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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Zur Behandlung der MS-bedingten Spastizität: Ein Erfahrungsbericht

Alexander Simonow, Blickpunkt-Ausgabe 3/2016

Viele Patienten der Neurologischen Klinik Sorpesee sind an einer Multiplen Sklerose (MS) erkrankt. Bei vielen Betroffenen mit einer zumeist chronischen Verlaufsform der MS kommt es neben anderen neurologischen Symptomen häufig zu Spastizitäten einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. Die Begriffe „Spastik“ und „Spastizität“ werden synonym als Ausdruck einer krankhaften Erhöhung der Muskelruhespannung gebraucht, die bei der MS durch die entzündlichen Hirnveränderungen entstehen. In diesem Artikel wird überwiegend die weniger diskriminierende Bezeichnung Spastizität verwendet. Die exakte Ursache der Spastizität ist bis heute nicht eindeutig, genauso wie die Frage der individuell unterschiedlichen Ausprägung der Spastizität geklärt Die Spastizität kann zu erheblichen funktionellen Einschränkungen, Schmerzen, Schlafstörungen, einem partiellen oder vollständigen Verlust der Arbeitsfähigkeit und einer deutlich verminderten Lebensqualität führen.

Erfassung / Untersuchung der Spastizität / Triggermechanismen

Obwohl Spastizität bei MS-Patienten häufig auftritt, wird dies vielerorts nicht ausreichend beachtet oder leider nur unzureichend behandelt. So haben Erhebungen des MS-Registers zur Versorgungsituation MS-Betroffener in Deutschland gezeigt, dass etwa ein Drittel der an Spastizität leidenden MS-Patienten weder medikamentös noch nicht-medikamentös behandelt wird.

Während der neurologischen Sprechstunde müssen wichtige Daten zur Spastizität erhoben werden. Tritt sie nur in bestimmten Situationen, zum Beispiel morgens, beim Aussteigen aus dem Bett auf? Ist sie tagsüber immer vorhanden? Ändert sich der Schweregrad der Spastizität im Tagesverlauf? An welche Bedingungen ist eine Zunahme der Spastizität geknüpft? Kommt es tagsüber zu plötzlich einschießenden, zum Teil heftig schmerzhaften Verstärkungen der Spastizität? Liegen Provokationsfaktoren vor, die die Spastizität verstärken können, z.B. eine MS-bedingte Blasenfunktionsstörung mit erschwertem Wasserlassen, Einschränkung der Blasenentleerung. Muss die Blasenentleerung durch einen Harnröhren- oder Bauchdeckenkatheder erfolgen? Aber nicht nur Blasenentleerungsstörungen können eine Zunahme der Spastizität bedingen. Auch leichte Fieberanstiege, z.B. banale Infektionen: ein Husten bzw. Schnupfen, eine Bronchitis oder Magen-Darm-Grippe ebenso wie Druck- und Wundliegegeschwüre, sogenannte Dekubitalgeschwüre (Dekubitus, Plural: Dekubiti) können eine Verstärkung der Spastizität triggern. Andere Triggermechanismen können eine Regelblutung, Rückenschmerzen, hohe Außentemperaturen, Wärme, aber auch nasskaltes Wetter sein. Oft reicht schon, zumeist bei vermehrter basaler Spastizität, eine rasche Bewegungsänderung, z.B. Ein- oder Aussteigen aus dem Auto, um die Spastizität vorübergehend zu erhöhen und dadurch beabsichtigte Muskelbewegungen plötzlich nicht mehr möglich sind.

Schweregrad der Spastizität / individuelle Ausprägung

Der Schweregrad der individuell vorliegenden Spastizität wird im Rahmen der körperlich-neurologischen Untersuchung erfasst. In entspannter Rückenlage werden zuerst die sogenannten Muskeleigenreflexe, kurz: die Reflexe, geprüft, die durch die Spastizität gesteigert sind. Hierzu nutzt der Neurologe eines seiner Markenzeichen, den Reflexhammer. Anschließend wird jede Extremität mit steigender Geschwindigkeit durch den Neurologen abwechselnd gebeugt und gestreckt. Dabei wird der muskuläre Widerstand, der sich den passiven Bewegungen entgegensetzt (= Spastizität), durch den erfahrenen Neurologen bewertet. Für die Bewertung des Schweregrades der Spastizität – leicht, mittelschwer oder schwer – steht keine standardisierte Klassifikation zur Verfügung. Zur Verlaufsbeurteilung empfiehlt sich die Graduierung der Spastizität anhand einer Skala. Die Verwendung von Skalen wie der Numerischen Rating Skala (NRS) unter Angabe der Tageszeit oder der modifizierten Ashworth-Skala ist zur Bewertung des Schweregrades und zur Dokumentation des Verlaufs einer Spastik unterstützend sinnvoll.
Die Schwierigkeit der Erfassung des Schweregrades einer Spastizität liegt in der fehlenden Objektivierbarkeit des neurologischen Untersuchungsergebnisses. Eindeutige Messgeräte, die zum Beispiel den Grad der durch die Spastizität eingeschränkten Gelenkbewegungen messen, beispielsweise im Kniegelenk, haben sich in der Praxis nicht durchgesetzt und kommen auch in Studien zur Spastizität nur selten zur Anwendung.

