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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Moderne Medizintechnik und MS, Teil 3: Smarte Apps für smarte Nutzer – Ein neues Paradigma zum individuellen Verstehen von MS?

Tom Foell, Blickpunkt-Ausgabe 03/2021

Vom Papier-Tagebuch zum digitalen Begleiter. Meine Diagnose kam 1997 für mich gefühlt mit dem Start des digitalen Wandels. Ende der 90er gab es zwar noch kein ständig und überall verfügbares Internet, aber zumindest PCs und sogar mobile Geräte (Notebooks), mit denen ich von Anfang an meinen Krankheitsstatus protokollieren konnte. Das tat ich auch in gewisser Regelmäßigkeit – d. h. immer bei einem Schub oder wenn es mir einfach schlecht ging. Ich protokollierte in einer Datei, die ich passwortgeschützt auf meiner Festplatte speicherte. Ich musste immer wieder mal suchen, wo sie ist, und hoffen, dass sie nicht verloren oder kaputt geht. Daneben schrieb ich unterwegs auch öfter mal in ein kleines Papier-Notizbuch. Das tippte ich bei Gelegenheit wieder in die geschützte Datei.

Mit der Zeit wurde alles immer digitaler. Ich wollte nicht, dass jemand meine Papiernotizen las, und konzentrierte mich irgendwann komplett auf die Datei. Mit Google Drive speicherte ich sie dann in der neuen „Google Cloud“ und machte mir wenig Gedanken zur Datensicherheit. Aus mehr als 20 Jahren digitaler Erfahrung weiß ich mittlerweile, dass Datenschutz im Internet ein heikles Thema ist. Das macht mich zunehmend sensibel in der Nutzung von digitalen Diensten, obwohl ich auch ein großer Fan der Vorteile bin. Ich kann (nahezu) überall auf mein Protokoll zugreifen und muss auf Reisen noch nicht einmal viel dabeihaben. Das Protokoll habe ich vor allem für mich gemacht. Meine Ärzte und Therapeuten haben sich – trotz Angeboten – nicht wirklich dafür interessiert. Sie hatten nie groß Zeit. Um fair zu sein: Ich glaube, mein Neurologe und auch meine Physiotherapeuten können so etwas einfach nicht abrechnen und sich das finanziell in einem auf Abrechnung getrimmten Gesundheitssystem gar nicht leisten. Mein Neurologe interessiert sich zu 80 bis 90 Prozent dafür, welche Medikamente ich nehmen soll/kann. Mit meiner SPMS kann er aktuell kaum helfen – max. mit Medikamenten für die Erleichterung der Symptome. Nebenwirkungen sind und waren bislang meist dabei. Und mein Physiotherapeut hat keine Zeit zu lesen, aber geht zumindest auf meine akuten Beschwerden ein – mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.

Durch die zunehmende Kommerzialisierung im „Krankheitssystem“ (s. Sven Böttcher) werde ich immer kritischer mit der engen Verbindung zwischen den Krankenkassen und der Pharmaindustrie – man möge mir verzeihen.

Die „heile(nde) digitale Welt“ – der Umgang mit privaten Daten und wem das helfen soll/kann

Die großen Pharmakonzerne sind auch diejenigen, die im digitalen Fortschritt mit ihren Inhalten (Content), modernen Tools (z. B. Apps wie Cleo von Biogen) und großen Werbebudgets stark sichtbar sind. Das digitale Marketing der großen Konzerne (von A wie Avonex über B wie Biogen bis T wie Teva) erscheint mir aber wenig selbstlos. Die Patientenzentrierung geschieht – ganz nachvollziehbar – zur Förderung der eigenen Pharmaprodukte und geht so auch mit einer reduzierten Objektivität einher – naiv, wer hier anderes erwartet. Also war und bin ich auch erst einmal sehr kritisch mit dem vermeintlich neutralen Storytelling der Merck „TrotzMS“-Website oder der Cleo-App von Biogen. Die meisten lesen wohl auch kaum das gut versteckte Kleingedruckte zum Thema Datenschutz – man muss es auch erst einmal suchen, finden und als Laie verstehen.

