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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Als der Wind rief

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 01/2023

Eines Nachmittags im frühen Herbst wanderte ein Dichter die Küste entlang zu einem abgelegenen Tal, an dessen Ende er ein gemütlich aussehendes, offensichtlich leerstehendes Cottage entdeckte.

Eigentlich hatte er schon länger geplant, aus der Stadt fortzuziehen – als er nun das Haus mit seinem niedrigen reetgedeckten Dach und den einladenden Fenstern sah, wusste er, dass er den idealen Platz gefunden hatte, um endlich sein Buch zu vollenden. Obwohl ihm der unverbaute Blick auf das Meer perfekt erschien, hatte es ihm doch der Garten hinter dem Haus am meisten angetan.

Am Zaun hing ein verblichenes Schild „Zu verkaufen“, auf dem er die Adresse des zuständigen Maklers fand und ihn unverzüglich in der nahegelegenen Stadt aufsuchte. Schnell waren sie sich einig, und nur eine Woche später zog der Dichter in das Haus ein. Der Winter stand vor der Tür.

Der Garten war zwar alt und unansehnlich, er konnte aber bereits den süßen Geruch und die einladenden Bäume, das kleine Paradies wahrnehmen, in das sich der Garten im Frühling verwandeln würde. Eine Oase, in der er schreiben und sich wohlfühlen konnte. Neben einer Vielzahl kleinerer Bäume fand sich nah an Haus und Zaun auch eine alte, durch den ständigen Wind gebeugte Pappel.

Den Winter über schrieb und las er, und wenn ihm beides zu viel wurde, ging er am Meer spazieren und lauschte den Wellen am Strand. Dann dachte er an seine Kindheit, die er am Meer verbracht hatte. Die Stimme des Meeres war zu seiner liebsten Erinnerung geworden, und es gab nichts Vergleichbares, das ihn so beruhigen oder inspirieren konnte. Nachts schlief er mit dem Rauschen ein, und am Morgen ließ er sich davon wecken.

Dann war der Frühling da, und die Bäume füllten sich mit Blättern. Die Pappel wuchs besonders dicht – wann immer der Wind durch ihre Zweige brauste, hielt sie ihm stand, die Blätter tanzten dabei wild und unbezähmbar. Wenn er jetzt in seinem Bett lag, konnte er nur noch die Pappel und nicht mehr sein geliebtes Meer hören. An Schlaf war bald nicht mehr zu denken.

Selbst bei geschlossenen Fenstern und nur einem kleinen Windhauch übertönte die Pappel alles andere und brachte den Dichter um seine Träume. Mit jedem Tag wuchs sein Ärger, bis er sich entschloss, die Pappel zu fällen.

Gerade als er die Axt aus seinem Schuppen geholt hatte und sich überlegte, wie er den Baum wohl am besten fällen sollte, bemerkte er eine ältere Frau, die an seinem Zaun stand und die Pappel mit einem ruhigen, aber traurigen Gesichtsausdruck betrachtete.

„Sie erinnert mich an meine Mutter, meine Heimat und meine Kindheit, an das Leben, das ich hatte, bevor ich hierherkam“, sagte die ärmlich gekleidete Frau schließlich mit einem Akzent, den er nicht zuordnen konnte.

Der Dichter fragte nach.

„Dort wo ich aufgewachsen bin, in unserem Garten, da gab es einen Baum wie diesen, der mit derselben Stimme antwortete, wenn der Wind ihn rief. Eines Tages überfielen grausame Menschen unser Dorf und zerstörten alles, auch den Baum. Meine Kindheit war vorbei. Heute lebe ich hier in der Nähe, weit weg von meiner Heimat, in einer Stadt, die mir fremd geblieben ist. Deshalb komme ich zu diesem Baum, der allein mir die Erinnerungen an meine Kindheit zurückbringen kann.“

Sie war still geworden und schaute noch einmal hoch zu den Blättern, mit denen der Wind spielte. Der Dichter legte unbemerkt seine Axt zur Seite und wartete darauf, dass sie weitersprechen würde.

Aber sie drehte sich um und lief weiter, den Küstenpfad entlang zur Stadt.

In dieser Nacht ließ er sein Fenster offen, und eine leichte Brise blies durch das Tal. Jetzt hörte er auch die Stimme des Meeres wieder, denn der Baum war verstummt, wohl wissend, dass es eine andere Person gab, die ihm lieber zuhörte.

Und das Meer sprach wieder zu ihm, ganz so, wie der Dichter es aus seiner Kindheit kannte.