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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Der Atem der Wahrheit

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 04/2023

Unter dem prachtvollen Bergahorn, der seit Jahrhunderten mitten auf dem Marktplatz wuchs, stand eine Frau. Es war Markttag und entsprechend geschäftig ging es auf dem Platz zu.

Hier erkämpften sich rastlose Tiere ihr Territorium zurück, dort priesen Männer lautstark Gemüse und Frauen Milch, Käse und Eier an, dazwischen versuchten Marktbesucher gierig wie hungrige Kraniche Sonderangebote zu erhaschen und die Kinder schließlich tobten wild durch das gesamte Geschehen.

Niemand schenkte dem Baum oder der Frau darunter Aufmerksamkeit. Die Morgensonne tauchte ihr Gesicht immer wieder in wärmendes Licht, während sie ganz still ausharrte. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, ihr Erscheinungsbild unauffällig – bis auf die brennende Kerze, die sie in ihrer Hand hielt. Vielleicht blieb sie deshalb unbeachtet, weil die abergläubischen Dörfler sie für eine Verrückte hielten und sich insgeheim vor ihr fürchteten. Die Kerze in ihrer Hand brannte langsam nieder.

Hätten sich Menschen die Mühe gemacht, etwas näher hinzuschauen, so wäre ihnen nicht entgangen, wie bewusst sie sich ihrer Umgebung war, wie sehr ihre gerade Haltung dem starken Stamm des Baumes glich und wie unablässig die Frau das Marktgeschehen betrachtete. Als sich schließlich ein Mann dem Baum näherte, zeigte sie kaum eine Regung. Der Mann verbeugte sich vor ihr und sprach sie schließlich höflich an: „Entschuldigen Sie, liebe Frau, aber warum stehen Sie am helllichten Tag hier mit einer brennenden Kerze? So dunkel kann es doch auch im Schatten des Baumes unmöglich sein.“

„Mir geht es nicht um das Licht“, antwortete die Frau. „Ich hoffe vielmehr auf einen Atemhauch, der mir die Wahrheit und die Flamme zum Erlöschen bringt. So stehe ich hier und warte, wie ich auch schon unzählige Male anderswo gewartet habe. Ich warte auf die Stimme, die mir diesen Atemhauch bringt.

„Sie wird sicher kommen, diese Stimme, denn hier gibt es viele gute und wahrhaftige Menschen. Sie alle haben eine kräftige Stimme“, sagte der Mann und wies mit seinem Arm zum Marktplatz.

„Sind denn die Waren, die die Menschen dort verkaufen, wirklich so gut, wie sie es behaupten?“

„Das mag vielleicht nicht immer der Fall sein, aber schauen Sie doch einmal hier hinüber“, sagte der Mann und deutete auf das Gebäude der Dorfverwaltung. „Dort finden Sie Richter – von ihnen können wir Wahrheit erwarten.“

„Ich würde mich fragen, wessen Wahrheit sie verpflichtet sind.“

„Dann ist aber doch sicher unser Herrscher, er sei gesegnet, die Person, nach der Sie suchen.“

„Bedeutet Segen denn auch Wahrheit?“

„Wenn das so ist, würde ich Ihnen raten, das Haus Gottes aufzusuchen.“ Mit seinem ausgestreckten Arm zeigte der Mann nun in die entgegengesetzte Richtung. „Sicher finden Sie dort, was Sie suchen – den Hauch, der die Wahrheit trägt?“

„Sicher? Was bringt Sie zu der Annahme, dass Sie oder ich das sicher dort erwarten können?“

„Nun, so erzählt man es sich, nicht wahr?“
„Vieles wurde gesagt, aber niemand hat bisher alles gehört.“

„Es wurde auch niedergeschrieben.”
„Vieles wurde geschrieben, aber niemand hat bisher alles gelesen.“

„Gute Frau, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich Ihnen noch raten soll,“ sagte der Mann, wandte sich ungeduldig ab und verschwand in der quirligen Menge aus Verkäufern, Kunden und herumtobenden Kindern. Nachdem auch die letzten von ihnen in die Häuser gerufen und ins Bett geschickt worden waren, war auch die Sonne hinter den Bergen verschwunden und der Mond aufgegangen. Es war der Mond, der mit seinem Licht das Blätterwerk des Bergahorns durchbrach und die Frau nun in seinem Licht badete.

Ganz still stand sie da. Ihre Kerze brannte noch immer. Vom Fenster seines Hauses gegenüber dem Marktplatz aus beobachtete der Mann die Frau.

Ein leichter Wind, nicht mehr als ein Hauch, erhob sich jetzt hinter den Dorfmauern und bahnte sich unbeirrt seinen Weg durch die Zweige des Baumes, als würde er unsichtbare Stufen emporklimmen. Die Blätter erzitterten und erzählten sich flüsternd die Geheimnisse der Reise des Windes.

Sie hörte zu und beobachtete den beinahe unmerklichen Tanz der Flamme. Der Mann am Fenster lächelte.

Diese Geschichte widme ich einem gefällten Bergahorn (Robin-Hood-Baum) im Nordosten Englands und der unvergleichlichen Tänzerin Eileen Kramer, die mich dazu inspiriert haben.