Skip to main content

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Die Sonne macht keinen Unterschied

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 02/2020

In einem Tal, in dem sich die Sonne jeden Tag nur für eine kurze Zeit blicken ließ, lebte ein Einsiedler.

Er hatte sich dort in einer Höhle niedergelassen, um über grundlegende Dinge des Lebens nachzudenken. Dazu zog er gewöhnlich die Beine an den Körper und saß über viele Stunden regungslos vor seiner Höhle. Aus der Distanz betrachtet, konnte man ihn auch für einen Felsen halten, der sich dem ewigen Grau seiner Umgebung bereits angepasst hatte.

Jeden Tag, immer wenn die Sonne für einen kurzen Moment über dem Tal erschien, schaute der Mann nach oben. Er fragte sich dann, wie es wohl sein würde, die Welt mit den Augen der Sonne zu betrachten – von ganz oben, und nicht, wie er es tat, aus den Tiefen eines dunklen, grauen Tals.

Die Schönheit der Welt, die die Sonne auf ihren Reisen zu sehen bekam, schien ihm unermesslich zu sein. Darüber dachte er nach, während er mit seinem Kinn auf seinen Knien reglos wie ein Felsen vor seiner Höhle saß.

Eines Tages, als er bemerkte, wie die Schatten vor dem herannahenden Licht zurückwichen, fragte er sich wieder, was die Sonne wohl sah, und als er ganz in ihr Licht getaucht war, schaute er nach oben und rief:

„Sonne, was siehst du auf deinen Reisen?“

Die Sonne schien einen Moment innezuhalten und antwortete dann: „Die Schönheit der Welt in all ihrer Herrlichkeit und Pracht.“

Der Einsiedler beobachtete, wie die Sonne vorüberzog. Er sah auch, wie die Schatten erneut aus ihrem Versteck hervorkamen, um sich im Tal niederzulassen – und so zog er die Knie wieder unter sein Kinn.

Die Worte der Sonne aber hallten noch lange in seinen Ohren nach.

Als er das nächste Mal in seine Höhle schaute, fiel ihm auf, wie dunkel, kalt und feucht es darin eigentlich war. In dieser trostlosen Umgebung begann er, die Sonne zu beneiden.

Einige Tage später nahm der Mann all seinen Mut zusammen und stellte der Sonne eine weitere Frage.

„Wäre es mir denn möglich, das zu sehen, was du siehst?“

Die Sonne antwortete, dass er das könne, wenn er nur daran glauben würde.

Bereits im nächsten Moment fand sich der Mann neben ihr wieder und gemeinsam schauten sie hinunter auf die Welt.

Was für eine Schönheit und Pracht, diese herrlichen Farben! Alles war hell und strahlte. In welche Richtung er auch schaute, überall entdeckte er neue wunderbare Dinge.

„Und wie gefällt dir das alles?“, fragte die Sonne.

„Es ist wunderschön“, antwortete der Mann. „Du hast wirklich Glück, so leben zu können. Mein Zuhause ist dunkel und kalt, alles ist grau und trostlos. Schönheit hat dort keinen Platz.“

Und so lud er die Sonne zu sich ein.

Sie folgte ihm hinunter in seine Höhle.

Dort sagte der Mann: „Siehst du den Unterschied? Das ist doch nicht mit dem zu vergleichen, was du jeden Tag zu sehen bekommst.“

Die Sonne schaute sich um und sprach dann zu dem Mann:

„Ich sehe keinen Unterschied.“