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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Die geschnitzte Frau

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 02/2022

Drei Freunde, die ihre Lehrzeit in ihrem Heimatdorf gerade erfolgreich beendet hatten, planten eine Reise in die entfernte Großstadt, um dort ihr Glück zu versuchen.

Wie junge Männer nun eben manchmal so sind, hatten sie am Abend zuvor ausgiebig gefeiert, und eine geplante frühe Abreise wurde deshalb auf den Mittag verschoben. Nun waren sie also unterwegs auf einem der alten Wanderwege, der durch den großen Wald zur Stadt führte.

Als es Abend wurde, waren sie immer noch weit von ihrem Ziel entfernt, und weil sie die Hand kaum noch vor den Augen sahen, beschlossen sie, im Wald zu übernachten. Sie sammelten Holz und entfachten ein großes Lagerfeuer, um sich daran zu wärmen und die Waldtiere auf Abstand zu halten.
Zunächst hielten sie sich noch mit Geschichten bei Laune, nach einer Weile wirkte der Wald aber doch recht bedrohlich, und es erschien sicherer, einen von ihnen auszuwählen, der sich bis zum Morgengrauen um das Feuer kümmern sollte, sodass sich die anderen beruhigt schlafen legen konnten.

Drei kleine Zweige, einer kürzer als die anderen, waren schnell gefunden und einer der Freunde zog buchstäblich den Kürzeren. Es war der Schreiner, der für sein Leben gerne Madonnenfiguren schnitzte. Um sich die Zeit irgendwie zu vertreiben, wanderte er umher, fand schließlich ein großes Stück Totholz und begann, mit den mitgebrachten Werkzeugen daraus eine Frau zu formen. Als die Sonne aufging, hatte er es schließlich geschafft – und sie war wunderschön geworden. Nur ihre Nacktheit beunruhigte ihn, und er bedeckte die Frau mit Zweigen, bevor er zu seinen Freunden zurückkehrte, um diese aufzuwecken.

Sie wanderten den ganzen Tag durch den Wald, nur um am Abend festzustellen, dass sie wieder an der gleichen Stelle angekommen waren, von der aus sie ihre Reise am Morgen begonnen hatten. Wieder musste ein Freund ausgesucht werden, um das Feuer über Nacht zu beaufsichtigen – da der Schreiner sofort einschlief, fiel die Wahl dieses Mal auf den Schneider. Auch er versuchte, sich wach zu halten und wanderte umher, bis er zufällig auf die Stelle stieß, an der die geschnitzte Frau lag. So sehr sie ihm gefiel, so unangenehm war ihm ihre Blöße, und so begann er, mit den mitgebrachten Utensilien ein wunderschönes Seidenkleid für sie zu nähen. Und auch er entschied sich im Morgengrauen, diese Schönheit für sich zu behalten und bedeckte sie wiederum mit Zweigen, bevor er seine Freunde weckte.

Wieder wanderten sie den ganzen Tag und wieder fanden sie sich am Abend an derselben Stelle, an der sie die letzten zwei Nächte ihr Lager aufgeschlagen hatten. Der dritte Freund im Bunde hatte nun den Wachdienst zu übernehmen, und auch er fand nach einer Weile ganz zufällig die Stelle, an der die geschnitzte Frau lag. Weil sie so echt aussah, fragte der Lehrer sie nach ihrem Namen. Da sie nicht antworten konnte, entschied er sich, ihr das Sprechen beizubringen.

Als die Sonne aufging, fanden die zwei ihren Freund auf einem Baumstumpf sitzend am erloschenen Feuer. Neben ihm saß eine dunkelhäutige Frau in einem Seidenkleid und erzählte ihm eine Geschichte.

Sie kannte auch den Weg zur Stadt und bot ihnen an, sie bis zum Waldrand zu begleiten. Je näher dieser kam, desto größer wurden die Bedenken der drei Freunde. Was würde wohl aus der Frau werden? War sie vielleicht in Gefahr, so ganz allein im Wald? Während sich der Schneider dafür aussprach, sie nur mit in die Stadt zu nehmen und dort sich selbst zu überlassen, schlug der Schreiner vor, sie solle von nun an einfach bei ihnen leben. Einer von ihnen könne sie schließlich ja auch heiraten.

Kurz bevor die Gruppe den Waldrand erreicht hatte, sagte die Frau: „Eine interessante Idee. Allerdings solltet ihr nicht fragen, wer von euch mich „haben“ wird, sondern mit welchem von euch es mir gefallen würde, zusammen zu sein.“
„Gut“, sagte der Schreiner überrascht, „bedenke aber bitte, dass ich es war, der dich erschaffen hat.“
„Das ist richtig”, erwiderte die Frau, „allerdings hast du mich so gemacht, wie es dir beliebte. Du hast mir einen Körper gegeben, den weder die Natur noch ich ausgesucht haben.“
Jetzt meldete sich der Schneider zu Wort. „Ich war es, der dich angezogen und dich so vor Nacktheit und Schmach bewahrt hat.“
„Sicher, allerdings hast du dabei auch wieder nur nach deinen Wünschen gehandelt und mich so angezogen, wie eine Frau deiner Meinung nach aussehen sollte.“

Die Frau wandte sich dem Lehrer zu. „Aber du, du hast mir eine eigene Stimme, hast mir Worte gegeben. Nur dadurch bin ich am Leben. Mit dir könnte ich also zusammen sein, ohne Angst haben zu müssen, nach deinen Wünschen geformt zu werden.“