Therapeutische Behandlungsmöglichkeiten der Spastizität

Basis jeder antispastischen Therapie bei MS-Patienten ist die Physiotherapie (alter Name: Krankengymnastik). Neben intensiven nicht-apparativen physiotherapeutischen Methoden, z.B. nach Bobath sollten apparative Behandlungsmethoden, wie ein motorgetriebenes Bewegungstraining oder ein Laufbandtraining, in Erwägung gezogen werden. Im Rahmen passiver Therapien kann eine Kälte-Anwendung sinnvoll sein oder eine Schienenversorgung symptomlindernd wirken.
Bei der medikamentösen Therapie von leichten bis mittelschweren Spastizitäten kommen zumeist Medikamente wie Baclofen (Lioresal®) oder Tizanidin (Sirdalud®) zum Einsatz (s. Tabelle). Oft fällt das individuelle Ansprechen auf die Antispastika sehr unterschiedlich aus. Häufigste Nebenwirkung der meisten, zur Linderung der Spastizität eingesetzten Medikamente ist Müdigkeit. Bei Betroffenen, die unter einer bei MS vermehrt auftretenden pathologischen Erschöpfbarkeit, einem Chronic Fatigue Syndrom, leiden, kann sich die Nebenwirkung „Müdigkeit“ sehr ungünstig auswirken und zum Absetzen des jeweiligen Medikamentes zwingen. Hier kann das aus Cannabis gewonnene Nabiximols (Sativex®), das als Sprühstoß verabreicht wird, eine Alternative darstellen, da Müdigkeit bei Sativex® eher selten auftritt. Auch kann bei mittelgradiger Spastizität im Rahmen einer Lumbalpunktion das Spezialcortison Triamcinolon (Volon A®) in den Rückenmarkssack abgegeben werden, das – bei individuell oft unterschiedlichem Ansprechen – eine mittelgradig ausgeprägte Spastizität befriedigend senken kann.

Tabelle: Als Tablette oder als Sprühstoß in die Wangenschleimhaut (nur Sativex®) zu verabreichende, zugelassene Medikamente zur Therapie der MS-verursachten Spastik

Substanz Wirkprinzip Darreichungsform Initialdosis Optimale          Tagedosis Höchstdosis
Baclofen GABAB-Rezeptor-Agonist Tablette mit 5, 10 und 25 mg Baclofen 3 x 5 mg/d 30 -   75 mg/d 90 - 150 mg/d
Tizanidin Alpha-2-Rezeptor-Agonist Tablette mit 2, 4 und 6 mg Tizanidin 3 x 2 mg/d 12 - 24 mg/d 36 mg/d
Nabiximols Endocannabinoid-system-Modulator 10 ml Spray zur Anwendung in der Mundhöhle 1 Sprühstoß/d Individuell verschieden, mittlere Dosis 8 Sprühstöße/d 12 Sprühstöße/d

 Abkürzungen: /d = pro Tag; THC (Canabiswirkstoff=Delta-9-Tetrahydrocannabinol; CBD=Cannabidiol

 

Behandlung der schweren Spastizität – die „Baclofenpumpe“

Glücklicherweise sind anhaltende schwer ausgeprägte Spastizitiden nicht so häufig. Wenn aber eine schwere Spastik MS-Betroffene beeinträchtigt und tagsüber zusätzlich unwillkürlich Verstärkungen der Spastizität einschießen, zum Beispiel durch nicht unterdrückbare Triggermechanismen, ist eine orale Therapie zumeist nur unzureichend wirksam. Als hilfreicher Ausweg aus dem therapeutischen Dilemma, eine schwere, anhaltende Spastizität ausreichend zu beeinflussen, dient die Implantation einer sogenannten Baclofenpumpe. Hierbei wird über eine in den Bauchraum gelegte Pumpe das Baclofen als Lösungskonzentrat kontinuierlich über ein Schläuchlein in den unteren Teil des „Rückenmarkssacks“ gepumpt. Bei schweren, beeinträchtigenden Spastizitiden ist dies die einzige Möglichkeit einer dauerhaften, ausreichenden Senkung der Spastik. Bedauerlicherweise wird diese sehr wirkungsvolle Therapie in Deutschland (viel zu) selten angewandt. Dabei sind die Nebenwirkungen dieser Therapie deutlich geringer als bei der Tabletteneinnahme. Nach ausführlicher Aufklärung scheuen Schwerbetroffene, die für diese Therapie geeignet sind, oft den Eingriff wegen der chirurgischen Maßnahme. Patienten unserer Klinik mit schwerer MS-induzierter Spastizität, die sich für den Einsatz einer Baclofenpumpe entschieden haben, loben oft nach erfolgter Optimierung der Spastikeinstellung die „Spastikpumpe“ mit den Worten: „Hätt‘ ich mich hierzu doch schon früher entschieden“.
Zusätzlich können seit einigen Jahren gezielte Botulinum-Toxin-Injektionen als wirksame Therapie gegen schwere Spastizitiden eingesetzt werden. Hiermit können jedoch nur einzelne Muskelgruppen behandelt werden. Leider wird für MS-Betroffene diese Behandlung von den Krankenkassen nicht übernommen (im Gegensatz zu einer schweren Armspastik nach einem Schlaganfall). Bei anhaltend schwerer, generalisierter Spastizität gibt es keine Alternative zur Baclofenpumpe.