Skip to main content

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Wenn die Füße Schwierigkeiten mit Höhe bekommen: Funktionelle Elektrostimulation als Hilfsmittel bei Fußhebeschwäche: ein Erfahrungsbericht

Von einem Mitglied, Blickpunkt-Ausgabe 4/2017

Das Leben besteht aus einem Kreislauf von Wandlungsphasen: Es versucht uns immer aus unserer Mitte zu treiben, und die Herausforderung ist es, zurück in die Mitte zu kommen. Schlägt es dich zu weit aus deiner Mitte, wirst du krank. Das habe ich durch erste Einblicke in die traditionelle chinesische Medizin während meines Studiums in China gelernt. Seit meiner MS-Diagnose vor 20 Jahren habe ich einen anderen Blick auf die Wandlungsphasen in meinem Leben gewonnen. Meine sind anders als die von Anderen. Anders als die von Gesunden, aber auch anders als die von anderen MS-Kranken — das ist einfach so bei der Krankheit mit den 1.000 Gesichtern. In den letzten Jahren spüre ich vor allem immer mehr Wandel in meiner Mobilität. Ich kann immer kürzere Strecken laufen und seit dem letzten Jahr kommt auch noch ein verändertes Gefühl für die Bewegungen selbst dazu. Ich kann Treppen nicht mehr richtig laufen und bin schon einige Male beim Treppensteigen hängengeblieben.

Wenn ich die Hände voll habe oder gerade kein Geländer in der Nähe ist, lege ich mich auch schon mal flach hin. Bis auf ein paar Blessuren, wie einem blutigen großen Zeh nach einem heftigen Tritt an eine Steinstufe auf dem Weg in mein Büro, ist bislang nichts Schlimmes passiert. Mit Türschwellen habe ich inzwischen aber einen besonders fiesen neuen Gegner gefunden, mit dem ich jetzt fast täglich zu tun habe. Mal mit, mal ohne Blut, aber oft mehr als nur nervig.

Dieses Jahr war ich im Urlaub in Dänemark mit meiner Frau und meinen beiden Töchtern. Die Kleine ist jetzt schon neun und hatte mein Problem mit den Türschwellen in unserem Ferienhaus ein paar Mal mitbekommen. Seitdem sprang sie immer zu mir, wenn ich durch das Haus lief und kündigte für mich die Türschwellen mit „da ist eine, Papa“ oder einfach „Achtung“ an — ob es abends auf meinem Weg ins Kinderzimmer zur Gute-Nacht-Geschichte oder morgens vor unserem Start vor die Tür war. Ich wünschte mir auch andere Helfer, um mit diesem Wandel besser umzugehen. Es gibt viele Innovationen und Ankündigungen auf Seiten der Medikation, aber auch der Hilfsmittel in der Medizintechnik. (Meine Kollegin Ira hatte letzte Woche eine total verrückte Idee, die mir sehr gut gefiel, dass es vielleicht schon bald ein Shampoo gibt, dass einem bei Kopfwäsche die Nervenbahnen reinigt und dabei das Myelin wiederherstellt. Aber fangen wir etwas einfacher und realistischer an.)

Neue Möglichkeiten bei Hilfsmitteln: funktionelle Elektrostimulation

In Deutschland habe ich mich in letzter Zeit intensiv mit Hilfsmitteln beschäftigt. Mit Holger Kranz aus dem Vorstand der MSK e. V. teile ich komplett die Sicht, dass ein Großteil der MS-Kranken in Deutschland mit Hilfsmitteln unter- oder schlechtversorgt ist. Das liegt an vielem, aber aus meiner Sicht vor allem an der rasanten Entwicklung neuer Möglichkeiten im Bereich der Hilfsmittel, mit der weder die Krankenkassen, die Neurologen noch Physiotherapeuten oder das Gros der Sanitätshäuser Schritt halten können. Inspiriert durch die Berichterstattung über Exoskelette war ich dieses Jahr an meinem Geburtstag auf der Rehab-Messe in Karlsruhe und konnte dort die Innovationsschübe der letzten Jahre bei technischen Hilfsmitteln entdecken. Vom Exoskelett — einer Idee, wie selbst Querschnittgelähmte mit Unterstützung eines „robotischen Anzugs“ wieder laufen können, der ich große Chancen in unserer Gesellschaft, und zwar nicht nur für Querschnittsgelähmte oder MS-Kranke, zuspreche — über E-Mobility-Ansätze aller Art bis hin zum Elektro-Impulsgeber zur Unterstützung bei Fußhebeschwäche. Die Unterstützung meiner Fußhebeschwäche durch Elektro-Stimulation war dann ein wichtiger und gefühlt einfachster Ansatz für mich.

Über eine Anzeige in einer MS-Zeitschrift wurde ich auf ein Produkt zur funktionellen Elektrostimulation (FES) aufmerksam und befasste mich mit dem Thema. Der Peroneusnerv steuert das Anheben der Fußspitze. Fällt er aus, zum Beispiel durch einen Schub, kommt es zu einer Fußhebeschwäche: Die normalen Bewegungsimpulse werden nicht mehr richtig übermittelt und der Fuß lässt sich schwerer bis nicht mehr anheben. Durch Elektrostimulation kann der Nerv stimuliert und somit das Gangbild wieder verbessert werden. Die aktuellen Erkenntnisse aus der neurologischen Forschung (Stichwort Neuroplastizität) zeigen, dass das Gehirn bis ins hohe Alter in der Lage ist, Bewegungsmuster wieder zu erlernen. Damit können die Elektroimpulse als alltägliche Therapie eingesetzt werden: sowohl beim Laufen als auch als Training beispielsweise im Sitzen. Wichtig ist – wie oft bei Therapien für MS-Patienten –, dass es auch hier keine Garantie gibt und die Funktionsfähigkeit erst einmal individuell ausgetestet werden muss.
Bei meiner Internetrecherche habe ich folgende in Deutschland verfügbare Produkte entdeckt:
• Bioness/Mygait von Ottobock aus Deutschland
• InnoSTEP-WL von Heller Medizintechnik aus Deutschland und
• WalkAide aus USA
Nach meiner ersten Recherche schloss ich Bioness/Mygait für mich aus, da sie zusätzlich zum Kontakt unterm Knie noch einen zusätzlichen Kontakt an der Ferse erfordern.
Nach meinem Test mit den anderen beiden Geräten komme ich für mich zu im Folgenden notierten Ergebnis.

