Einsamkeit bei MS: Auch eine Chance, Neues zu wagen
Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 01/2020
Jeder möchte Freunde haben und gesellig sein. Die Realität sieht für viele von uns allerdings anders aus. Denn in unserer Gesellschaft fühlen sich immer mehr Menschen einsam – Menschen, die sich mehr Kontakt, mehr Nähe und deutlich mehr ein sinnfüllendes Miteinander wünschen. Und trotzdem scheinen viele von uns nicht so richtig zusammenzufinden. Gerade für Menschen mit MS ist es häufig besonders schwierig, konstante und vertrauensvolle, sowie verlässliche Beziehungen aufzunehmen, oft auch, da sie niemandem „zur Last fallen“ wollen. Dabei gibt es so viele Möglichkeiten, dem Problem aktiv zu begegnen.
Was ist Einsamkeit?
Einsamkeit bezeichnet gemeinhin die Empfindung, von anderen Menschen getrennt und abgeschieden zu sein, sprich: Wir fühlen uns einsam, wenn wir nach sozialem Anschluss und emotionaler Bindung suchen. Auch wenn Einsamkeit nicht immer unbedingt etwas mit der An- oder Abwesenheit von anderen Menschen zu tun hat, beschreibt sie doch überwiegend das Gefühl, nicht anerkannt oder beachtet und gebraucht zu werden. Das bedeutet, dass Einsamkeit auch die Unzufriedenheit mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, die wir schon haben, beschreiben könnte.
Der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein
In begrifflicher Hinsicht sollte man vom „Einsam sein“ das häufig damit verwechselte „Alleinsein“ trennen. Während Einsamkeit ein unangenehmes Gefühl ist, bezieht sich „allein“ nur auf eine Zustandsbeschreibung. Alleine zu sein kann auch durchaus angenehm sein, weil Menschen ja nicht nur nach sozialen Kontakten und sozialer Einbindung suchen, sondern auch nach Unabhängigkeit – „einsam“ ist dagegen ein ausschließlich negativ konnotierter Begriff. Alleinsein kann zu Einsamkeit führen – muss es aber nicht.
Gründe für Einsamkeit
Als MS-Bloggerin mit vielen Kontakten begegnen mir immer wieder Menschen, die sich einsam fühlen. Die daraus resultierenden Emotionen sind verständlicherweise oft Trauer und Verzweiflung und nicht selten entwickelt sich aus der sozialen Isolation heraus auch eine Depression. Meist liegt es aber gar nicht an uns, wenn wir einsam sind. Es liegt oft eher an unseren Lebensumständen und an Gründen wie Anonymität in unserer Gesellschaft, dem stressigen Berufsalltag, unserem Umgang mit Medien oder Routinen. Definitiv leben wir in einer Zeit, in der es schwieriger geworden ist, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, diesen aufzubauen und vor allem zu halten. Das scheint so schwierig zu sein, dass es tatsächlich viele von uns nicht mehr schaffen.
Jegliche Umbrüche im Leben können so zu Gefühlen von Einsamkeit führen. Das kann ganz schnell gehen, ein Trauerfall im persönlichen Umfeld, eine gute Freundin zieht weg, und so weiter. Auch vor der Einsamkeit im Alter haben viele Menschen Angst. Krankheit gehört ebenso dazu. Wer die Diagnose MS erhält, eine andere schwere Erkrankung oder einen Schicksalsschlag erleidet, fühlt sich oft schon mit der Diagnose oder dem Schicksalsschlag alleingelassen: Denn man weiß nicht, was einen erwartet, welche Art der Lebensveränderungen auf einen zukommen. Viele Kranke oder Menschen mit Behinderungen ziehen sich zurück und haben vor allem oft nicht mehr die Kraft, sich um Freundschaften zu kümmern. Andere sind körperlich eingeschränkt und brauchen Hilfe, wenn sie die Wohnung verlassen möchten. Ist dann niemand da, der eventuell helfen kann, sitzen sie womöglich zu Hause fest. So beginnt ein unschöner Kreislauf.
Wen betrifft Einsamkeit?
Einsamkeit kann wirklich jeden treffen und hat – wie die MS auch – viele Gesichter. Manche Menschen sitzen alleine in ihrer Wohnung und ihnen fehlt jeglicher Kontakt sowie jemand zum Reden. Andere leben mit einem Partner zusammen, haben Freunde und Kinder, bezeichnen sich aber trotzdem als einsam, wenn sie sich nicht zugehörig fühlen. Das Gefühl zu haben, dass andere einen nicht an ihrem Leben teilhaben lassen möchten – man fühlt sich womöglich ausgeschlossen. Und so kann auch ein Liebes-Paar, das nur noch nebeneinanderher lebt und keine emotionale Nähe mehr spürt, einsam sein – sogar MIT Partner! Oder bei einem Single dagegen kommen überhaupt keine Gefühle von Einsamkeit auf.
