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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Auf den Brettern, die die Welt bedeuten

Petra Orben, Blickpunkt-Ausgabe 01/2015

„Richtiges Theaterspielen mit Text lernen und so, das ist nichts für mich. War es noch nie. Aber Improvisationstheater machen, das kann ich bestimmt gut. Da muss man ja nur Alltagssituationen simulieren und nachstellen.“

Das waren seit jeher meine klugen Worte, was ein Leben auf der Bühne betrifft. Schon in der Schule habe ich mich nicht darum gerissen, aktives Mitglied in der Theater-AG zu werden. Zu kompliziert diese Auswendiglernerei. Nur einmal war ich in einem kleinen Stück als passive Mitspielerin ohne Text zu sehen, an einem Tisch sitzend und Hähnchen (!) essend. Da sah ich doch eher meine Zukunft beim Improvisationstheater, wenn überhaupt. Denn das bisschen Improvisieren konnte schließlich nicht so schwer sein, oder? Einschlägige TV-Formate hatten einem dies ja zur Genüge erfolgreich und immer sehr amüsant vorgemacht. Aber in den vielen Irrungen und Wirrungen meines Lebens sind sämtliche Pläne dieser Art für viele Jahre in der Versenkung verschwunden. Doch weil ich immer ein offenes Ohr und ein wachsames Auge für die Dinge um mich herum habe, ist mir im letzten Jahr völlig zufällig ein Flyer vom Tanzhaus NRW in Düsseldorf in die Hände gefallen: „Experimentelles Bewegungstheater und schöpferische Improvisation“. Oh, interessant! Das könnte ja was für mich sein!

Weil ich Genaueres wissen wollte und natürlich um zu fragen, ob eine Teilnahme mit Rollstuhl überhaupt möglich ist, rief ich Paul Hänel an, den Leiter dieses Projektes. Er habe nur wenig Erfahrung mit theaterspielenden, behinderten Menschen, war seine freundliche Auskunft, er sei aber offen für alles. Und wie der Zufall es so wollte, fand vierzehn Tage später ein Wochenendworkshop statt. Dieser sollte eine Möglichkeit zum Kennenlernen von Improtheater (wie es kurz genannt wird) sein. Gleichzeitig war besagter Workshop der Beginn einer sich anschließenden Jahresgruppe. Zu dieser konnte man sich dann anmelden, wenn man es denn wollte, egal ob neu in dieser Szene oder schon seit Jahren dabei. Er schlug mir vor teilzunehmen, um gemeinsam mit den anderen Mitspielerinnen und Mitspielern auszuprobieren, was mit Rollstuhl geht und was nicht. Das war ja günstig! Klar wollte ich das!

Was ist das eigentlich: „Experimentelles Bewegungstheater und schöpferische Improvisation“?

Um nicht ganz so unvorbereitet dort zu erscheinen, habe ich mich ein wenig schlau gemacht. „Die Theaterbühne ist ein magischer Raum, in dem Dinge geschehen, die nicht vorhersehbar sind. Sie entstehen spontan aus der Lebendigkeit der Spielenden. Aus Achtsamkeit sich selbst und den Mitspielern gegenüber werden während der Improvisation die Rollen und Spielhandlungen geschöpft. Das Spiel aus der Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks heraus führt zu spannenden, komischen, berührenden, absurd-grotesken, etc. Geschichten, die einzigartig sind“ (www.paul-haenel-theater.de).

Aha, das hörte sich gar nicht so schwer an. Das mache ich mal! Und lustig scheint es ja auch zu sein.

Erste Versuche

Nun gut. Ganz so einfach, wie ich mir das vorgestellt hatte, war es dann natürlich doch nicht. „Sei mal wütend auf deinen Freund, der dich soeben verlassen hat“ – so ein Szenario kenne ich. Das kann ich bestimmt gut aus dem Ärmel schütteln und darstellen, dachte ich mir. Aber weit gefehlt. Es geht nämlich nicht nur um ein bloßes Nachstellen von bereits bekannten Situationen. Beim Improtheater geht es vielmehr um den ganz persönlichen Ausdruck in Stimme, Sprache und Bewegung, um Spontanität und „Mut zur Lücke“. Auch spielen hier echte Gefühle eine große Rolle. Also nicht mal eben nur so tun als ob, sondern sich wirklich in die jeweilige Situation reinfallen lassen. Auch wenn sie einem noch so fremdartig, seltsam, absurd oder unbekannt erscheint.