Produkte WalkAide und InnoSTEP-WL

Die Stimulation des Peroneusnervs erfolgt über eine Manschette mit Elektroden, die unter dem Knie um die obere Wade angelegt wird. Das InnoSTEP-WL ist dabei die deutlich schlankere Lösung (siehe Abbildung 1), die a) unter einer Hose kaum auffällt und b) auch keine extra weite Hose braucht, um überhaupt darunter zu passen.

Funktionsweise und Beratung
Beide Produkte funktionieren nach dem gleichen Prinzip, aber etwas unterschiedlichen Methoden. Das WalkAide wird von einem Experten (z. B. im Sanitätshaus) individuell mit zwei Gel-Elektroden am Unterbein angelegt, an der richtigen Position in der Manschette justiert, fixiert und anschließend eingestellt. Das InnoSTEP-WL kann entweder ebenso mit Gel-Elektroden oder mit einer einfacheren, vollflächigen Klickmanschette angelegt werden, die vorher für die Leitfähigkeit mit Wasser besprüht wird. Beide Produkte sind in der Lage, sich auf das eigene Gangmuster auszurichten. Der Elektro-Impuls wird dadurch im genau richtigen Moment geschickt, in dem auch die Fußhebe-Funktion gebraucht wird. Auch hier wird die Ersteinstellung vom Experten übernommen (Heller arbeitet über den Direktvertrieb – der Berater kommt für die Vorstellung und den ersten Test direkt vor Ort). Die Stromstärke wird beim WalkAide direkt am Produkt über einen Drehregler eingestellt. Das InnoSTEP-WL hat eine moderne OLED Fernbedienung, mit der sowohl die Stromstärke als auch der Modus (Gang oder Training) geregelt wird.

Test vor Kauf
Wie schon oben geschrieben, empfehle ich vor Kauf oder Beantragung bei der Krankenkasse einen persönlichen Test (auch „ohne Aufsicht“, soll heißen im persönlichen Alltag). Für eine Beantragung als Hilfsmittel bei der Krankenkasse haben beide Anbieter zwar einen Standard-Test: Das Produkt wird angelegt und auf einer kurzen Wegstrecke (circa zehn Meter) getestet. Wenn der Peroneusnerv anschlägt, ist das ein erstes positives Zeichen für die Funktion. Danach sollte man aus meiner Sicht mindestens noch ein Wochenende mit dem Produkt im Alltag verbringen. Beide Hersteller bieten auch eine kostenpflichtige Testphase über einen bis drei Monate an. Bei WalkAide kostet ein Monat circa 500 Euro. Beim InnoSTEP-WL gibt es nur einen dreimonatigen Test für circa 1.500 Euro, der aber — anders als beim WalkAide — auf den Kaufpreis angerechnet wird.

Betrieb
Das WalkAide wird mit Batterien betrieben, die natürlich auch ihren Platz im Produkt fordern, aber einfach ausgetauscht werden können. Das InnoSTEP-WL muss sowohl an der Manschette als auch an der Fernbedienung über ein externes Netzteil aufgeladen werden. Damit ist es die modernere Lösung, erfordert aber auch unterwegs einen Netzanschluss.

Preis
Wer das Produkt nicht über die Krankenkasse beantragt, ist in der Regel noch mehr am Preis interessiert. Das InnoSTEP-WL von Heller Medizintechnik liegt bei circa 3.400 Euro, das WalkAide bei circa 5.300 Euro.

Mein persönliches Fazit

Schon alleine der Trainingsmodus, der auf die letzten Erkenntnisse in der Neuroplastizität aufbaut, lohnt für mich den Test für alle Betroffenen. Ich habe einen Bürojob und sitze entsprechend tagsüber lange am Schreibtisch. Das Gerät von Heller kann ich beim Arbeiten durch einfachen Knopfdruck durch die Hose aktivieren und mit der Fernbedienung das Training starten. Die Entwicklung von der klassischen Orthese zur hightech-funktionellen Elektrostimulation ist einer von vielen großen Schritten der jüngeren Medizintechnik. Laut jüngsten Berichten entdecken die Krankenkassen selbst zum Glück immer mehr die Vorteile für die Patienten und bewilligen auch moderne Hilfsmittel. Die Techniker Krankenkasse wirbt aktuell mit „Moderne Hightech Lösungen für unsere Versicherten“. Es ist aber noch ein langer Weg, bis die neuen Möglichkeiten der modernen Medizintechnik wirklich von den Krankenkassen breit gestützt und auch bei den Neurologen, Physiotherapeuten und anderen wichtigen Beratenden angekommen sind, aber die Mühe lohnt sich. Ich habe auf jeden Fall einen Traum: Ich will weiter Laufen.