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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Vorurteile über MS: …und wie man ihnen begegnen kann

Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 03/2020

Jede*r chronisch Kranke kennt es und jede*r MS-Betroffene ebenso: Vorurteile, die man sich im Lauf seines Lebens mit der Krankheit von unterschiedlichen Seiten anhören darf. Klar weiß man, dass es dann das Beste ist, ruhig zu bleiben und, je nach Situation, mehr oder weniger ausführlich zu antworten – soweit zumindest die Theorie. In der Praxis überwältigen uns allerdings oft Gefühle, die in uns „etwas auslösen“ oder „irgendetwas mit uns machen“. Ich habe seit 26 Jahren MS und kann längst nicht immer gelassen auf unschöne Kommentare reagieren – aber ich übe!

Wie kommen die Vorurteile zustande?

Zunächst ist es sicher Unwissenheit, die zu Vorurteilen führen kann. Die sogenannten 1000 Gesichter der Krankheit mit den unterschiedlichen, individuellen Verläufen und teils schwerwiegenden, aber oft auch unsichtbaren Symptomen machen es Nicht-Betroffenen vielleicht nicht einfacher, dafür ein Verständnis zu entwickeln, und so hat die breite Öffentlichkeit bis heute eher unklare Vorstellungen über MS. Die daraus resultierenden Reaktionen, Kommentare, Handlungsanweisungen oder Empfehlungen, die man sich als Betroffene*r im Freundes- und Familienkreis, am Arbeitsplatz oder in anderen Alltagssituationen anhören muss, sind dann zunächst bestenfalls ungeschickt, können aber auch schnell zu Ignoranz, Angst und Ablehnung und damit zu handfesten Konsequenzen im sozialen Umfeld führen.

Gängige Vorurteile bei MS

Eine sehr gängige, falsche Annahme ist, dass die Krankheit „Muskel-Schwund“ bedeutet. Die Auffassung, dass MS ansteckend sei, ist leider nach wie vor auch weit verbreitet – und auch das Vorurteil, dass man an MS sterben könnte oder wird (was statistisch gesehen eher selten der Fall ist), hält sich hartnäckig.

Weitere gängige Vorurteile sind:

  • Alle MS-Betroffenen landen im Rollstuhl und können kein geregeltes Leben führen.
  • Mit MS kann man/sollte man keine Kinder bekommen.
  • Mit MS darf man keinen Sport treiben und sollte sich schonen.
  • MS ist eine psychische Erkrankung.
  • MS geht immer mit einer Lähmung einher.

 Unschöne Kommentare

Menschen urteilen auch dann vorschnell, wenn man diesem Bild oder Verständnis nicht entspricht und ein ihnen unerwartetes Verhalten zeigt. Auf meiner Facebook-Seite Multiple Arts habe ich vor drei Jahren eine Umfrage gestartet, um herauszufinden, was sich Betroffene an unschönen Kommentaren so anhören müssen. Es kamen über 300 Antworten zusammen! Ich fasse hier einmal ein paar dieser Kommentare zusammen und wünsche Ihnen schon jetzt, dass Sie sich solche Sätze nicht oft anhören müssen – und wenn, dass Sie gut und gelassen reagieren können.

  • „Der Onkel meiner Cousine 4. Grades hat auch MS… Dem geht‘s aber gut! (Onkel und Cousine lassen sich in beliebiger Weise austauschen – weil anscheinend jeder jemanden kennt, der MS hat und dem es gut geht. Nur, dass MS nicht gleich MS ist – das raffen die eher nicht!)“.
  • „Du bist eine Schlafmütze!“
  • „Geh ins Fitnessstudio, dann bleibst du mobil!“
  • „Müde von Fatigue, Schmerzen, Schwindel, Zittern, unruhige Beine (RLS) oder Ähnlichem…. Ja, das habe ich auch ab und zu. (Follower: „Nur blöd, dass ich das jeden Tag habe und nicht nur ab und zu!“).
  • „Man sieht es dir nicht an.“
  • „Müde bin ich auch.“
  • „Du bist krankgeschrieben und sitzt wohl den ganzen Tag in der Sonne!“
  • „Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mal mehr nach draußen gehen. Wenn ich den ganzen Tag auf der Couch liegen würde, wäre mir auch nicht gut!“
  • „Treibe mal mehr Sport, du musst einfach nur fitter werden!“
  • „Dein großes Problem ist deine Psyche und nicht die MS...!“
  • „Greif mal fest zu, dann geht das auch!“
  • „Ich habe auch Schmerzen und muss da durch!“
  • „Du bist faul. Gehe arbeiten, dann geht es dir gut!“
  • „Warum brauchst du eine Reha? Du kannst doch noch laufen – so schlimm ist eine MS doch auch nicht!“
  • „Iss mehr Obst, das hilft!“
  • „Du musst mehr Sport machen, dann wird das auch besser!“
  • „Musst mal abspecken, dann geht es dir auch besser.“
  • „Stell dich nicht so an, es gibt andere, denen es viel schlechter geht!“
  • „Schlaf dich mal wieder richtig aus!“

Mein jüngstes Beispiel: Ich hatte gerade einen sehr netten Handwerker zu Hause, der mir auch demnächst hier noch einiges machen wird. Ihm erklärte ich kurz, dass ich kein normales Tempo schaffe und wir es deshalb langsam angehen müssten, da ich MS hätte. „Ach“, sagte er, „das ist doch keine so schlimme Krankheit“, und schaute mich von oben bis unten an, nach dem Motto: „Sie sieht doch völlig gesund aus!“

Ich habe ihm dann knapp von meiner ausgeprägten Fatigue erzählt, aber das kam überhaupt nicht an. Kurz fühlte ich mich wirklich verletzt – denn wer keine Ahnung hat, sollte sich doch einfach zurückhalten. Dann überlegte ich, was der Mann eigentlich gesehen hatte: eine vor ihm stehende, lächelnde, lebendige Frau – und diese sollte krank sein? Schwer krank?