An besagtem Wochenende fand ich mich in einer Szene mit fünf Mitspielerinnen und Mitspielern „im Wald“ wieder und sollte einen Pilz darstellen. Diese Rolle wurde mir von den anderen „mal eben“ zugewiesen. Das ging ja schon gut los! Was jetzt?! Was fühlt ein Pilz? Wie ist seine Stimme und was spricht so ein Gewächs überhaupt? Kann er sich bewegen? In meinem Verständnis sind Pilze auf dem Boden festgewachsen, also völlig bewegungslos. All diese Fragen während unserer kleinen Darbietung zeigten mir ganz deutlich, dass ich schon gleich zu Beginn mit meiner Kreativität und meinem Ideenreichtum am Ende war. Shit! Das ging aber schnell! Und wir hatten noch etwa zehn Minuten Spielzeit. Hilfe! Was tun? Ich war noch nie ein Pilz! Irgendwie habe ich dann aber doch etwas hinbekommen. Ich war ein eher schweigsamer Pilz, der wie angewurzelt am Boden klebte. Das war alles Stress pur für mich! Das gab‘s doch gar nicht! Ich konnte mir in dieser Szene nicht mal eben irgendwas aus den Rippen leiern. Keine Phantasie! Mein Weltbild bezüglich meiner Fähigkeiten und meiner Talente kam an diesem Wochenende – in nur einem einzigen Setting (!) – total ins Wanken. Kreative Ideen gleich null! Dies wahrzunehmen war für mich kein angenehmes Gefühl, wo ich doch immer dachte, ich sei so cool und könnte alles mit links. Pustekuchen! Mann, fühlte ich mich schlecht und irgendwie matt.

Ich zitiere ein weiteres Mal Paul Hänel, den Leiter des Projektes:

„Die Theaterbühne ist ein Bewusstseinsfeld unbegrenzter Möglichkeiten. Wenn wir mit dem Bewusstsein in unserem Herzen sind, öffnet sich ein kreativer Kanal, durch den sich die Lebensenergie – in all ihren vielfältigen Gefühlsqualitäten – spielerisch ausdrücken kann. Wir experimentieren mittels gezielter Übungen aus dem Improvisationstheater und körperbezogener Meditation, um das schöpferische Potenzial aus den tieferen Schichten jenseits des Verstandes zu aktivieren.“ (www.paul-haenel-theater.de)

Ich fasse es in meine Worte:

  • Bewusstheit in unserem Herzen fördert die eigene Kreativität.
  • Sich endlich mal was trauen und Mut zur Lücke haben.
  • Auch einfach mal etwas spielen, was auf den ersten Blick vielleicht keinen Sinn macht. Das heißt, sich zum Beispiel auch als Pilz in Bewegung setzen und umherlaufen (bzw. umherfahren).
  • Das Kopfkino außen vor lassen.

Das mit dem „Kopfkino“ scheint ein wichtiger Punkt zu sein. Vielleicht der wichtigste überhaupt. Es ist unbedingt vonnöten, während des Spielens den normalen Alltag zu Hause zu lassen. Alle Regeln, Strategien oder kopflastige Gedanken, die im Normalfall unser Alltagsleben bestimmen, haben beim Improtheater einfach mal Pause. Und dies macht es so „genial schön“, „echt lustig“ und „völlig entspannend“, wie mir langjährige Improspieler und -spielerinnen immer wieder erzählen. Und wenn ich besagte „Langjährige“ bei ihren Spielaktionen beobachte, dann sprühen sie förmlich vor kindlicher Freude, Lebendigkeit, Witz und Ideen. Na, da hatte ich ja meinen ersten Ausflug in die Improtheaterwelt gründlich versemmelt!

