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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Mit dem Wind

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2020

Nachdem ein junger Gärtner eine Reihe von Bäumen eingepflanzt hatte, bemerkte er, dass ein Setzling übersehen wurde.

Mit seinen abgeknickten dünnen Zweigen schien dieser nicht sehr robust zu sein – der Gärtner gab sich also auch keine große Mühe, noch einen Platz für ihn zu finden. Achtlos ließ er ihn schließlich an dem Flussufer zurück, an dem er sich zuvor von seiner anstrengenden Arbeit erholt hatte.

Der Fluss floss leise vorbei.

Auf einer Anhöhe, die Kinder an heißen Tagen gewöhnlich herunterrannten, um im Fluss zu baden, stand eine alte Eiche. Sie war immer schon dagewesen – länger, als man zurückdenken konnte.

Kaum setzte der Wind ein, bewegten sich ihre obersten Zweige, und ihre Blätter begannen, anmutig zu tanzen.

Diese Eiche war sehr eitel und vertraute sich regelmäßig dem Wind an, der ihre Gedanken weitertrug.

Die Wurzeln des zurückgelassenen Setzlings hatten inzwischen ganze Arbeit geleistet, sich in der feuchten, einladenden Erde niedergelassen und den Platz erobert, auf dem die Pflanze zuvor abgelegt worden war. Mithilfe der Sonne und dem Wind hatte sich der Setzling schließlich aufgerichtet und stand nun als junger Baum neben dem Wasser, das ihn beharrlich zum Wachsen ermutigt hatte.

Die Eiche bemerkte davon zunächst nichts – so zufrieden war sie über die zahlreichen Besucher, die, mit Staffelei und Leinwand ausgerüstet, an schönen Tagen stets vorbeikamen, um sie zu zeichnen.

„Wie eindrucksvoll ich doch bin. So viele Augen richten sich auf mich, Menschen erfreuen sich an meiner Gegenwart. Schaut nur, wie sie mich studieren und mein Abbild mit nach Hause nehmen möchten. An ihrer Wertschätzung erkenne ich, dass ich der schönste und wertvollste aller Bäume hier bin.“

Durch den Wind erfuhren die anderen Bäume von diesen Gedanken, der sie hierhin und dorthin trug.

Schon recht groß geworden, hörte der junge Baum am Flussufer interessiert zu, wie die Eiche nun Vergleiche zwischen ihnen beiden anstellte. Zunächst ließ sie sich darüber aus, dass der Fluss dem jungen Baum doch einen recht armseligen Hintergrund bot, wenn man ihn mit der weichen, grasbewachsenen Anhöhe, auf der die Eiche stand, verglich. Dann machte sie sich über die kleinen Äpfel lustig, die auf dem noch jungen Baum wuchsen. Früchte, die keiner je essen würde, weil sie viel zu sauer sein würden. Kurzum, die Eiche hielt diesen gewöhnlichen jungen Baum, der sich an das Flussufer schmiegte, für unbedeutend – sich selbst dagegen aber für großartig und sehr wertvoll.

Im Glauben daran, dass sie, wie die Sonne, ein Teil des Himmels war, fürchtete die Eiche nichts und niemanden.

Eines Tages zog ein gewaltiger Sturm auf und der Regen peitschte aus Wolken so dunkel wie die Nacht. Mit einer nie dagewesenen Kraft fegte dieser Sturm durch die Landschaft und beschädigte die mächtige, standhafte und unbeugsame Eiche. Ihre starren Zweige knickten ab und fielen herunter, brachten sie aus dem Gleichgewicht und ihren Stamm zum Bersten.

Der Baum am Flussufer hatte sich dagegen mit dem Wind bewegt und blieb unbeschadet.