MS hat 1000 Gesichter – das wissen WIR, aber Außenstehende eben oft nicht. Und weil ich mich so oft schon unverstanden gefühlt habe, habe ich mit dem Schreiben und Bloggen begonnen. Ich möchte Aufklärungsarbeit leisten, um Missverständnissen und somit oft auch psychischen Verletzungen vorzubeugen.

Was können Vorurteile bewirken?

Vorurteile stiften Verwirrung und können tieftraurig machen. Nicht jeder Mensch ist mit einem besonders großen Selbstbewusstsein gesegnet, um solche Sprüche an sich abprallen zu lassen. Oft ist es ja auch so, dass einem die passenden Antworten dazu eher im Nachhinein einfallen…

Durch Vorurteile kann man zu Unrecht beschuldigt werden. Sieht man „nicht krank“ aus, wird man als Simulant*in bezeichnet. Nimmt das Umfeld dagegen an, die Betroffenen würden bald im Rollstuhl landen, werden sie vorschnell als nicht mehr „funktionsfähig“ im Job angesehen – mit etwaigen negativen Konsequenzen, die bis hin zu einem Verlust des Arbeitsplatzes reichen können. Die Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung kann damit buchstäblich lähmen – und ständige Rechtfertigungen, denen man sich ausgesetzt sieht, können müde und mutlos machen.

Sitzt man im Rollstuhl und wird nur aufgrund dieser Tatsache für „unfähig“ erklärt, dann tut das ungemein weh. Zum Problem wird es auch dann, wenn man die Vorurteile der anderen verinnerlicht, also das Fortschreiten der Krankheit etwa auf die eigene Willensschwäche zurückführt – man hätte sich ja nur anstrengen, bemühen müssen. Mit Schuld hat Krankheit aber nun wirklich nichts zu tun, von solchen Gedanken muss man sich also dringend verabschieden.

Wie sollte man reagieren?

Am besten ist es, wenn man möglichst gelassen und ruhig bleibt, sich selbst umfassend über die eigene Krankheit informiert und „fake news“ klar entgegentritt – Aufklärung ist noch der beste Weg zum Abbau von Vorurteilen.

Meine damaligen Arbeitskolleg*innen hatten zunächst wenig Verständnis, als ich ihnen dann aber ein MRT-Bild von meinem Gehirn zeigte und sie nun definitiv SEHEN konnten, dass dort etwas ist, was nicht hingehört, konnten sie meine meist unsichtbare MS besser BEGREIFEN.

Auch Texte wie diesen kann man ausdrucken und Menschen, die einem etwas bedeuten, liebevoll in die Hand drücken. Denn gerade nahen Angehörigen und Freund*innen möchte man ja auf Augenhöhe begegnen und manchmal brauchen diese einfach etwas mehr Informationen. Viele Betroffene geben ihren Angehörigen auch meine Bücher, und wenn sie dann gelesen werden, finde ich das wundervoll. Auch auf meinem Blog können Sie in der Suchleiste Themen angeben und verschiedene Vorschläge zu Artikeln abrufen. Mein Mann hat sogar eigens ein Lied zum Thema arrangiert, auch das finden Sie auch auf meinem YouTube-Kanal.

MS zu haben kann bedeuten, dass man sich sehr schlecht fühlt, auch wenn man aussieht wie das „blühende“ Leben. Ich finde es besonders schlimm, mich ständig rechtfertigen zu müssen – wenn ich quasi beweisen muss, wie „behindert“ ich bin, obwohl ich eigentlich nur eins möchte: GESUND sein. Gerade wenn man wie ich hauptsächlich unter den unsichtbaren Symptomen der MS leidet, ist das eine sehr große Aufgabe und wird manchmal fast anstrengender als das Symptom an sich!

MS zu haben, heißt aber auch nicht, dass man keinen Spaß mehr haben kann, im Gegenteil! Denn eins ist klar: Wir sind nicht DIE KRANKHEIT, wir sind WIR SELBST! Die Krankheit ist da, aber deswegen sind wir immer noch möglichst autonome und vor allem liebevolle Partner*innen/Freund*innen und kompetente Kolleg*innen.

Herzliche Grüße, alles Gute und viel Mut, auch mal etwas zu erwidern!

Heike Führ

Weiterführende Links

Zum Thema „Vorurteile bei MS“ habe ich auf meinem YouTube-Kanal ein Video eingestellt und auch ein paar Tipps gegeben:
www.youtube.com/watch?reload=9&v=Nu5VwzHh6O0
Die gesammelten unschönen Kommentare können Sie hier herunterladen: www.multiple-arts.com/pdf-unschone-spruche-kostenlos-zum-runterladen