Gerade das Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens kennen viele chronisch Kranke, denn aufgrund ihrer Beeinträchtigungen geht vielleicht nicht mehr alles so einfach wie zuvor, weshalb sie von anderen Menschen in ihrem sozialen Umfeld womöglich ausgeschlossen werden. Das kann eine tiefe Verletzung für diese Menschen darstellen. Denn wenn ihnen niemand mehr etwas zutraut oder sie gar bevormundet werden, werden ihnen schlicht und ergreifend ihre Verantwortungsbereiche und ihr Recht auf Selbstbestimmtheit genommen. Das ist heftig und kann nur zur Trauer führen.
Was tun gegen Einsamkeit?
Für MS-Betroffene ist Einsamkeit oft Ausdruck eines wesentlichen Problems: der Schwierigkeit, konstante, vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen aufzunehmen – oft auch, da sie niemandem „zur Last fallen“ wollen. Diese Angst ist manchmal begründet, viel häufiger ist sie aber völlig unbegründet. Man sollte es auf jeden Fall ausprobieren und mit entwaffnender Offenheit über dieses Thema sprechen. Über MS, die Ängste und Einschränkungen, aber auch über die Möglichkeiten! Vor allem sollte man seinem Gegenüber seine Wünsche und Erwartungen mitteilen und sich seine ebenfalls anhören – so lassen sich gute Kompromisse und liebevolle gemeinsame WEGE finden!
Sich anderen anzuvertrauen lässt Verbundenheit entstehen, die gleichzeitig Raum für die eigenen Wünsche und Gefühle schafft. Es ist deswegen so wichtig, sich selbst Mut zuzusprechen und Kontakte zu knüpfen. Hier finden Sie nachstehend eine Auswahl an Möglichkeiten.
Dem Leben einen Sinn geben
Man darf sich an Neues heranwagen, Unbekanntes erforschen. Dazu ist es oft ratsam, sich eine Liste zu erstellen:
- Was wünsche ich mir?
- Was erwarte ich von mir und meinem Leben?
- Was wollte ich schon immer einmal tun?
- Was sind meine Interessen und Neigungen?
- Wie soll mein Alltag (ohne Partner*in) aussehen?
- Was macht mich glücklich?
- Was will ich erreichen?
Die gleiche Liste kann man sich für die Dinge erstellen, die man NICHT mag. So entsteht schnell ein klares Bild. Des Weiteren sollte man seine Möglichkeiten erörtern: Würde ich beispielsweise gerne bei einem Chor mitsingen – weiß aber nicht, wie ich aufgrund meiner Beeinträchtigung dort hinkommen soll? Es gibt bei Städten/Gemeinden, dem Deutschen Roten Kreuz oder bei der DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) Möglichkeiten, nach einem Fahrdienst zu fragen.
Bewusst Zeit für sich selbst nehmen
Oft haben wir einfach Angst. Angst vor dem „Alleinsein“ an sich, vor Untätigkeit, Langeweile und Leere. Leider resultiert dies aber häufig daraus, dass wir uns selbst nicht genug sind und nicht wissen, was wir mit UNS SELBST anfangen sollen. Das heißt, wir müssen lernen, uns mit uns selbst als Mensch und Persönlichkeit auseinanderzusetzen, uns zu lieben und zu achten. Wir dürfen lernen, uns mit all unseren Stärken und Schwächen – auch mit unseren Beeinträchtigungen – anzunehmen. Wir sind wertvoll! Auch mit einer Beeinträchtigung!
Das kann eine tolle Erfahrung werden und schön und beruhigend sein. Man lernt, dass man sich selbst genug sein kann. Nicht sofort natürlich, aber mit der Zeit. Meditation kann hier eine schöne Möglichkeit sein, Musik auflegen und tanzen eine andere!
Bestehende Kontakte pflegen
Dies ist sicherlich der wichtigste Schlüssel gegen Einsamkeit. Manchmal muss man auch selbst die Initiative ergreifen, sich bei Freunden und Familie melden und darf sich nicht abschrecken lassen, falls dies einmal nicht so klappt. Man darf sich auch immer wieder melden und nachfragen. Mithilfe von Internet, Telefon, Kurznachrichten und Social Media ist es vergleichsweise einfacher, Kontakte zu pflegen, als es früher der Fall war. Das bedeutet auch, während einer Partnerschaft Freundschaften außerhalb dieser Beziehung zu pflegen/halten sowie während aktiveren Phasen der Einsamkeit vorzubeugen, indem man Kontakte intensiviert. Jemand anrufen, eine E-Mail schreiben, einen Brief verfassen, eine Postkarte versenden, all das kann dazugehören.