Der Jahreskurs

Trotz der etwas denkwürdigen Erlebnisse meiner Darstellung als schweigsamer, bewegungsloser Pilz habe ich mich entschieden, den Jahreskurs zu belegen (der von Oktober 2014 bis September 2015 geht). Ich möchte unbedingt noch einiges in diesem Improtheatermilieu lernen. Und zwar, wie ich es hinbekommen kann, dass ich mich in Szenen nicht so gestresst fühle, wenn mir nichts Kreatives einfällt. Ich möchte lernen, mutiger im Spiel zu werden. Oder lernen, wie ich es schaffen kann, mich nicht so unter Druck zu setzen, wenn ich mal wieder der Meinung bin, ich müsste „auf Teufel komm raus“ eine supergute Mitspielerin für die anderen sein. Und Spaß beim Improvisieren hätte ich auch noch gern. Unterm Strich können all diese Erfahrungen für das „normale Leben“ ja nur gut und hilfreich sein. Super, gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen! Wenn ich mir die Inhalte für den Jahreskurs anschaue, bin ich begeistert:

  • Hemmungen und Blockierungen abbauen
  • all die unterdrückten Persönlichkeitsanteile wahrnehmen und ausagieren
  • sich selbst im Spiel überraschen und jede Menge Spaß haben
  • sich selbst und andere durch das gemeinsame Spielen besser kennenlernen.

Weitere Bühnenerfahrungen

Die Zeit vergeht echt schnell. So manches Mal bin ich nach einer Montagabendeinheit ganz beschwingt nach Hause gefahren. „Was war ich doch gut! Lustig war’s!“ Aber so manches Mal fühlte ich mich ziemlich frustriert, weil ich eben nicht meine Hemmungen abbauen konnte, weil ich keinen Spaß beim Spielen hatte, und ich weder mich noch die anderen besser kennengelernt hatte. Aber mit der Zeit kriegte ich immer mehr raus, wie der Hase so läuft. Ich bin ja jetzt schon seit mehreren Wochen dabei. Ach übrigens, das mit dem Rollstuhl ist für meine Mitspieler und Mitspielerinnen gar kein Problem. Ebenso wenig für mich.

Die Kunst beim Improvisieren besteht unter anderem auch darin, ganz aufmerksam zu sein, sich in sich und gleichzeitig in die anderen mitspielenden Personen einzufühlen, zu hören was diese wie sagen und auch Sprechpausen zu akzeptieren. Aber vor allen Dingen die Ruhe zu bewahren, auch wenn das Gefühl da ist, in einer Szene nicht weiterzukommen. Manchmal ignorieren Mitspieler einen sogar, weil man im Spiel bei denen nicht andocken kann. Es geht um ein wirkliches Miteinander, um Kommunikationsformen und um Achtsamkeit.

Herausforderung pur für mich!

Improtheater packt mich genau da, wo es weh tut! Ich bin nicht immer aufmerksam anderen gegenüber. Ich lasse andere nicht immer ausreden, falle ihnen ins Wort oder höre nicht richtig zu, weil ich ja meine „eigene“ Auffassung von dem habe, wie der andere am besten sein sollte. Wie schnell geht dadurch einiges unter. Aber wenn ich mich wirklich aufs Improspielen einlasse, kann ich echt viel über mich selbst erfahren und tatsächlich jede Menge dazulernen. Wie wirke ich auf andere? Wie wirken andere auf mich? Passt meine allgemeine Erscheinung zu meinem Auftreten? Stimme zu hoch? Oder zu leise wie eine graue Maus? Wie flexibel bin ich eigentlich? Wie gut kann ich Stille im Kontakt mit anderen aushalten?

Was gibt es noch zu sagen?

Ich muss meinen Ausspruch: „Aber Improvisationstheater machen, das kann ich bestimmt gut. Da muss man ja nur Alltagssituationen simulieren und nachstellen“, unbedingt zurücknehmen. Mittlerweile bin ich zu der Erkenntnis gekommen, das Auswendiglernen von Texten und die anschließende Bühnendarstellung sind zwar nicht super easy, aber die Königsdisziplin ist für mich ganz klar das Improtheater. Denn da kann ich nicht mal eben irgendwas aus dem Ärmel schütteln, wie irrtümlich angenommen. Ich muss wirklich den Mut haben, mich auf alles einzulassen und mich trauen, mich mit meiner ganzen Persönlichkeit darzustellen. Ach ja, und bereit sein, alle meine Hemmungen und Blockierungen über Bord zu werfen.

Also, Bühne frei...

Herzlichst Ihre
Petra Orben