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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Warum hat mir das keiner vorher gesagt? - Wissenswertes über Diagnose und Prognose bei MS

Bernd Meixner, Blickpunkt-Ausgabe 3/2016

Im Mai fand in den Räumen von Rehability ein Themenseminar Multiple Sklerose statt. Dort hielten Dr. Jutta Scheiderbauer (TAG) und Dipl. Psych. Christiane Jung (TIMS) sehr interessante Vorträge rund um das Thema Multiple Sklerose. Die Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V. war dort mit mehreren Teilnehmenden vertreten. Dr. Jutta Scheiderbauers Vortrag hatte die Überschrift: „Warum hat mir das keiner vorher gesagt? Wissenswertes über Diagnose und Prognose bei MS“.

MS-Register zu unbehandelten MS-Kranken

Im Grunde genommen ging es bei dem Vortrag um eine Analyse von MS-Registern von unbehandelten MS-Betroffenen. Es ist besonders schwierig, an solche Daten zu kommen, weil heutzutage direkt nach Erstdiagnose zu einer sogenannten Immuntherapie (Frühtherapie) geraten wird. Dennoch gibt es mindestens vier MS-Register mit unbehandelten Patienten:

• London/Ontario: 1.099 Betroffene, Datenerhebung 1972-2000
• British Columbia: 2.837 Betroffene, Datenerhebung seit 1980
• Lyon: 1.844 Betroffene, Datenerhebung 1957-1997, durchschnittliche Erkrankungsdauer elf Jahre
• Göteborg: 308 Betroffene, Datenerhebung 1950-1989

Interessant war die Feststellung, dass zwischen 1980 und 2004 durch verbesserte Diagnosemöglichkeiten der Diagnosezeitpunkt um sechs bis sieben Jahre vorverlegt wurde und durch geänderte Diagnosekriterien leichte Verläufe mit eingeschlossen werden. Seitdem hat sich die Zahl diagnostizierter MS-Betroffener in Deutschland verdoppelt!
MS-Register sind jedoch in ihrer Aussagekraft eingeschränkt, weil sie lediglich eine Korrelation, aber keine Kausalität darstellen. Den Unterschied erkläre ich mir als medizinischem Laien folgendermaßen:
Kindern erzählte man früher gerne, dass der Storch die Kinder bringe. Da es in Deutschland immer weniger Störche gibt, ist es klar, dass die Geburtenrate sinken muss, logisch, oder? Tatsächlich gibt es eine Korrelation zwischen der sinkenden Anzahl Störche in Deutschland und der abnehmenden Geburtenrate in Norddeutschland, aber das ist kein Beweis für eine Abhängigkeit, sprich Kausalität, zwischen den beiden Sachverhalten.

Frühtherapie verbessert nicht grundsätzlich späteren Behinderungsgrad

Auch bei MS gibt es eine mäßige Korrelation zwischen früher Schubrate und späterem Behinderungsgrad, aber daraus darf man wissenschaftlich nicht automatisch schließen, dass eine höhere Schubrate in den ersten beiden Jahren ausschlaggebend für eine spätere höhergradige Behinderung sei, und erst recht nicht, dass eine Frühtherapie deshalb grundsätzlich den späteren Behinderungsgrad verbessere.

Prognostisch gesehen spielen die größten Rollen für eine spätere Behinderung:
• Rückbildungsfähigkeit von Schubsymptomen
• Entwicklung einer chronischen Verlaufsform
• Zeit bis zum Beginn der chronisch progedienten Phase

Dagegen spielen die Gesamtzahl der Schübe und die Anzahl „stummer“ MRT-Herde eine deutlich geringere Rolle. Weiterhin lässt sich aus den Studien erkennen, dass auch ohne Immuntherapie Verläufe mit geringen Beeinträchtigungen oder mit spontanen Verbesserungen nicht selten sind. Dies wurde mit mehreren aussagekräftigen Grafiken dargestellt.

Da stellt sich einem die Frage, warum man überhaupt die Vermeidung von Schüben und MRT-Herden als Therapieziel anstrebt. Auch darauf hatte Dr. Jutta Scheiderbauer Antworten parat:
• In den Zulassungsstudien wurde die Wirkung der Therapie primär an einer reduzierten Schubrate und zusätzlich an MRT-Aktivität festgemacht.
• Schübe sind belastend und bilden sich manchmal sehr schwer zurück.
• Mittels MRT kann man ein Therapieansprechen erkennen.
• Man hat keine andere Entscheidungsgrundlage, die sich standardisiert einsetzen lässt.

Als Schlussfolgerung sagte Dr. Scheiderbauer:
• MS-Diagnose und Therapienotwendigkeit sind nicht in jedem Fall identisch.
• Immuntherapien könnten langfristig nur die schweren Verläufe verbessern.
• Patientenwohl-orientierte, nichtkommerzielle klinische Forschung zur Definition von Risikogruppen, Therapiezielen und Therapieauswahl ist überfällig.

Unabhängige Schlussfolgerungen aus vorliegenden Studien wesentlich

Ich habe versucht, den Vortrag bestmöglich zusammenzufassen, um unseren Lesern einen möglichst guten Überblick über die Untersuchungen von Dr. Jutta Scheiderbauer zu ermöglichen. Das gesamte Material ist unter www.tag-trier.de verfügbar.
Grundsätzlich kann ich sagen, dass es sehr erfrischend war, diesem Vortrag zuzuhören, weil Dr. Scheiderbauer (selbst MS-Betroffene) unabhängig und kompetent aus den vorliegenden Studienergebnissen ihre eigenen Schlussfolgerungen zieht. Dies ist insbesondere deshalb so wichtig, weil es heutzutage, bedingt durch die enge Verzahnung von Pharmaindustrie, Forschung und sogenannten Patientenorganisationen nahezu unmöglich ist, unabhängige und von Interessenkonflikten unbeeinflusste Informationen über MS-Therapien und -Empfehlungen zu erhalten.

Psychische Erkrankungen behandeln

Im Anschluss hielt Dipl. Psych. Christiane Jung von der TIMS einen Vortrag über „MS und Psyche“. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass sich MS-Betroffene stärker durch eine psychische Erkrankung in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt fühlen als durch eine eingeschränkte Gehfähigkeit. Die häufigsten psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit MS sind Depressionen und Angsterkrankungen
Die Behandlung einer psychischen Erkrankung kann also wesentlich zur Steigerung/Wiederherstellung der Lebensqualität von Betroffenen führen. Auch wurden verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, die für MS-Betroffene offen stehen, mit ihren Vor- und Nachteilen erläutert.