf:

  • bei psychischer und physischer Belastung; bei Reizüberflutung sind diese sehr heftig und begleitet von Schwindel;
  • oft in Gesprächen, bei denen das Gegenüber direkt angeschaut werden muss;
  • generell bei Anforderungen;
  • wenn man nicht alles im „Blick“ hat. Schwierig ist dies zum Beispiel beim Treppensteigen und im beruflichen Alltag.

Taubheit, Kribbeln, Sensibilitätsstörungen

Diese sind im kompletten Körper und überall möglich; zum Beispiel:

  • an Händen, Handgelenken, Armen, Beinen, Fußgelenken, im Gesicht (auch an der Mundpartie; es kommt zu verschwommenem Sprechen durch taube Mundmuskulatur);
  • besonders auffallend und schlimm ist es nach Anstrengungen, Anforderungen, sowohl psychisch, als auch körperlich;
  • die Füße, bzw. Fußsohlen fühlen sich oft so „dick“ an, es entsteht das Gefühl, wie „auf Watte zu laufen“ oder „Strümpfe aus Glaswolle anzuhaben“;
  • ein Gefühl wie ein Ameisenhaufen, der piekend und stechend über die Körperteile läuft;
  • Sensibilitätsstörungen, die sich zum Beispiel so anfühlen, als ob sie einem die Luft zum Atmen nehmen;
  • die Kleidung schmerzt auf der Haut, sodass man das Gefühl hat, sie wäre zu eng, was beklemmend ist.

Spastik/Muskelschwäche

Dieses Problem kann in allen möglichen Stufen vorkommen. Von leichter Muskelschwäche bis hin zu Lähmungserscheinungen sind alle Symptome denkbar. Den Lähmungen liegt meistens eine Verkrampfung (Spasmus) der Muskulatur zugrunde. Als Spastik bezeichnet man eine erhöhte Muskelsteifigkeit. Diese kann leider mit Schmerzen verbunden sein, zum Beispiel, wenn sich die Muskeln unwillkürlich verkrampfen. In manchen Fällen zittern die Beine auch nach großer Anstrengung. Im Verlauf der MS kann die Muskelkraft in Armen und Beinen abnehmen. Diese Symptome können sich nach und nach verschlechtern und dazu führen, dass man eine Gehhilfe benötigt.

Depressionen

Erste Anzeichen können sein:

  • wenn man sich häufig traurig und niedergeschlagen fühlt, abgeschlagen ist und an nichts mehr Freude findet;
  • Appetit- und Gewichtsverlust oder -zunahme;
  • Energieverlust und Konzentrationsschwierigkeiten;
  • mangelndes Interesse im Alltag und an Hobbys (Antriebs- und Motivationslosigkeit);
  • Schlafstörungen, sowohl Schlaflosigkeit (Ein- und Durchschlafprobleme) als auch ein überhöhtes Schlafbedürfnis;
  • Rückzug aus dem sozialen Umfeld;
  • verstärkte Emotionalität;
  • übertriebene Schuldgefühle und Selbstvorwürfe oder mangelndes Selbstbewusstsein.

Niedrigere Belastbarkeit

Diese äußert sich:

  • körperlich (wie bereits erwähnt, mit allen typischen MS-Symptomen) sowie psychisch durch eine niedrigere Frustrationstoleranz oder schnelleres „Nervenflattern“, wie zum Beispiel Weinen;
  • in einem reduzierten Durchhaltevermögen;
  • einer Empfindlichkeit gegenüber Lärm, Gerüchen, Licht, Wärme/Kälte;
  • bei Telefonaten, Unterhaltungen, Lesen, der Teilnahme an Feiern, im Haushalt und beim Einkaufen, beruflich.
  • Dies führt unter anderem zu einer deutlich schnelleren Reizüberflutung als bei Gesunden und hier können alle bekannten (alten) MS-Symptome hervorkommen und sich sehr unangenehm bemerkbar machen.