Einstiegsseiten der Emilyn-App - eine Art persönliche Gesundheitsakte© BreakthroughX Health GmbH

Über meine letzten Artikel kam ich dann in Kontakt mit den Machern der Emilyn-App – einem der neuesten digitalen Gesundheitsangebote für die MS-Community. Bei Emilyn handelt es sich um ein Tool, das über eine Art persönliche Gesundheitsakte hilft, die eigene Krankheitsentwicklung zu dokumentieren, in Beziehung zu anderen Faktoren zu setzen, sie dadurch besser zu verstehen und sich informierter im Gesundheitssystem zu bewegen. Darüber hinaus bietet sie die Möglichkeit zum Austausch mit anderen Betroffenen, Gesundheitsdienstleister*innen und Forschenden aus dem MS-Bereich.
Mit Sitz in Berlin und einem internationalen Team – einem deutschen Neurologen mit langer Erfahrung in der MS-bezogenen Forschung, einem US-Medizintechnik-Experten, einem deutschen Software- und Datenschutzprofi und englischen Medizin-Redakteur*innen – ist das Start-up breit aufgestellt.

In einem Interview mit dem Führungsteam konnte ich viel über Hinter- und Beweggründe, Ziele, technologische Ansprüche und die Bedeutung von Datenschutz bzw. Privatsphäre erfahren.

Wie habt Ihr die Emilyn-App entwickelt?
Stefano Palazzo (SP): Wir haben über eineinhalb Jahre weit über 1.000 MS-Kranke persönlich befragt, um herauszufinden, was wirklich wichtig für sie ist. Anfangs konnten wir uns nicht vorstellen, dass jemand mit einer chronischen Krankheit keine klare Vorstellung davon hat, wie es ihm/ihr aktuell geht. Welche Fragen würden die Betroffenen in so einer Situation also einem allwissenden Orakel stellen wollen? Erstaunlicherweise ähnelten sich die Fragen durchweg: „Wie geht es mir? Wird es besser, wird es schlechter? Bleibt es gleich? Und wenn es gleich bleibt, wo befinde ich mich dann?“.

Dr. Adrian-Minh Schumacher (AS): Wir haben dadurch verstanden, dass die meisten Betroffenen keine eigenen Protokolle über ihren Verlauf führen, bzw. keine, die sich leicht statistisch auswerten und interpretieren lassen. Für diese Gruppe bietet unsere Emilyn-App eine Lösung und gleichzeitig einen Paradigmenwechsel – eine fundamentale Neuerung. Durch die App-Nutzung entsteht sozusagen eine individuelle Statistik. Und diese kann für den einzelnen Betroffenen sehr hilfreich sein.

SP: Wer also damit beginnt, seinen Zustand möglichst jeden Tag zu protokollieren, kann ein objektives Bild über den eigenen Krankheitsverlauf gewinnen. Für Patient*innen, die autonom sein wollen und ihren Verlauf besser reflektieren wollen, ist das sinnvoll, um etwa auf dieser Ebene auch reflektiertere Entscheidungen über die eigene Therapie bzw. den Lebensstil zu fällen – mit und ohne Ärzt*innen.

