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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Sexuelle Störungen bei MS: Selbstbestimmte Sexualität trotz Beeinträchtigungen

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 04/2019

Multiple Sklerose bringt, das wissen wir, Veränderungen auf jeder Ebene unseres Lebens mit sich. Betreffen diese unter Umständen auch die Sexualität, kann das besonders verwirrend und emotional aufwühlend sein. Das zentrale Nervensystem (ZNS), beziehungsweise die Weiterleitung der Nervenreize, spielt natürlich auch im Hinblick auf das Sexualleben eine bedeutende Rolle; durch Funktionsstörungen bestimmter Nervenbahnen kann es hier zu Beeinträchtigungen kommen. Und trotzdem: Zärtlichkeit und Sexualität gehören zu einem erfüllten Leben. Mit oder ohne MS!

Sexualität und MS – ein Tabuthema

Vorweggenommen sei, dass Sexualität bei MS keinesfalls schadet; das Gegenteil ist der Fall. Oft gehen Partner*innen von MS-Betroffenen allerdings davon aus, dass die eigenen sexuellen Bedürfnisse für die Erkrankten eine Zumutung seien und möchten sie deshalb auch nicht offenbaren. So kann sich aber eine psychische Kluft zwischen den Partner*innen aufbauen, die die Beziehung – die ja ohnehin durch die MS oft schon vorbelastet ist – noch zusätzlich erschwert.

Auch bei Gesunden ist kaum ein Gebiet so intim, so scham- und angstbesetzt wie die eigene und vor allem die Paar-Sexualität. Und kaum etwas anderes in einer Beziehung macht uns so verletzlich. Wenn es sich um das Thema Sexualität handelt, wird manch Wortgewandter plötzlich stumm, schweigsam und verschlossen. Es ist schwer, sich sprachlich so auszudrücken, dass man nicht einsilbig oder zu ausschweifend wird. Zugeknöpft und reserviert zu sein, weil man nicht die richtigen Worte findet, löst das Problem allerdings nicht: ein heikles Unterfangen, sogar zwischen festen Sexualpartner*innen.

Andererseits ist Sexualität aber auch eine wundervolle Möglichkeit, Nähe zu geliebten Partner*innen herzustellen und zu halten oder in schwierigen Lebensphasen nicht den „Kontakt“ zueinander zu verlieren. Gerade wenn ein Paar mit der Diagnose MS (entweder eine*r oder beide Betroffene) leben muss, versteht man, wie wichtig es ist, sich gegenseitig zu begreifen, zu verstehen. Denn durch fehlende Sexualität aufgrund von MS kann sich sowohl auf der körperlichen als auch auf der Beziehungsebene so vieles verändern. Davor hat natürlich jeder in der Beziehung Angst.

Sexuelle Störungen bei MS

Art der Schwierigkeiten

Mit viel Glück treten sexuelle Schwierigkeiten nur zeitweise, oft auch „nur“ im Rahmen eines Schubes, auf. Leider bleiben sie manchmal auch dauerhaft. Dazu gehören:

  • eine verringerte Libido;
  • kein Lustempfinden mehr;
  • Kraftlosigkeit, keine Energie;
  • beim Mann: keine oder keine anhaltende Erektion;
  • bei der Frau: Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, trockene Vagina, Scheidenkrämpfe;
  • Spastiken;
  • Fatigue und ständige Müdigkeit;
  • generelle Schmerzen;
  • jedes „Anfassen“ ist unerträglich;
  • Orgasmus-Probleme;
  • Inkontinenz und Blasenstörungen;
  • Bewegungseinschränkungen;
  • Taubheit der Geschlechtsorgane und der entsprechenden Regionen;
  • taube Mundpartie oder auch Gesichtshälfte, die das Küssen beeinträchtigt;
  • Kribbeln, das vom Empfinden ablenkt;
  • Veränderungen der Aufmerksamkeit und Konzentration.

Auf zwei der erwähnten Störungen möchte ich näher eingehen. So betrifft Frauen mit MS sehr häufig eine verminderte (oder gesteigerte, schmerzhafte) Empfindsamkeit der Genitalregion. Dies kann zu Trockenheit der Vagina führen, was wiederum äußerst schmerzhaft ist (hier helfen zum Beispiel Gleitmittel oder Cremes) – und wie immer, das Gespräch mit Partner*in und Ärzt*innen. Ich erwähne das bewusst, weil ich im Rahmen einer Recherche in meinen Interviews festgestellt habe, dass dies einfach oft nur vergessen oder gar nicht in Betracht gezogen wird.

Bei Betroffenen, die unter Inkontinenz-Problemen leiden, können verständlicherweise aus Angst vor unkontrolliertem Urin- oder Stuhlabgang aufkommende Probleme mit der Sexualität die logische Folge sein. Bei Harninkontinenz kann es helfen, vor dem Sex weniger Flüssigkeit zu sich zu nehmen und auf jeden Fall die Blase vorher zu leeren.

Ursachen und Folgen

Sexuelle Störungen betreffen sehr viele MS-Betroffene und können verschiedene Ursachen haben. Oft gehen sie auf neurologische Veränderungen oder typische körperliche MS-Dysfunktionen und Beeinträchtigungen zurück. Natürlich können dabei ebenso MS-bedingte Veränderungen der Körperwahrnehmung eine große Rolle spielen. Dies wiederum bedingt oftmals, dass sich die Einstellung zum eigenen Körper verändert. Seelische und soziale Schwierigkeiten können aber ebenfalls sexuelle Störungen verursachen.

