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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Was ist Cochrane? Verlässliche Gesundheitsinformationen als Grundlage für informierte Entscheidungen

Bernd Meixner, Blickpunkt-Ausgabe 03/2017

Als unabhängiger Verein sind wir stets auf der Suche nach ebenfalls (hauptsächlich von der Pharmaindustrie) unabhängigen Einrichtungen, sodass wir eine unabhängige Berichterstattung sicherstellen können. Das Netzwerk Cochrane bietet medizinische Informationen, deren Vertrauenswürdigkeit und Qualität international anerkannt sind. In diesem Zusammenhang möchten wir auch auf eine Untersuchung von Cochrane hinweisen, die analysiert, inwieweit der Nutzen und die Sicherheit einer möglichst frühen Behandlung von Multipler Sklerose mit Medikamenten gegeben sind.

Die Einrichtung Cochrane

Cochrane ist benannt nach dem britischen Arzt und Epidemiologen Sir Archibald Leman Cochrane. Seine Überlegungen zur Überprüfung von Therapien in Studien und die Aufbereitung dieser Ergebnisse in systematischen Übersichten stellen einen gedanklichen Ausgangspunkt für die Gründung von Cochrane im Jahr 1993 dar. In den vergangenen zwanzig Jahren ist unter diesem Namen ein globales, unabhängiges Netzwerk von klinischen Forschern, Ärzten, Methodikern, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe und Patienten entstanden, das sich für bessere Gesundheit durch bessere Informationsmöglichkeiten einsetzt.

Über 37.000 Menschen aus über 130 Ländern wirken daran mit, verlässliche und zugängliche Gesundheitsinformationen zu erstellen, die frei sind von kommerzieller Förderung oder anderen Interessenkonflikten (z. B. Pharmaindustrie). Viele der Beitragenden sind weltweit führend in ihren Spezialgebieten: Medizin, Gesundheitspolitik, Forschungsmethoden oder Verbraucherschutz. Die jeweiligen Gruppen (sogenannte Entitäten) sind an einigen der angesehensten akademischen und medizinischen Einrichtungen weltweit angesiedelt. Die Ergebnisse der Arbeit von Cochrane werden international als Goldstandard für hohe Qualität und vertrauenswürdige Information angesehen.

Zielsetzung

Wenn man die Internetseite von Cochrane besucht, findet man unter „Zielsetzung“: „Der Bedarf für die Arbeit von Cochrane ist heute sogar noch größer als vor 20 Jahren, als die Organisation gegründet wurde. Mit den wachsenden Zugangsmöglichkeiten zu Informationen aus der klinischen Forschung steigen auch die Risiken, diese komplexen Inhalte falsch zu interpretieren. Gleichzeitig sinkt die Wahrscheinlichkeit, als Individuum ein vollständiges und ausgewogenes Bild eines Sachverhaltes gewinnen zu können. Cochranes Aufgabe, nämlich den Zugang zu erreichbarer, verlässlicher Gesundheitsinformation zu schaffen, um informierte Entscheidungen zu ermöglichen, war niemals von größerer Bedeutung für die Verbesserung der Weltgesundheit als heute.“

Das spricht einem ja aus der Seele, wenn man die derzeitige Situation zu den Studien zu Medikamenten und Interessenkonflikten rund um das Thema Multiple Sklerose betrachtet. Auf der Internetseite findet man einige Berichte über MS-Medikamente, leider manchmal nur in Englisch.

Ein Bericht war sehr auffällig und beschäftigt sich mit einem Thema, das uns als MSK e. V. schon seit mehreren Jahren umtreibt. Im Vergleich zu der herrschenden Meinung der etablierten Organisationen, die zu einer sofortigen Einnahme von MS-Medikamenten nach Diagnose raten, sind wir eher der Ansicht, dass man Ruhe bewahren und eher erstmal abwarten sollte, wie sich die MS weiterentwickelt (es gibt ja durchaus auch stumme Verläufe), bevor man eine Entscheidung trifft.

Im Folgenden eine Zusammenfassung des Berichtes von Cochrane, der auf Basis einer Auswertung mehrerer veröffentlichter Studien erstellt wurde.

Bericht von Cochrane zur Bewertung von Nutzen und Sicherheit einer frühen Medikamenteneinnahme bei MS

Hintergrund der Untersuchung

Die Behandlung der MS hat sich in den letzten 20 Jahren verändert. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden viele Arzneimittel-Therapien entwickelt und Fortschritte im Verständnis und im Umgang mit der MS gemacht. Die Magnetresonanzspektroskopie ermöglichte dann eine frühe Diagnose von MS und damit einhergehend wurde frühzeitig mit einer Therapie mit Medikamenten begonnen. Da die meisten Mittel zur Behandlung von MS gravierende Nebenwirkungen haben, müssen Ärzte und Patienten die Vorteile und die Sicherheit einer frühzeitigen Behandlung abwägen im Vergleich zu den eventuellen negativen Begleiterscheinungen. Dazu sollten sie optimal informiert sein.

Studien

Um den Nutzen und die Sicherheit der frühen Behandlung zu bewerten, wurden möglichst viele Studien (auch unveröffentlichte) zusammengetragen. Eingeschlossen wurden randomisierte und nicht-randomisierte Studien, die ein oder mehrere Mittel als Einzeltherapie bei erwachsenen Teilnehmenden mit einem ersten klinischen Schub der MS beinhalteten. Unter anderem wurden untersucht: Alemtuzumab, Azathioprine, Cladribine, Daclizumab, Dimethylfumarate, Fngolimod, Glatiramer acetat, Immunoglobulin, Interferon beta-1b, Interferon beta-1a (Rebif®, Avonex®), Laquinimod, Mitoxantrone, Natalizumab, Ocrelizumab, Rituximab und Teriflunomide.

