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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Unterstützung in schwierigen Zeiten: Es ist Zeit, Hilfe anzunehmen

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

In eine Situation, in der man hilfsbedürftig ist, kommt man oft schneller als gedacht. Menschen mit MS kennen das nur zu gut, und vor allem wissen sie, wie schwer es ist, Hilfe anzunehmen. Man möchte autark bleiben und selbstständig entscheiden dürfen. Das ist ein Grundrecht des Menschen, und der Wunsch danach ist tief in uns verankert. Zuzugeben, dass man Hilfe braucht, fällt uns vielfach schwer, und vor allem kratzt es manchmal empfindlich an unserem Selbstbewusstsein. Hilfe anzunehmen kann und sollte man aber lernen.

Wertschätzung trotz Einschränkung

Ich selbst kenne das auch: War ich doch immer eine patente Mama und Ehefrau und habe in meinem Leben alles selbst geregelt und nebenbei noch ehrenamtlich gearbeitet, Partys veranstaltet, Sport gemacht, und, und, und! Als dann meine Fatigue (diese abnorme Erschöpfung und Erschöpfbarkeit) Einzug in mein Leben hielt, war das ganz schnell vorbei. Hilflos musste ich oft mit ansehen, wie meine Selbstbestimmtheit teilweise in sich zusammenfiel – und ebenso hilflos musste ich mit ansehen, wie sich meine Lebensqualität verschlechterte. Das tat weh! Und weil ich nicht mehr die gewohnt leistungsfähige Person war, war mein Selbstbewusstsein plötzlich angekratzt.

Aber hier sind wir mitten im Thema, das ich heute beschreiben möchte: Wir dürfen uns selbst nicht weniger wertschätzen, nur weil wir „behindert“ oder „beeinträchtigt“ sind. Wir sind genauso viel wert wie jeder andere Mensch auch. Im Alltag ist das aber nicht ganz so einfach umzusetzen. Man muss wieder lernen, selbstbewusster zu werden bzw. mehr Selbststand zu entwickeln, und man kann und sollte dabei auch lernen, Hilfe anzunehmen!

Wenn Hilfe gebraucht wird

Mehrfach stand ich in meinem Leben bisher genau an diesem Punkt, und als Pädagogin war es mir dann ein Bedürfnis, zu recherchieren, wie man aus solch einem Tief herauskommt. Zum einen habe ich das mit meiner MS erlebt und zum zweiten durch die schwere Erkrankung meines Mannes, der an einem Gehirntumor (Glioblastom) mittlerweile leider verstorben ist. Mit 62 Jahren!

Da ich ihn zwei schwere Jahre lang begleitet habe – bis zu seinem letzten Atemzug – zickte die MS immer mal wieder gehörig auf, und ich war irgendwann an dem Punkt, an dem ich mir selbst eingestehen musste, dass ich es alleine nicht mehr schaffe und Hilfe brauche. Und das, OHNE mich schlecht zu fühlen oder mich abzuwerten.

Ein Netz, das mich aufgefangen hat

Ich hatte Glück und wurde liebevoll von meiner Familie, engen Freunden und vor allem von meiner Nachbarschaft versorgt. Sie erkannten schneller als ich, dass ich fit bleiben musste, um für meinen Mann da sein zu können, und webten mit der Zeit ein Netz, das mich aufgefangen hat. Zwei Nachbarinnen haben die große Gassirunde mit unserem Seelenhund übernommen, und Smiley freute sich schon jeden Mittag schwanzwedelnd auf seine beiden Gassi-Geherinnen. Eine andere Nachbarin kochte kurzerhand fast täglich für uns mit, zwei andere gingen einkaufen (denn es kam ja auch noch Corona dazu).

Ich wurde zur Ablenkung zu Kaffeekränzchen eingeladen und konnte in dieser Zeit Luft holen, wieder zu Atem kommen und mich entspannen. Als ich meinen Mann später aus krankheitsbedingten Gründen nicht mehr alleine lassen konnte, kam meine Mama und hat sich in dieser Zeit zu ihm gesetzt! Ich bin heute noch mehr als dankbar für diese wundervolle Hilfe.

Hilfe annehmen hilft auch anderen

Ganz ehrlich: Am Anfang war mir das alles so unendlich peinlich oder unangenehm; ich musste mir eingestehen, dass ich einen großen Einkauf nicht mehr schaffte, dass ich Kochen und Gassigehen ebenfalls nicht mehr schaffte, weil ich völlig mit der Pflege beschäftigt war – und meine MS in Schach halten musste. So lehnte ich auch die Beruhigungstabletten, die mir mein Neurologe gab, damit es zu keinem erneuten Schub kommen würde, nicht ab. Ich war irgendwann an einem Punkt, an dem ich mit mir selbst „ins Gericht“ gehen musste und klar reflektierte, dass ich Hilfe annehmen muss, um den Alltag mit meiner MS und einem unheilbar Kranken schaffen zu können.