Kognitive Leistungsstörungen

Hierbei geht es um Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, besonders bei Anforderungen und Stress, aber auch im Alltag:

  • Informationen werden teilweise nur noch verlangsamt aufgenommen und verarbeitet. Bei vielen MS-lern kommt dies besonders nachmittags, oder bei Stress vor.
  • Wortfindungsstörungen treten auf;
  • der Abruf bei „Bedarf“ ist teilweise gestört;
  • sowohl das Kurzzeitgedächtnis als auch das Langzeitgedächtnis sind oftmals schwer gestört;
  • die Merkfähigkeit ist teilweise gestört;
  • einen Text durchzulesen kann schon eine Überforderung sein, man kann nicht alles aufnehmen;
  • das Erinnerungsvermögen ist oft stark beeinträchtigt.

Blasen- und/oder Darmprobleme (Kontinenzprobleme)

Hierbei kommt es zu:

  • teilweise unwillkürlichem Urinabgang;
  • häufigem und heftigem Blasendrang (sehr belastend im Beruf und auch im sozialen Umfeld);
  • Restharnbildung und dadurch häufigere Harnwegsinfekte.
    Oft sind diese nur durch operative Eingriffe, Botox-Behandlungen und künstliche Ausgänge behandelbar. Das alles ist nicht sichtbar, aber enorm belastend.

Schmerzen

Schmerzen sind ein nicht zu unterschätzendes Symptom bei MS. Es wird noch darüber gestritten, ob MS Schmerzen „auslösen“ kann, ob sie „einfach da sind“ oder doch irgendwie zusammenhängen. Tatsächlich klagen aber die meisten MS-ler über Schmerzen, im Besonderen auch über einschießenden stechenden Schmerz (sogenannte neuropathische Schmerzen).

Sexuelle Störungen

Hierzu gehören erektile Dysfunktion, vermindertes sexuelles Verlangen und Schmerzen während des Geschlechtsaktes. Sexuelle Störungen betreffen sehr viele MS-Patienten und können verschiedene Ursachen haben. Oft gehen sie auf neurologische Veränderungen oder typische körperliche MS-Dysfunktionen und geistige Beeinträchtigungen zurück. Natürlich können dabei ebenso MS-bedingte Veränderungen der Körperwahrnehmung eine große Rolle spielen. Dies wiederum bedingt oftmals, dass sich die Einstellung zum eigenen Körper verändert. Seelische und soziale Schwierigkeiten können aber ebenfalls sexuelle Störungen bei MS verursachen.

Das Problem besteht insofern „unsichtbar“ und sozusagen doppelt: Zum einen ist es für den Betroffenen nicht schön, auch auf diesem Gebiet nicht mehr „voll funktionstüchtig“ zu sein, Schmerzen aushalten zu müssen oder eventuell auch gar keine Lust mehr zu empfinden, zum anderen betrifft es auch den Partner.

Schlafstörungen

Schlafstörungen und MS, ein Thema, das leider von Ärzten oft nicht ernst genommen wird, und dennoch enorme Auswirkungen auf Betroffene und ihr Umfeld sowie auf ihre Lebensqualität hat.

Fluch und Segen der Unsichtbarkeit

Dass viele Symptome, die unsere Lebensqualität einschränken, unsichtbar sind, kann Fluch oder Segen bedeuten. So ist es ein Segen, wenn man dem Betroffenen, wenn dieser es nicht möchte, seine Behinderung nicht ansieht, was in vielen Fällen von Vorteil ist. Ein Fluch ist es dann, wenn man es nicht sieht, es dem Betroffenen aber sehr schlecht geht und er immer und immer wieder erklären muss, wie es ihm gerade geht. Diese Kraft, die man dafür aufbringen muss, steht in keinem Verhältnis zu auch nur irgendetwas anderem – sie lähmt zusätzlich und ganz oft ist sie auch verletzend. Aus vielen mir zugesandten Kommentaren habe ich dazu eine PDF zusammengestellt (http://multiple-arts.com/pdf-unschone-spruche-kostenlos-zum-runterladen/).

