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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Wie die Sonne

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 01/2022

Es war einmal ein König, der glaubte, so mächtig wie die Sonne zu sein und alles und jeden unter dem Himmel befehlen zu können.

Aber natürlich gab es da einige, die ihm nicht gehorchen wollten. Der Wind etwa antwortete nicht auf sein Rufen, die Gezeiten des Meeres ignorierten ihn geflissentlich und auch die Berge weigerten sich stur, sich zu bewegen, so drohend seine Befehle auch sein mochten.

Als er eines Tages in Richtung Osten am Fluss entlangritt, sah er auf einem Baum den wohl schönsten Vogel, den er je zu Gesicht bekommen hatte. Dessen seidige Schwanzfedern schillerten in allen nur erdenklichen Farben und reichten bis auf die Erde, und sein Kopf schien mit der Sonne, in deren Richtung er blickte, um die Wette zu strahlen.

Nun hätte sich jeder Normalsterbliche vor diesem Anblick sicherlich verneigt – nicht aber ein König, der glaubte, so mächtig wie die Sonne zu sein. Er stieg von seinem Pferd, trat keck an den Baum heran und fixierte das herrliche Geschöpf mit den Augen, das, davon unbeeindruckt, weiterhin in die Sonne blickte.

Als der König nahe genug an den Vogel herangekommen war, breitete dieser seine farbenprächtigen Flügel aus und erhob sich mit einem majestätischen Schwung in die Lüfte. Zurück blieb der König – nun doch sprachlos und verzückt wie ein Kind, das gerade seine erste Sternschnuppe gesehen hat.

Nach seiner Rückkehr zum Palast versammelte er unverzüglich seine Berater um sich und berichtete ihnen, was er zuvor gesehen hatte. Nicht einer wagte zu widersprechen, als der König ihnen mitteilte, dass er, koste es was es wolle, diesen Vogel besitzen musste und sie ihn zu beschaffen hatten – wussten sie doch nur zu gut um die Konsequenzen, wenn seiner Anordnung keine Folge geleistet wurde. Ein aufgeregtes Raunen machte sich im Saal breit.

Nur einer von ihnen blieb ruhig. Diesem Wesir war bewusst, dass der König einen Vogel gesehen hatte, den es so kein zweites Mal geben konnte und der einfach nicht zu besitzen war. Da die Arroganz und mangelnde Einsicht des Königs aber sicher zu Enttäuschungen und großen Schwierigkeiten für andere führen würde, beschloss er zu handeln.

Unter seinen Freunden war ein Dichter und Maler, mit dem er sich gleich am nächsten Morgen in das Künstlerviertel der Stadt begab. Hier lebte und arbeitete auch ein bekannter Holzbildhauer – beiden erteilte er umgehend einen ganz besonderen Auftrag.

An einem Tag, als der Hof des Königs außerordentlich belebt war, präsentierte der Wesir dem König nun eine wunderschön bemalte, perfekt geformte lebensgroße Vogelstatue. Schnell drängten sich anwesende Stadträte und Berater um das ungewöhnliche Objekt und beglückwünschten den König, der die Aufmerksamkeit zunächst sichtlich genoss. Dann wurde er ärgerlich.

„Aber er strahlt ja gar nicht wie die Sonne! Und er atmet auch nicht! Er lebt nicht!”, rief er aus.

„Dieser Vogel wurde durch die Hand eines Sterblichen geschaffen“, erklärte der Wesir ganz ruhig und trat vor. „Wenn er mehr können soll, wenn er leben soll, dann braucht es die Essenz des Herzens.”

„Und wo finde ich diese Essenz?“, fragte der König ungehalten.

„Wenn du bis zum nächsten Neumond alle Tränen sammelst, die in deinem Reich vergossen werden, und den Vogel damit benetzt, wird er leben.”

Der König befahl seinen Soldaten, unverzüglich auszurücken. Einen ganzen Monat lang bereisten sie das Reich und sammelten die Tränen der Menschen ein, die sie anschließend im Palast in eine große Vase gossen, die neben der Statue stand.

Endlich war es soweit. „Jetzt werde ich den Vogel zum Leben erwecken”, sagte der König erwartungsvoll zum Wesir. „Sag mir genau, was ich dazu tun muss.”

Der Wesir schnalzte mit den Fingern, und zwei Bedienstete erschienen mit je einem kleineren Gefäß.

„Mein König, nur du allein hast die Macht über uns alle, sogar über die Sonne. Wenn es dein Wunsch ist, wird der Vogel leben. Trenne deshalb zunächst die Tränen der Trauer von den Tränen der Freude. Dann benetze den Vogel, erst mit Trauer, dann mit Freude, ganz so, wie es sich auch beim menschlichen Herz verhält.“

Stille breitete sich aus. Auch der König blieb angesichts der Unmöglichkeit dieses Unterfangens zum ersten Mal eine Antwort schuldig.

Um ihm aus seiner schwierigen Lage zu helfen, sagte der weise Wesir: „Dir muss nur klar sein, dass der Vogel wegfliegen wird, wenn du das tust, weil sein Herz dann frei sein wird. Vielleicht ist es also besser, darauf zu verzichten.”

Von diesem Tag an war der Wesir des Königs engster Berater.