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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Zur Versorgung mit Medizinal-Cannabis bei einer MS-Erkrankung

Mirko Koch, Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

Gesetzlich Krankenversicherte haben seit März 2017 einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon. Dieser Anspruch ist in § 31 Abs. 6 SGB V geregelt und darf nur in begründeten Einzelfällen abgelehnt werden – in der Praxis zeigt sich allerdings, dass dies auf ca. 40 Prozent der Anträge zutrifft. Die Gerichte entscheiden indes verstärkt im Sinne der Betroffenen.

Überblick

Versicherte haben einen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung mit medizinischem Cannabis, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt und eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder nicht zur Anwendung kommen kann. Weiterhin muss eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende Symptome bestehen.

Die erste Verordnung des Cannabis durch den Arzt ist genehmigungspflichtig. Diese Genehmigung darf durch die Krankenkassen nach dem Wortlaut des Gesetzes nur in begründeten Einzelfällen abgelehnt werden. Doch die Realität sieht anders aus. Es ist festzustellen, dass bei ca. 40 Prozent der Anträge zunächst einmal eine Ablehnung durch die Krankenkasse ausgesprochen wird. Aus diesem Grunde sollen in diesem Rahmen die Voraussetzungen und Streitpunkte aus juristischer Sicht hier kurz dargestellt werden.

Wer darf Cannabis verordnen?

Seit 2017 ist es Ärzten erlaubt, Cannabisblüten oder Cannabisextrakt über ein Betäubungsmittelrezept zu verordnen. Praktisch kann dies auch durch den Hausarzt erfolgen. Eine besondere Spezialisierung des behandelnden Arztes ist nicht erforderlich.

Gesetzliche Voraussetzungen

Antrag

Erforderlich ist bei erstmaliger Inanspruchnahme ein Antrag auf Genehmigung der Verordnung. Der Antrag muss das Arzneimittel genau bezeichnen. Er bedarf auch keiner vertragsärztlichen Verordnung, wie das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zunächst meinte. Denn da das Betäubungsmittelrezept nach sieben Tagen seine Gültigkeit verliere, sei eine Überprüfung und Entscheidung innerhalb dieser Zeitspanne regelhaft nicht möglich.

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 25.2.2019 – L 11 KR 240/18 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.9.2017, L 1 KR 305/17 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6.3.2018 – L 5 KR 16/18 B ER.

Bewilligungsfiktion?

Bis vor Kurzem war die Frage der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V noch von Interesse. Seit der Änderung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Mai dieses Jahres ist die Möglichkeit, über die Bewilligungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V zu einer prüfungslosen Leistung zu gelangen, nicht mehr gegeben. Das BSG geht in seiner Rechtsprechungsänderung nun davon aus, dass ein Überschreiten der 3- bzw. 5-Wochen-Frist lediglich einen Kostenerstattungsanspruch für selbstbeschaffte Leistungen zur Folge hat.

Schwerwiegende Erkrankung

Die Verordnung mit Cannabis setzt eine schwerwiegende Erkrankung voraus. Die Rechtsprechung und Lehre nehmen eine solche schwerwiegende Erkrankung an, wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 25.2.2019 – L 11 KR 240/18 B ER; LSG Bayern, Beschluss vom 7.11.2019 – L 4 KR 397/19 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 4.10.2017 – L 8 KR 255/17 B ER.

In der Auseinandersetzung mit den Krankenkassen und den sie beratenden Medizinischen Dienste (MDKs) wird oftmals die These vertreten, es müsse sich um einen lebensbedrohlichen Zustand handeln. Dies ist jedoch nicht der Fall. Eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des §§ 31 Abs. 6 SGB V liegt auch unterhalb der Schwelle der lebensbedrohlichen Erkrankung vor, und ist bei einer MS-Erkrankung zu bejahen.

Therapieverfügbarkeit

Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht. Der Gesetzgeber hat klargestellt, dass der Patient nicht langjährig schwerwiegende Nebenwirkungen ertragen muss, bevor die Therapiealternative eines Cannabis-Arzneimittels genehmigt werden kann. Ihm sei nicht zuzumuten, sämtliche alternativen Behandlungsmöglichkeiten zunächst auszuprobieren.

  • Siehe dazu BT-Drs. 18/8965, 24; SG Augsburg, Beschluss vom 19.1.2018 – S 2 KR 590/17 ER.

Auch nach der Begutachtungsrichtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V kann eine Alternative auch dann fehlen, wenn eine Behandlung bereits erfolglos durchgeführt wurde oder wegen Kontraindikationen oder nachvollziehbaren, nicht tolerierbaren Nebenwirkungen nicht infrage kommt.
Der Gesetzgeber hat die Tatbestandsvariante Nr. 1B eingefügt, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann. Es sei auch dann von fehlenden Behandlungsalternativen auszugehen, wenn im konkreten Fall zwar abstrakt noch andere, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen in Erwägung gezogen werden können, der Vertragsarzt aber zu einer anderen begründeten Einschätzung kommt.

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 30.1.2019 – L 11 KR 442/18 B ER.

Begründete Einschätzung

Die aktuelle Rechtsprechung kreist um Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer begründeten Einschätzung des Vertragsarztes. Hier haben die Gerichte zunächst einen konkret individuellen Abwägungsprozess verlangt. In der Entwicklung der Rechtsprechung ist nun festzustellen, dass die Gerichte – insbesondere ausgehend von der Rechtsprechung des LSG NRW – dem Vertragsarzt eine sogenannte Einschätzungsprärogative (also einen Beurteilungsspielraum) zubilligen, an die Krankenkasse und Gerichte gebunden sind (Knispel, GesR 2018, S. 273).

