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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Der Brunnen

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt 02/2023

In seiner Jugend hatte er zusammen mit seinem geliebten Vater diesen Garten angelegt.

Ein ödes Stück Brachland hatten sie in ein kleines Paradies verwandelt und eine Oase an Farben und Düften geschaffen, die Bienen, Insekten und Vögel magisch anzog.

Hier wuchs auch Gemüse, dessen Anbau und Pflege der Vater nach und nach ganz dem Sohn, einem vorausschauenden und geschickten Gärtner, übertragen hatte. Als die Obstbäume wuchsen, legte der Vater eine Mauer an, die gerade hoch genug war, um wilde Tiere fernzuhalten, den Spaziergängern aber immer noch einen guten Blick auf das Paradies ermöglichte, das er gerne mit ihnen teilen wollte. Schließlich bauten sie noch ein kleines, niedriges Haus, in dem sie sich in den heißen Mittagsstunden ausruhen oder nach einem langen Arbeitstag im Garten auch übernachten konnten, wenn ihnen der Heimweg in die Stadt zu beschwerlich erschien.

Nachdem der Vater sich gezwungen sah, in den Dienst eines machthungrigen Königs zu treten, setzte der Junge sein Leben und die Arbeit hinter den Gartenmauern zunächst allein, dann später zusammen mit seiner jungen Frau, fort. Durch ihrer Hände Arbeit wurden die Vorstellungen seines Vaters und seine eigenen Pläne endlich Wirklichkeit.

Nun saß er auf einer Bank vor seinem Haus, mit einer Schale Tee in der Hand, und ließ den Blick über seinen Garten schweifen, in dem die Blumen in den wunderbarsten Farben im Abendlicht schillerten. Das Summen der Bienen, der Gesang einer Amsel und der überwältigende Blütenduft machten ihn zufrieden. All das, so erinnerte er sich jetzt, war möglich geworden, weil sein Vater vor langer Zeit eine kleine Quelle im Dornendickicht entdeckt und sie mit einer Einfassung vor Verunreinigungen geschützt hatte. Dieser Brunnen wurde und war noch heute Mittelpunkt des Gartens.

Hinter den Blumenbeeten sah er jetzt seine Enkelin, die langsam einen gefüllten Tonkrug aus dem Brunnenschacht zog. Neben ihr stand ein Nachbarsjunge, der sich lässig an einen Baumstamm gelehnt hatte und sie aufzog.

„Wenn du den alten Mann dazu bringen könntest, einen Flaschenzug und ein besseres Seil zu kaufen, könntest du das hier weitaus schneller erledigen.“

Das Mädchen ignorierte ihn und zog ruhig weiter an dem Seil.

Der Junge machte keine Anstalten, ihr behilflich zu sein und fuhr fort: „Dann könntest du mehr Zeit mit mir verbringen. Du könntest zehnmal mehr Wasser befördern, mehr und größeres Gemüse anbauen und es verkaufen. Du könntest richtig Geld damit verdienen. Du bist viel zu langsam, schneller, schneller!“

Sie antwortete immer noch nicht und konzentrierte sich stattdessen auf den gefüllten Krug, der nun am Brunnenrand zu sehen war. Schließlich hatte sie es geschafft, stellte den Krug auf die Mauer und drehte sich zu ihm um.

„Ich muss mich hier konzentrieren, das braucht seine Zeit. Sonst bricht mir der Krug, oder ich verschütte das Wasser. Verstehst du das denn nicht?“

„Hole dir endlich eine Seilwinde“, rief der Junge verärgert. „Die würde die Arbeit für dich übernehmen. Du verschwendest nur deine Zeit, wenn du dauernd in den Brunnen starrst.“

„Mir ist der Krug wichtig,“ erwiderte das Mädchen ruhig, „dass er nicht bricht, dass er nicht an den Seiten anschlägt und dass kein Schmutz oder Staub in das Wasser gelangt. Mit einer Seilwinde könnte ich darauf nicht mehr achten. Dem Krug oder dem Wasserholen nicht die volle Aufmerksamkeit zu geben, wäre nicht in Ordnung, denn der Garten gedeiht sehr viel besser, wenn ich respektiere, was ich ihm gebe. Das ist der Grund, warum ich keine Hilfsmittel verwenden möchte.“

„Jetzt denk doch nur einmal daran, wie viel mehr du anbauen könntest. Du könntest den Garten vergrößern und mehr Gemüse verkaufen.“ Der Junge wurde zunehmend frustrierter.

„Und warum sollten wir noch mehr wollen? Wir haben jetzt schon mehr als genug. Außerdem schmeckt mir das Wasser einfach besser, wenn es langsam geschöpft wird.“

„So ein Unsinn! Das ist doch dasselbe Wasser, egal wie du es hochgeholt hast.“

„Denkst du das wirklich? Das tut mir leid.“ Sie nahm den Krug unter ihren Arm und ging zum Gemüsebeet.

Ihr Großvater, der alles mitangehört hatte, lächelte.