Das Problem besteht insofern „unsichtbar“ und sozusagen doppelt: Zum einen ist es für Betroffene nicht schön, auf diesem Gebiet (auch) nicht mehr „voll funktionstüchtig“ zu sein, Schmerzen aushalten zu müssen oder eventuell auch gar keine Lust mehr zu empfinden. Dann kommt hier noch ein*e Partner*in hinzu, der oder die damit ja auch umgehen können muss und sich zwar im besten Fall darauf einstellt und man trotzdem eine zufriedene und befriedigende Partnerschaft führen kann – aber belastend ist es allemal.

Des Weiteren fühlen sich Betroffene oft minderwertig, nicht mehr attraktiv oder begehrenswert. Das ist ein psychisch ernst zu nehmendes Problem und auch wenn man es nicht „sieht“, geht es unter die Haut und tut weh.

Wie damit umgehen?

Betroffene Paare

MS führt nicht zwangsläufig zu sexuellen Funktionsstörungen. Wenn aber die Nervenbahnen, die zu den erogenen Zonen und Genitalien führen, durch die Krankheit beeinträchtigt sind, kann es zu einer Sensibilitätsverminderung in diesem Bereich kommen.

Oft treten Probleme mit der Sexualität erst im Lauf der MS-Jahre auf und so auch oft erst im Lauf der bestehenden Beziehung. Das hat sicherlich den Vorteil, dass man schon auf viele Jahre befriedigender Sexualität zurückschauen kann und auch schon eine gewisse Nähe und Intimität aufgebaut hat. Ein Gespräch über neu auftretende Beeinträchtigungen lässt sich so leichter führen.

Betroffene Singles

Schwieriger ist es für Betroffene, die gerade keine Beziehung haben, sich aber eine*n Lebenspartner*in wünschen. Denn hier ist die Angst, sich aufgrund der sexuellen Problematik auf eine neue Beziehung einlassen zu wollen, verständlicherweise enorm hoch. Viele stellen sich die Frage: „Kann man denn Nähe entstehen lassen, wenn man Streicheln nicht ertragen kann, oder an den üblichen erogenen Zonen nichts mehr spürt?“

Wie meine eigenen Recherchen und Interviews zu diesem Thema ergeben haben, ist dies eines der Hauptprobleme. Eine neue Beziehung einzugehen, ist immer aufregend und auch für Gesunde etwas Besonderes. Eine sexuelle Beziehung daraus zu machen, ist ein nächster Schritt, der im besten Fall völlig unproblematisch abläuft. Wenn man aber weiß, dass man sexuell nicht mehr (so) aktiv sein kann, wird das Wissen zu einer großen Hürde, die viel Selbstvertrauen, Mut und Selbstbewusstsein erfordert, um überwunden zu werden. Sie setzt ein besonders großes Vertrauen – fast schon einen Vertrauensvorschuss – in neue Partner*innen voraus.

Von außen betrachtet

Auch Außenstehende haben in Bezug auf Sex und Behinderung viele Fragen im Kopf. Zum Beispiel: „Kann jemand, der an Multipler Sklerose erkrankt ist, eine Erektion bekommen? Hat er dabei Schmerzen?“ Und vieles mehr… Oft ist anderen die Vorstellung, dass Behinderte Sex haben, sogar peinlich und unvorstellbar.

Da Sex ja auch eine Fortpflanzungsmöglichkeit ist und somit eine Weitergabe der Gene bedeutet, machen sich sowohl Betroffene als auch Außenstehende hierüber Gedanken. Derzeit geht die Forschung zwar davon aus, dass MS nicht vererbbar ist, eine genetische Disposition gibt es aber. Den Betroffenen wird zusätzlich oft auch die Verantwortung als potenzielle Eltern nicht zugetraut.
Man sieht an all diesen Fragen also, dass das Thema Sexualität ein sehr weites Spektrum umfasst.

Behinderte Menschen sind selbstbestimmte Menschen

Fakt aber ist: Zu einem selbstbestimmten Leben als Mensch mit Behinderung gehört auch die selbstbestimmte Sexualität! Auch für Betroffene gilt, dass es grundsätzlich keine Unterschiede in den sexuellen Bedürfnissen gibt, denn es ist ein Grundbedürfnis, das bei fast allen Menschen gleich ist. Flirten, Freundschaften, Beziehungen sowie Zärtlichkeiten und Sexualität gehören zu einem erfüllten Leben. Mit oder ohne MS!

Manche Betroffene leiden darunter, dass ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit und sexueller Lust unerfüllt bleibt und ihr Sexualleben eingeschränkt ist, obwohl sie in ihren sexuellen Empfindungen nicht beeinträchtigt sind. Selbst wenn sie durch die MS benachteiligt sind, kennen sie vielleicht das Gefühl der Lust und würden es gerne wieder erleben. Doch Sexualität, Liebe und Partnerschaft, Schwangerschaft und Familienplanung, Verhütung und Kinderwunsch haben oft wenig Raum in der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung. Dies ist sehr schade. Deshalb ist ein offener Umgang mit diesem Thema, auch in der Öffentlichkeit, umso wichtiger.

Ich wünsche Ihnen alles Liebe!

Herzliche Grüße
Heike Führ

Weiterführende Informationen

Weitere Hintergrund-Infos und Erklärungen sowie Tipps gibt es in meinem Buch:
Führ, H. 2014. Sexualität: Positive Tipps bei chronischer Erkrankung. Books on Demand.

Auch die folgenden Links sollen Ihnen weiterhelfen:

www.multiple-arts.com/mythen-bei-sexualitaet-und-ms/
www.multiple-arts.com/unsicherheiten-im-umgang-mit-sexualitat-bei-ms/
www.multiple-arts.com/intimitat-ist-mehr-als-sex-multiple-sklerose-und-sexualitat/
www.multiple-arts.com/sexualitaet-mit-ms-empfindungsstoerungen/