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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Reizüberflutung bei MS – mehr als nur ein Gefühl!

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 01/2023

Sicher haben Sie sich schon einmal überreizt gefühlt. Und man kennt auch den Satz: „Oh je, ich habe eine totale Reizüberflutung!“. Bei Gesunden bleibt der Satz erst einmal so stehen und bedeutet lediglich, dass man sich gerade „gestresst“ oder überfordert fühlt. Bei meiner Form der MS ist es so, dass ich sehr schnell auf zu viele Reize reagiere – und zwar meistens mit Fatigue, Sehstörungen und tauben Beinen. Manchmal fährt die MS dann alle möglichen Symptome auf und das Problem wird schnell auch ein körperliches! Es war ein langer Weg, bis mir klar wurde, dass ich nicht einfach nur empfindlich bin und mir nicht immer selbst die „Schuld“ gegeben habe, wenn mich etwas überfordert hat (nach dem Motto: „Stell dich nicht so an!“). Es ist ein Tatbestand, dass die Reizüberflutung auch zu den MS-Symptomen gehört. Allerdings liest man darüber sehr wenig, und ich musste viel recherchieren, um das alles begreifen zu können.

Reizüberflutung mit und ohne MS

Laut Wikipedia.de ist

„Reizüberflutung eine umgangssprachliche Metapher für einen angenommenen Zustand des Körpers, in dem dieser durch die Sinne so viele Reize gleichzeitig aufnimmt, dass sie nicht mehr verarbeitet werden können und beim Betroffenen zu einer psychischen Überforderung führen.“

Erst einmal gibt es also die Reizüberflutung, die „jeder und jede“ haben kann: faktisch einfach zu viele Sinnesreize (welcher Art auch immer) auf einmal, zu schnell hintereinander und zu häufig. Dabei hat man das Gefühl, dass man die Reize nicht alle „abarbeiten“, verarbeiten oder gar aufnehmen kann. Sie sind da, sie sind aufdringlich, und das Gehirn ist überfordert. „Alles“ wird auf einmal zu viel, man braucht Ruhe oder eine gute Ablenkung, die natürlich OHNE nervende Reize sein sollte!

Dann gibt es noch die MS-Reizüberflutung, die sich besonders in Gesellschaft der Fatigue wohlfühlt, was es für uns noch schlimmer macht! Das Gefühl gestaltet sich erst einmal wie oben beschrieben, aber dann kommt zusätzlich die MS mit immer neuen Symptomen ins Spiel, MS-Betroffene reagieren also dabei besonders stark. Bei mir sind das z. B. gerne Sehstörungen und eine taube Gesichtshälfte, bei anderen kann es aber auch etwa zu dauerhaften Konzentrationsschwierigkeiten, Panikattacken oder Depressionen führen. Ich vermute, dass wir noch sensibler auf solche Reize reagieren, weil unser Nervensystem ja sowieso verrücktspielt.

Beispiele für mögliche Auslöser

Ausgehend von den verschiedenen Sinnen können das etwa die folgenden sein:

  • Gehör: Lärm, mehrere gleichzeitige akustische Quellen (z. B. Gerede inmitten von Menschenmassen, Musik);
  • Sehsinn: eine Vielzahl von Farben, blinkende Lichter, schnelle und hektische Bewegungen;
  • Geruchs- und Geschmackssinn: Reizüberflutung kann auch bei einem bunt gemischten Essen auftreten, das die Geschmacksrichtungen süß, sauer, bitter und salzig zugleich enthält, sodass nicht mehr einzeln empfunden und zugeordnet werden kann;
  • Tastsinn: Berührungen;
  • Temperatursinn: erhöhte Außentemperatur (bei MS = „Uhthoff-Phänomen“).

Was sind die Folgen?

Fakt ist, dass Reizüberflutung Stress auslöst, und die MS ja nun alles andere als stresskompatibel ist! Wir sind „irgendwie“ wieder mittendrin, wissen gar nicht, wie uns geschieht und sehen uns einer – in diesem Moment – nicht erfüllbaren Aufgabe gegenüber: uns zu beruhigen, die Situation zu entschärfen. Unsere ohnehin merkwürdigen Nerven spielen dann beim „Ausflippen“ mit, ohne dass wir das wollen.

Nun kommt es darauf an, wie gewohnt wir im Umgang mit unserem unsteten Hirn und mit dieser Überreizung der Nerven sind. Vor allem aber kommt es auf unseren augenblicklichen Ist-Zustand an. Haben wir sowieso schon einen schlimmen MS-Tag, dann wird es uns mehr treffen. An einem ruhigen oder ausgeglichenen Tag könnten wir es vielleicht besser aushalten oder entsprechend gut darauf reagieren.