Neue Kontakte suchen und knüpfen
Gemeinsam statt einsam: Dies ist auch das Motto vieler Selbsthilfegruppen, Vereine und Gemeinschaften. Sich einer solchen Gruppe oder Gemeinschaft anzuschließen, die das gleiche Ziel hat wie man selbst, schafft nicht nur neue Kontakte, sondern kann auch noch richtig Spaß machen. VHS-Kurse, Sport- oder Kreativgruppen besuchen, einer Musikgruppe beitreten, sich in einer Gemeinschaft gar eine ehrenamtliche Tätigkeit suchen oder aber selbst eine Kontaktanzeige aufgeben – dies alles gehört zu den Möglichkeiten, die Sie haben.
Der Beitritt zu Foren und Social Media ist eine weitere spannende Option. Auf Facebook gibt es unzählige MS-Facebook-Gruppen, denen man beitreten kann. Eine habe ich selbst vor zig Jahren mitgegründet und war bis vor kurzem sogar Administrator dort, was ich aufgeben musste, da mich meine Facebook-Seite und mein Blog zu sehr in Anspruch nehmen. Aber ich genieße es, dort Mitglied zu sein. Wir lachen dort viel zusammen, machen Späße und stehen uns zur Seite. Es werden ernsthafte Fragen geklärt, Infos weitergegeben und Vieles mehr. Seien Sie mutig und schauen Sie sich in solchen Gemeinschaften um. Es ergeben sich oft wundervolle Kontakte und enge tiefe Freundschaften – dann auch außerhalb von Facebook.
Einsamkeit als Chance und Möglichkeit: Neues wagen
Natürlich kommt es uns oft als Phrase vor, wenn es heißt, man solle seine unschönen Situationen als Chance begreifen. Manchmal kann das verletzen, weil man sich erst recht unverstanden fühlt. Tatsächlich aber hat man nur zwei Möglichkeiten:
1. sich seinem einsamen Schicksal zu ergeben
oder
2. die Chance zu ergreifen, etwas zu verändern.
Das heißt, wenn man selbstbestimmt leben möchte (und dies mit seinen Beeinträchtigungen auch kann), dann hat man die Wahl: Man hat es nämlich selbst in der Hand, etwas zu tun. Für sich! Gegen die Einsamkeit! Das hat auch mit Selbstfürsorge zu tun. Wir dürfen es uns wert sein, gut für uns zu sorgen, um der Falle der Einsamkeit zu entkommen.
Hier darf man gerne auch die Hilfe und Ratschläge von anderen annehmen und sich auch professionelle Hilfe suchen. Es ist wichtig, sich selbst herauszuholen aus dieser Falle – etwas zu tun, was man vielleicht schon immer einmal tun wollte oder gerne wieder tun würde.
Wenn man sich trotzdem einsam fühlt, ist es grundsätzlich wichtig, zu versuchen, damit umzugehen. Das heißt, man muss lernen, diesen Zustand zu akzeptieren – wenn er nicht behebbar ist. Jeder Mensch muss sicherlich immer mal wieder lernen zu akzeptieren, dass die Einsamkeit im Moment zum Leben dazugehört. Dann muss man gut für sich sorgen – hier hilft die oben beschriebene Liste wieder. Kleinigkeiten können momentan schon helfen: Wer gerne draußen ist, der kann das Fenster öffnen und bewusst die frische Luft ein- und ausatmen. Und wer es gerne warm hat, dem tut vielleicht ein heißes Bad gut. Wenn das Gefühl der Einsamkeit sich allerdings manifestiert, dann sollte man sich jemandem anvertrauen und auch professionelle Hilfe aufsuchen. Das können Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, eine telefonische Seelsorge oder ein Krisentelefon sein.
Ein weiterer Tipp ist auch, sich in sehr einsamen Momenten schöne Musik anzumachen, sich auf die Couch zu lümmeln, die Augen zu schließen und sich etwas Schönes zu erträumen. Manchmal hilft dies schon, aus dem Tief herauszukommen. Und solche Momente der inneren Einkehr können manchmal ein wichtiger oder interessanter Wegweiser sein zu dem, was man gerne tun würde – und schwupps, hat man wieder ein neues Ziel vor Augen, das man aktiv angehen kann!
Herzliche Grüße
Heike Führ
PS: Indem Sie dies hier aufmerksam lesen, haben Sie schon den ersten wichtigen Schritt hinaus aus der Einsamkeit getan, denn Sie befassen sich damit!
Weiterführende Links
MS – miteinander Spaß – miteinander stark: www.facebook.com/groups/384684261658267/?ref=br_rs
www.frompaintopower.de/10-tipps-gegen-einsamkeit/
www.rollingplanet.net/wie-vermeide-ich-die-endstation-einsamkeit/
www.zeitzuleben.de/raus-aus-der-einsamkeit/