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 30.1.2019 – L 11 KR 442/18 B ER.

Dagegen fordern Stellungnahmen in der Literatur eine regelmäßig inhaltliche Prüfung der Kassen (Jansen SGB V/Sommer § 31 Rn. 59).
Die Bundesärztekammer und der GKV-Spitzenverband sprechen sogar von einem Genehmigungsvorbehalt.

Diese Auffassung geht fehl. Gemäß § 31 Abs. 6 S. 2 SGB V darf die Leistung bei der ersten Versorgung nur in begründeten Ausnahmefällen von der Krankenkasse abgelehnt werden. Die gesetzliche Regelung räumt daher bei begründeter Einschätzung dem behandelnden Vertragsarzt eine Einschätzungsprärogative ein. Sofern nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei, ist diese Entscheidung hinzunehmen.

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 30.1.2019 – L 11 KR 442/18 B ER.

Die Landessozialgerichte Hamburg und Berlin-Brandenburg sind dem gefolgt. Allein das LSG Bayern ist anderer Ansicht, allerdings ohne Auseinandersetzung mit der Gegenmeinung.
Die Auffassung einer Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes hat wichtige verwaltungsrechtliche und prozessuale Folgen. Die begründete Einschätzung kann zumindest im gerichtlichen Verfahren nicht mehr nachgeholt werden, denn sie muss nach dem Wortlaut bis zur Entscheidung der Kasse vorliegen. Sie kann aber im gerichtlichen Verfahren auch nicht mehr diskutiert werden. Insbesondere ist keine Beweisaufnahme durchzuführen, ob die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zutrifft oder nicht. Wenn eine solche begründete Einschätzung nicht vorliegt, ist ohne weitere Sachverhaltsermittlungen die Klage abzuweisen. Liegt eine solche vor, ist aber auch nicht gutachterlich zu prüfen, ob diese richtig ist.

Die Rechtsprechung hat sich mehrfach zu den Anforderungen an eine begründete Einschätzung geäußert. Sie muss zum einen von einem Facharzt ausgestellt werden. Eine einfache Verordnung genügt nicht. Der Vertragsarzt muss aber auch kein Gutachten vorlegen. Erforderlich sei eine Folgenabwägung dahingehend, womit im Falle der schulmedizinischen Standard-Behandlung zu rechnen sein wird, und wie sich dies konkret auf die versicherte Person auswirkt. Die Nebenwirkungen von Cannabis-Arzneimitteln müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls in die Abwägung einfließen. Der Vertragsarzt hat unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Versicherten begründet darzulegen, warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung nicht zur Anwendung kommen kann.

  • Siehe dazu LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.5.2019, L 9 KR 72/19 B ER.

Anerkannt wurde z. B. eine Einschätzung, dass sämtliche sinnhaft einsetzbaren Nicht-Opioid-Schmerzmedikamente bereits ohne hinreichende Wirkung eingenommen wurden und wegen einer erheblichen Zustandsverschlechterung eine Therapiefortführung aufgrund auch bestehender Nebenwirkungen nicht sinnvoll sei. Es bringe nichts, nach erfolglosem Einsatz noch weitere Einzelsubstanzen auszuprobieren, die zu denselben Substanzfamilien gehören.

  • Siehe dazu LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 6.3.2018 – L 5 KR 16/18 B ER.

Nicht ausreichend ist hingegen die Feststellung, dass unter regelmäßigem moderatem Cannabiskonsum von allen bisher versuchten Therapien die Symptomkontrolle am effektivsten sei. Der Patient führe ein weitgehend normales Leben und gehe regelmäßig und zuverlässig seinem Beruf nach.

  • Siehe dazu LSG NRW, Beschluss vom 25.2.2019 – L 11 KR 240/18 BE R.

Aussicht auf Besserung

§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 SGB V setzt eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome voraus. Die Formulierung ist weit gefasst. Sie erfordert, dass der voraussichtliche Nutzen die möglichen Risiken überwiegt, und erfordert gerade keinen Wirkungsnachweis nach den Maßstäben evidenzbasierter Medizin. Wissenschaftliche Unterlagen mit geringer Evidenz genügen. Diese Formel ist vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden.

  • Siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 26.6.2018 – 1 BvR 733/18.

Ein subjektiv besseres Empfinden des Antragstellers alleine reicht aber nicht aus. Nötig sind bestimmte Wirksamkeitsindizien, wie sie z. B. im Cannabis-Report der Universität Bremen zu finden sind.

  • Siehe dazu SG Aachen, Beschluss vom 3.4.2019 – S 1 KR 373/18; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.11.2018 – L 16 KR 504/18 B ER.

Fazit

§ 31 Abs. 6 SGB V stellt also ein differenziertes Verhältnis zwischen antragstellendem Versicherten, seinem Vertragsarzt und der Krankenkasse bei unsicherer Tatsachengrundlage dar. Insbesondere die Einschätzungsprärogative des Vertragsarztes haben die Krankenkassen zu respektieren. Sie können sie nur auf Schlüssigkeit, Plausibilität und Nachvollziehbarkeit und damit auf die Einhaltung der formalen Grenzen der medizinischen Wissenschaft überprüfen. Auch die Gerichte dürfen nur prüfen, ob die Anforderungen an eine begründete Einschätzung vorliegen oder ob die Kasse diese zu Recht wegen mangelnder Plausibilität abgelehnt hat.

Das Verwaltungshandeln von Krankenkassen wird sich in diesem Rahmen nur verändern, wenn die hohe Zahl der Leistungsablehnungen einer gerichtlichen Kontrolle zugeführt wird.