Was wollt Ihr mit der App erreichen?
SP: Emilyn soll für Nutzer*innen möglichst hilfreich und einfach anzuwenden sein. Wir wollen die netteste, die am wenigsten nervende App sein, die man in diesem Umfeld finden kann. Sie ist da, wenn du sie brauchst, und lässt dich in Ruhe, wenn du sie nicht brauchst, d. h., auch Dokumentationspausen sind kein Problem. Emilyn holt die Daten einfach dann ab, wenn sie eingegeben werden, und spielt einen verdichteten Überblick zurück. Dazu befragen wir übrigens immer noch unsere Nutzer*innen und hören auf das, was sie uns zurückmelden.
Bietet Emilyn die Möglichkeit, Umgebungsbedingungen, die einen besonderen Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben können, zu erfassen und in Bezug zu den eigenen Symptomen zu setzen?
SP: Wir bieten z. B. die Vernetzung mit der täglichen Schrittzahl oder Wetterdaten an, damit deren Auswirkungen auf das Wohlbefinden gemessen und sichtbar werden können. Bei Bedarf und Wunsch können Nutzer*innen so den Einfluss der Umgebungsbedingungen auf die Symptome besser verstehen und dies auch mit ihren Therapeut*innen teilen. Damit stellen wir wichtige Daten für ein effektiveres Treffen zwischen Patient*in und Therapeut*in zur Verfügung, was hoffentlich zum bestmöglichen Ergebnis für beide führt. Für die Zukunft ist auch geplant, klinisch validierte Messungen zu entwickeln, die eine wertvollere Interpretation der Daten ermöglichen.
Besteht der von euch angesprochene Paradigmenwechsel darin, Betroffene bereits mit milden Verläufen anzuregen, ihre MS-Symptome und Lebensumstände zu erfassen und sie dadurch besser zu verstehen?
SP: Wir haben die App so gestaltet, dass sie nicht nur denen hilft, die sie zweimal am Tag verwenden, sondern auch denen, die nur unregelmäßig ihre Eintragungen machen. Wer sehr fleißig ist und jeden Tag über mehrere Jahre protokolliert, wird auch sehr nachhaltige Einblicke erhalten. Aber auch jemand, der nur selten seine Symptome protokolliert, hat die Möglichkeit, eine Idee bzw. ein besseres Verständnis von seinem Verlauf und seiner Krankheit zu erhalten, was sehr nützlich sein kann.
Welchen Stellenwert hat die Möglichkeit, eigene Daten – z. B. anonym – auch mit Forschenden zu teilen?
SP: Grundsätzlich teilen wir die Daten, die wir im Rahmen einer Nutzungsoptimierung der App (etwa zur Relevanz einer Funktion oder eines Buttons) erheben, mit niemandem. Sollten wir für eine wissenschaftliche Studie Daten erheben, würden wir zuerst den Zweck, die Vorgehensweise und die involvierten Parteien vorstellen und damit die Nutzer*innen einladen – die Studienteilnahme ist selbstverständlich freiwillig. Wir entwickeln im Grunde nur die Infrastruktur, mit der Betroffene ihre Gesundheitsdaten für die Forschung bei Interesse freigeben können. In diesem Fall werden die verschlüsselten Gesundheitsdaten auf dem Endgerät für den vorgesehenen Empfänger wieder verschlüsselt und weitergeleitet. Außerdem werden Echtheitszertifikate und digitale Einverständniserklärungen erstellt.
Für MS – besonders für progressive Verläufe – werden auch Ernährungsprogramme und Medizintechnikgeräte immer populärer. Gibt es Möglichkeiten, mit einem Tool wie Emilyn Studien auch zu diesen Themen durchzuführen?
AS: Dass wir mit ganzheitlicheren Ansätzen gerade bei progressiven Verläufen möglicherweise Verbesserungen erzielen können, steht für mich außer Zweifel. Es ist nur schwierig zu belegen. Ich habe mich lange Jahre in der Forschung mit den Ursachen von Degeneration beschäftigt. Um Evidenzen für jegliche Arten einer Progression zu belegen, identifizieren wir aktuell etwa, ob sich die Mobilität reduziert – also z. B. vom freien Laufen hin zur Nutzung einer Gehhilfe. Diese Studien sind sehr komplex, erfordern eine relativ hohe Teilnehmerzahl, sind auf viele Jahre angelegt und entsprechend teuer. Wäre man in der Lage, präzisere Marker für eine Verlaufsverschlechterung zu bestimmen, käme man auch mit kleineren Studien zum Ziel. Wenn wir also bei der Aufzeichnung einer Verschlechterung im Verlauf näher an die Patient*innen herankommen und z. B. Aktivitätsdaten oder auch Biomarker einbeziehen könnten, dann hätten wir eventuell die Chance, kleinere Studien durchzuführen und könnten auch mehr Feinheiten in Bezug auf die Krankheitsverschlechterung – auch unter Einbeziehung ernährungsbedingter Faktoren – erfassen und analysieren. Und Patient*innen, die bereits schwere Einschränkungen haben, sind für alle Tipps und medizinischen Geräte, die etwas verbessern können, sehr dankbar. Da bleiben wir dran.