Und mir wurde dabei auch Folgendes klar: Enge Angehörige und Freunde haben unsere schlimme Situation miterlebt und wollten nur eins: helfen! Ich überlegte dann auch, wie es mir gehen würde, wenn eine Freundin in solch einer Situation stecken würde und habe festgestellt, dass ich umgekehrt im Rahmen meiner Möglichkeiten genauso helfen würde und es vor allem auch WOLLTE! Das heißt, mit solch wundervollen Hilfsangeboten schafft man eine (neue) gute vertrauensvolle Grundlage der Mitmenschlichkeit und befriedigt auch jene, die helfen möchten! Ich beobachtete im Laufe der Zeit, wie sich alle Helfenden näherkamen, wie Absprachen getroffen wurden und diese wertvollen Menschen nun auch das Gefühl hatten, mir wirklich und äußerst sinnvoll helfen zu können.

Eine weitere Nachbarin war fast traurig, dass sie mich nicht auch unterstützen konnte, und nahm sich dann meines kleinen verwahrlosten Beetes im Vorgarten an, das kurzerhand wieder aufblühte! Irgendwann konnte ich all die Hilfe tatsächlich annehmen, und es kam sogar der wundervolle Punkt, an dem ich um Hilfe BITTEN konnte.

Eigene Schwächen kennen, an Stärke gewinnen

Es gibt Ausnahmesituationen im Leben von uns allen. Und auch jede MS verläuft unterschiedlich, sodass wir jeweils verschiedenartige Hilfe und Unterstützung benötigen. Es bricht uns „kein Zacken aus der Krone“, wenn wir um Hilfe bitten. Und es bedeutet auch nicht, dass wir dann nicht stark sind!

Denn echte Stärke zeichnet sich auch dadurch aus, dass man seine Schwächen kennt und zugibt. Sich Hilfe zu holen, ist ein sozialer Akt und zeugt von dem vielleicht abhandengekommenen „Selbststand“ – denn nur wer sich selbst sieht, wer sich wahrnimmt, kann auch selbstständig (!) für sich sorgen – und eben auch Hilfe annehmen.
Diese Stärke macht uns bewusster, dass wir wertvolle Menschen sind, die sich weder schämen noch verstecken müssen.

Weiterhin schafft es ein großes Vertrauensverhältnis, wenn man jemandem sagt, dass man gerne von ihm Hilfe annehmen würde. Dem anderen gibt das ein Gefühl von Wertschätzung – denn wenn wir ihn nicht schätzen würden, würden wir ihn auch nicht um Hilfe bitten, oder?

Selbstfürsorge für neue Kraftreserven

Ich hätte ohne diese umfassende Unterstützung diese zwei schweren Jahre nicht durchgestanden. Vermutlich hätte ich sogar einen schweren Schub gehabt, und wir wären beide im Pflegeheim gelandet. Wenn man als selbst schwerkranke und oft auch hilfsbedürftige Person plötzlich zum HELFER werden MUSS – und das auch noch in so einer niederschmetternden Situation – dann darf man sich eingestehen, dass man am Ende seiner Kräfte ist. Das ist kein Versagen, es ist lediglich eine Erkenntnis. Wertfrei zu betrachten. Nur eine Erkenntnis.

Nachdem man diese Erkenntnis gewonnen hat, darf man in guter Selbstfürsorge für sich planen und entscheiden – und hier ist es unumgänglich, auch Hilfe anzunehmen.
Zur Selbstfürsorge gehört es tatsächlich, für sich SELBST zu sorgen und zwar so, dass wir Kraftreserven bilden und aus unseren Ressourcen schöpfen können.

Ich habe in dieser Zeit gelernt, wie wichtig es ist, sich achtsam um sich selbst zu sorgen, eigene Ängste wahrzunehmen und sich diesen zu stellen, um dann die gewonnene Kraft durch Auszeiten wieder sinnvoll dem Anderen widmen zu können. Das gilt für alle Angehörigen von Schwerkranken gleichermaßen. Auch sie müssen lernen, Hilfe anzunehmen und sich nicht dauerhaft über ihre Grenzen zu belasten.

Achtsamkeit kann Berge versetzen

Als starke Frau war es für mich ein heftiger und sehr emotionaler Weg zuzugeben, dass ich Unterstützung benötige. Aber als ich es dann zuließ, konnte ich sehen, wie aus einer Hilfe eine andere wuchs und Menschen zusammenkamen. Unsere Nachbarschaft hat es nochmals gestärkt und mehr Zusammenhalt gebracht. Das hat mich sehr berührt.

Manchmal kann man Berge versetzen – in alle Richtungen und auf allen Ebenen – wenn man sich Beistand und Hilfe sucht und diese dankend annimmt! Auch diesen sozialen Gedanken darf man nicht vernachlässigen. So haben oft alle Parteien etwas von dieser Gemeinsamkeit, und sie hilft nicht nur dem Hilfesuchenden.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich auf den Weg machen, Hilfe anzunehmen und sich und Ihrer Partnerin/Ihrem Partner damit guttun!

Herzlichst Ihre
Heike Führ

Weitere Informationen

Führ, H. 2018. Hilfe Annehmen lernen, Abgrenzen & NEIN-Sagen: So macht uns unsere Schwäche stark. Taschenbuch, 200 Seiten, ISBN-10: 3746088445/ISBN-13: 978-3746088440.