Daten und Datenanalyse

Zwei Teams von jeweils drei Autoren haben unabhängig voneinander Studien analysiert und Daten extrahiert. Primär wurde nach Fortschreiten des Behinderungsgrades, Rückfällen, schwerwiegenden, unerwünschten Ereignissen oder Absetzen des Medikamentes aufgrund eines schwerwiegenden, unerwünschten Ereignisses gesucht. Die Zeit zwischen Erstverdacht und einer klinisch bestätigten Multiplen Sklerose wurde nach den Kriterien von Poser beurteilt. „Odds Ratio” und „Harzard Ratio” wurden mit 95 Prozent Vertrauensintervall beurteilt. Der Vertrauensbereich wurde mit dem GRADE-System ermittelt.

Anmerkung: „Odds Ratio“ (oder auch Quotenverhältnis) ist eine statistische Maßzahl, die etwas über die Stärke eines Zusammenhangs von zwei Merkmalen aussagt. Bei einem Quotenverhältnis von 1 gibt es keinen Unterschied zwischen verglichenen Gruppen. Die Hazard Ratio bezieht sich auf eine bestimmte Zeitspanne. „Hazard“ (Gefahr, Risiko): Damit ist die Wahrscheinlichkeit gemeint, mit der ein Mensch (Patient), der für eine bestimmte Zeit unter Beobachtung steht, in dieser Zeit ein „Ereignis“ hat. Das „Ereignis“ kann zum Beispiel ein Schub sein oder eine signifikante Rückbildung von Symptomen. Bei der „Hazard Ratio“ werden verschiedene „Hazard Rates“ in Beziehung zueinander gesetzt. Unter „Rate“ versteht man die Anzahl der Ereignisse in einer bestimmten Zeit. Die „Rate“ aus einer Gruppe wird dann mit der „Rate“ aus einer anderen Gruppe verglichen („Ratio“ = „Verhältnis“).

Ergebnisse

Es wurden insgesamt 22 Studien ausgewertet, zwischen 2010 und 2016 durchgeführt. Insgesamt war das Risiko von Interessenkonflikten hoch und die Qualität der Ergebnisse der Aussagen lagen im Bereich „niedrig“ bis „sehr niedrig“. Aspekte:

  • frühe Behandlung mit MS Medikamenten im Vergleich zu Placebo in den ersten 24 Monaten
  • indirekter Vergleich der in den Studien eingeschlossenen MS-Medikamente
  • frühe Behandlung im Vergleich zu späterer Behandlung

Zu folgenden Schlussfolgerungen kamen die Autoren aus den Untersuchungen:

  • Festgestellt wurde ein kleiner, nicht signifikanter Vorteil bei der Einnahme von MS-Medikamenten im Vergleich zu Placebo, bezogen auf Fortschreiten des Behinderungsgrades und Schübe.
  • Der Vorteil von früher Behandlung mit MS-Medikamenten im Vergleich zu späterer Behandlung war nicht einheitlich für die betrachteten MS-Medikamente und ebenfalls mit sehr kleiner Signifikanz.
  • Mit einer niedrigen Wahrscheinlichkeit reduziert sich das Risiko eines Schubes mit einer frühen Einnahme des MS-Medikamentes im Vergleich zu einer späteren Einnahme.
  • Frühe Einnahme eines MS-Medikaments reduziert das Risiko zum Übertritt in eine klinisch diagnostizierte MS, sowohl kurz- als auch langfristig, aber auch im Vergleich zu Placebo, keiner Behandlung oder späterer Behandlung.
  • Festgestellt wurde eine niedrige Signifikanz, dass die frühe Einnahme von MS-Medikamenten das Risiko eines unerwünschten Ereignisses reduziert, im Vergleich zu Placebo.
  • Sehr deutliche Signifikanz, dass die frühe Einnahme von MS-Medikamenten das Risiko eines Studienabbruchs oder das Absetzen des Medikamentes aufgrund eines unerwünschten Ereignisses erhöht.
  • Ein Vergleich der verschiedenen MS-Medikamente war nicht möglich, da nur indirekt möglich und die Stichprobe jeweils sehr klein war.
  • Die Bewertung der langfristigen Sicherheit der frühen Einnahme von MS-Medikamenten war unsicher aufgrund mangelhafter oder fehlender Daten.

Signifikanter Nutzen für die Betroffenen zweifelhaft

Ich finde, dass dieses Ergebnis relativ gut die Problematik beschreibt, die mit der derzeitigen MS-Forschung einhergeht. Die Studien werden nach sekundären Ergebnissen ausgerichtet, wie z. B. dem Zeitraum von Erstdiagnose bis zum Eintritt in die klinisch diagnostizierte MS, der Anzahl der Schübe oder der Anzahl der Herde im MRT. Was jedoch die Betroffenen wirklich interessiert, ist das Fortschreiten der Erkrankung und der Grad der Einschränkung bzw. der Behinderungsgrad. Diese Kenngröße kommt gar nicht vor. Alle sekundären Zielgrößen sind dann noch bei einer kleinen bis sehr kleinen Signifikanz anzusiedeln.

Da muss man schon den Hut ziehen, wie es der Pharmaindustrie und ihren Handlangern gelingt, mit diesen bescheidenen Studienergebnissen seit Jahrzehnten die Gesundheitssysteme mit MS-Medikamenten um Milliarden pro Jahr zu belasten, ohne einen signifikanten Nutzen für die Betroffenen zu schaffen.

Quelle: www.cochrane.org, April 2017: „Disease-modifying drugs for people with a first clinical attack suggestive of multiple sclerosis“