Ich habe es neulich so formuliert: Ich lag gerade ein paar Tage mit einem sehr heftigen Infekt im Bett und merkte auch hier so deutlich, wie „empfindsam“ (nicht empfindlich – ein wichtiger Unterschied!) ich geworden bin, und zwar für Reize aller Art! Und wenn es mir dann noch schlecht geht (und ich neben meiner MS eben noch eine akute Erkrankung wie einen Infekt habe), dann spüre ich so deutlich, dass meine Nerven innerlich vibrieren und gefühlt hilflos aufeinanderschlagen, sich im Gehirngang verirren und niemals mehr dorthin zurückfinden, wo sie einst waren. Vielleicht ein komisches Bild, aber es beschreibt mein Gefühl ganz gut. Oder ich denke an bloßgelegte Stromkabel, die zischend, pfeifend und Feuer speiend wirr und hektisch umherzucken, ihren „Anschluss“ nicht finden können, von jedem noch so kleinen Reiz weiter getriggert werden und somit den ganzen Körper in eine Art Alarmbereitschaft versetzen, die einem Schock und dem Gefühl von äußerster Angst gleichkommt. Die vorhandenen Reize gehen mir dann tatsächlich auf die Nerven – auf blanke Nerven!

Was tun bei Reizüberflutung?

Eine angemessene Reaktion auf Reizüberflutung ist immer Gelassenheit. Nur woher nehmen wir die, wenn wir sie nicht haben? Das Hier und Jetzt aus ganzem Herzen wahrnehmen, sich kleine Inseln der Geborgenheit schaffen – das sind die ersten Schritte zur Gelassenheit. Das müssen wir einüben, und zwar recht konsequent, und wir müssen Rückschläge direkt mit einkalkulieren, denn diese schwere Übung erfordert nicht nur Disziplin, sondern auch eine jeweils gute Tagesform. Einfach „machen“ reicht hier nicht… Wenn wir ehrlich mit uns sind, dann wissen wir, dass Gelassenheit an sich schon eine Königsdisziplin ist. Wenn dann noch die mit MS gepaarte Reizüberflutung eintritt, dann müssen wir Vollgas geben, und das ist in solchen Momenten einfach nur sehr schwer oder gar nicht möglich.

Wenn mich diese merkwürdige Reizüberflutung überkommt, versuche ich also, mich erst einmal nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Wenn ich noch handeln kann, dann ist definitiv mein Rückzug angesagt oder ein verbales „Stopp“! Ich halte es für sehr wichtig, dass wir unser Gefühl direkt kommunizieren, und da reicht anfangs auch mal ein „Das ist mir gerade alles zu viel!“.

Klar, ich weiß, dass unser Gegenüber das als „überempfindlich“ abtun könnte. Aber auch das gehört zur Gelassenheit: Das müssen wir in diesem Moment aushalten können. Später, oder zu einem ganz anderen Zeitpunkt, kann man sich dann in aller Ruhe erklären. Ein deutliches: „Es gehört zu meiner (MS)-Erkrankung dazu, dass ich manchmal von äußeren Reizen überflutet bin!“, ist also eine notwendige Abgrenzung und Erklärung, denn die Reizüberflutung ist nun einmal, wie so vieles andere, ein unsichtbares Symptom der MS. Man sieht es uns einfach nicht an, wie sehr es uns beeinträchtigen kann.

Von Bedeutung ist auf jeden Fall, dass wir die Reizüberflutung erkennen (auch erst im Nachhinein), denn diese Erfahrung hilft uns beim nächsten Mal! Zu wissen, dass es überhaupt eine Reizüberflutung im Zusammenhang mit der MS gibt – für mich der erste Schritt zur Erkenntnis.

Der nächste Schritt ist dann, sich zu überlegen, wie man in Zukunft reagieren möchte. Man kann sich dazu auch einen Plan zurechtlegen. Auch mit dem/der Partner*in sprechen und ihm/ihr das Symptom erklären, ist sehr hilfreich. Denn wenn es uns überkommt, geschieht das oft sehr plötzlich und vor allem sehr heftig! Da ist es dann gut, wenn unser Gegenüber „vorbereitet“ ist.

Manche Menschen können in den Momenten der Reizüberflutung und auch Stunden danach nämlich noch nicht einmal eine Berührung/Umarmung ertragen, weil es sich dabei um einen weiteren Reiz handelt, der nicht verarbeitet werden kann. Ziemlich unvorstellbar, aber wer es bereits erlebt hat, weiß, wovon ich spreche.

Vielleicht hilft Ihnen dieser Artikel schon dabei, sich überhaupt darüber klarzuwerden, dass Sie eventuell auch schon einmal „merkwürdige“ Symptome und Zustände hatten, die Sie sich nicht erklären konnten! Schauen Sie sich dazu auch gerne auf meiner Homepage um. Oben rechts gibt es eine Suchfunktion, auf der Sie individuelle Suchbegriffe, auch zur Reizüberflutung, eingeben können. Und scheuen Sie sich nicht, solche Texte auch Ihren lieben Angehörigen und Freunden zu zeigen: Es fördert Verständnis und ein liebevolles Miteinander!

Alles Liebe für Sie und eine gute Zeit mit überschaubaren Reizen

Ihre
Heike Führ