Ansichten Emilyn App© BreakthroughX Health GmbH

Wie steht Ihr zum Thema Datenschutz bzw. der Privatsphäre?
SP: Aus unserer Erfahrung und beruflichen Historie heraus wissen wir, dass sensible Patientendaten geschützt werden müssen und ihre Freigabe nur sehr eingeschränkt möglich ist. Auch für unsere Nutzer*innen ist die Datensicherheit/Privatsphäre eine sehr wichtige Komponente. Wir verschlüsseln die Gesundheitsdaten direkt auf dem Gerät der jeweiligen Person und speichern sie nicht unverschlüsselt auf irgendwelchen Servern. Das hilft uns auch, Vertrauen aufzubauen. Betroffene wissen gerade das sehr zu schätzen.
Trotzdem ist es durchaus auch denkbar, unter den Nutzer*innen großangelegte Befragungen durchzuführen – z. B. im Rahmen einer klinischen Studie. Voraussetzung dafür muss aber sein, dass die Thematik echte Relevanz für die Betroffenen hat. Unsere Nutzer*innen wissen, dass ihre Teilnahme an einer Studie ihnen persönlich erst einmal nichts bringen wird, aber langfristig einen Wert für die komplette MS-Gemeinschaft haben kann. Ansonsten würden wir so etwas auch nicht tun.
Gibt es noch etwas Wichtiges, das wir noch nicht besprochen haben?
AS: Laut unseren Studienerkenntnissen sind Informationen und Weiterbildung sehr wichtig für die Betroffenen. Entsprechend haben wir auch in der App einen besonderen Schwerpunkt auf die Vermittlung von relevanten Informationen gelegt, etwa mit Artikeln zu Themen, die die konkreten Bedürfnisse adressieren. Wir haben auch eine Möglichkeit zur Interaktion mit dem Team oder der MS-Gemeinschaft geschaffen, damit Betroffene sich austauschen bzw. ihre Fragen auch an uns richten können. Wer z. B. Blasenschwäche oder eine Spastik hat, sollte auch Informationen dazu bei uns finden. Aktuell haben wir noch nicht alle Inhalte ausgewählt, arbeiten aber sehr intensiv an der Bereitstellung von personalisiertem Content, für die Bedürfnisse unserer Nutzer*innen.

Die App war bislang nur in den App-Stores von englischsprachigen Ländern (USA, UK, etc.) erhältlich und wird in Deutschland, Österreich und der Schweiz voraussichtlich noch im 2. Halbjahr 2021 verfügbar sein. Sie ist für die Nutzer*innen kostenlos.

Es gibt viele Überlappungen mit der Cleo-App von Biogen (Tracking der Symptome, Definition eigener spezifischer Symptome, Artikel/MS-bezogene Inhalte), aber auch unterschiedliche Funktionen. Sowie auch Unterschiede vor allem zur Art der Inhalte, die aus meiner Sicht bei Cleo etwas politischer im eigenen Interesse gestaltet sind. Bei kritischen Themen, hier am Beispiel „Alternative Medizin“, verweist man in Emilyn z. B. auf Beiträge von MS-Organisationen, während Cleo (Biogen) mit einem eigenen Beitrag politisch Stellung bezieht. Beim Datenschutz verfolgt Emilyn, als pharma-unabhängiger Akteur, nach meiner Einschätzung eine sehr strikte Philosophie (was mir als Nutzer sehr entgegenkommt), bei Biogen finde ich einige eher kritische Punkte. Aber ich bin kein Datenschutz-Experte und überlasse die Bewertung den Profis und vor allem anderen interessierten Betroffenen. Zeitgleich bin ich davon überzeugt, dass digitale Angebote in der modernen Medizin(-Technik) sehr wichtig sind und schnell weiter wachsen werden – zum großen Teil mit enormen Vorteilen für uns Betroffene.
Für diesen und die weiteren Beiträge der Serie freue ich mich auf Ihre Rückmeldungen.

Für diesen und die weiteren Beiträge der Serie freue ich mich auf Ihre Rückmeldungen.

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