Für mich ist es beides, Fluch und Segen, denn natürlich bin ich sehr froh darüber, nur selten auf sichtbare Hilfsmittel, wie meinen Gehstock oder den Rollstuhlservice auf Flugreisen, angewiesen zu sein. Ich bin dankbar, dass meine Form der MS mich körperlich zwar auch beeinträchtigt, ich den Zustand aber noch als akzeptabel hinnehmen kann. Allerdings – und deshalb schreibe ich ja auch meinen Blog und meine MS-Bücher – bin ich wirklich „Opfer“ der unsichtbaren Symptome geworden und musste beispielsweise vier lange, harte und sehr erniedrigende Jahre um den Erhalt der vollen Erwerbsminderungsrente kämpfen, weil man mir damals die MS nicht ansah. In solchen Momenten ist es ein Fluch, dass man die Krankheit nicht sieht! Für mich war es sehr schlimm, immer wieder erklären zu müssen, wie behindert ich bin, wie schlecht es mir geht, denn ich wollte eigentlich nur eines: Gesund sein und niemand erklären und beweisen müssen, wie schwer ich meinen Alltag bewältige. Ein Paradoxon, das mir auch seelisch schwer zu schaffen machte.

Was unser Umfeld tun kann

Angehörige, die mit uns zusammenleben oder mit uns gemeinsam eine Freundschaft pflegen, tragen diese Krankheit, jeder auf seine Weise, genauso mit. Sie sind ebenfalls betroffen, denn uns gibt es nur mit dieser Krankheit. Uns gibt es nur mit all diesen Symptomen und Einschränkungen. Wir sind nicht die MS, ganz sicher nicht, denn wir möchten authentisch und selbstbestimmt sein und bleiben, aber diese Krankheit begleitet uns unweigerlich und nimmt Einfluss auf unser Leben und das derjenigen, die uns begleiten. Seien es die Partner, Kinder, Eltern, Freunde, Nachbarn, Kollegen – jeder, der mit uns zu tun hat, wird auch gleichzeitig mit der MS konfrontiert und muss genauso wie die Betroffenen lernen, für sich damit sinnvoll umzugehen. All diesen Angehörigen gehört mein größter Respekt.

Im Falle der unsichtbaren Symptome ist es enorm wichtig, dass uns genau diese Angehörigen glauben, wenn wir sagen, dass es uns nicht gut geht. Wir sind darauf angewiesen, dass man uns ohne Wenn und Aber glaubt und auch sofort. So bedarf ein Fatigue-Anfall beispielsweise der unmittelbaren Hilfe, etwa, um einen Ruheplatz zu finden und eine Pause einzulegen, und zwar wirklich umgehend. „Ich glaube dir“ sind somit die kraftvollsten Worte, die man an einen MS-Erkrankten richten kann.

Dieses Verstehen, Glauben und das Sich-Darauf-Einstellen sind für uns ganz wichtige Facetten. Sie tun uns in diesem Moment der Hilfsbedürftigkeit gut und sie tun unserer Seele gut, denn wenn wir Verstehen und Mitgefühl spüren, ist uns schon einmal eine sehr große Last genommen.

Da mich persönlich die Fatigue von allen Symptomen am Schlimmsten getroffen hat, und man mir selbst während eines schweren Fatigue-Anfalls nichts ansieht, ich immer noch wie das „blühende Leben“ aussehe, ist das Thema unsichtbare Symptome quasi mit mir verschmolzen. Aber ich möchte niemandem zu nahetreten, der mit sichtbaren Symptomen lebt. Denn diese auszuhalten, mit ihnen umzugehen, zu leben und sie anzunehmen, ist auf einer anderen Ebene schwer und kann das Leben desjenigen noch erheblich mehr beeinträchtigen, als zum Beispiel mich und meine Form der MS.

Weitere Informationen zu den unsichtbaren Symptomen von MS finden Sie auf meinem Blog http://multiple-arts.com/ und in meinem Buch Unsichtbare Symptome: Multiple Sklerose (MS).

Herzliche Grüße
Heike Führ